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Gäbe es nicht bereits Tausende Fotos, unzählige Bücher und Filme über die Albulabahnstrecke – die Reporterin hätte das Thema sofort aufgegriffen. Doch nun schaute sie einfach fasziniert aus dem Fenster und genoss die Fahrt durch die imposante Landschaft, über das weltbekannte Landwasserviadukt und durch die Kehrtunnel zwischen Bergün und Preda. Wann war sie diese Strecke zum letzten Mal gefahren? Wahrscheinlich auf einer Reise in ein Schullager. Ja, sie erinnerte sich, im Unterengadin war sie als Teenager einmal in einem Wandercamp. Aber im Oberengadin war sie noch nie. Weder beruflich noch privat. Und es war auch keine Feriendestination der Legrand-Hedlunds. Das Bündner Hochtal mit dem weltbekannten Kurort St. Moritz war Charlotte schlicht zu alpin. Es sei immer kalt dort, behauptete sie.

Selma hatte vergangene Nacht wunderbar geschlafen. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte ihr gutgetan, obwohl die letzten Sätze sie irritiert hatten. Warum sollte Charlotte die Wahrheit nicht kennen? Sie war gespannt, ob Charlotte nun endlich reagieren würde. Ihre Mama unter Druck zu setzen, war nicht Selmas Ding. Aber ihre Schwester Elin hatte es ihr schon ein paarmal vorgemacht. Mit Erfolg. Dank Elin war die Existenz von Arvid Bengt überhaupt ans Licht gekommen. Jedenfalls war die schwedische «Fika» wohltuend gewesen.

Auch das Telefongespräch mit Marcel hatte Selma gutgetan. Sie konnten herzhaft darüber lachen, als sie ihm erzählte, dass sie ein oder zwei Tage ins Engadin fahre, er aber keine einzige «klugscheisserische» Bemerkung dazu machen dürfe. Selma wies ihn strikt an, sämtliche geografischen, geologischen, historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Informationen, die er bestimmt habe, für sich zu behalten.

«Pass auf dich auf, Liebste», hatte Marcel schliesslich gesagt.

«Pass auf dich auf, Liebster», hatte Selma geantwortet. Das Ritual aus ihrer Zeit der Freundschaft gab es noch immer. Oder jetzt erst recht. Schliesslich waren sie nun ein Paar. Alles war gut. Ja, alles war gut. Mit diesem Gedanken und diesem Gefühl war Selma eingeschlafen.

In Samedan musste Selma umsteigen. Als der Zug schliesslich anfuhr und in der Ebene den kleinen Engadiner Flugplatz passierte, war Selma sofort von der Schönheit des Tals und der Berge fasziniert. Der Zug fuhr durch einen Wald – Selma war entzückt von den stattlichen Arven und Lärchen. Und schon tauchte auf der linken Seite des Zugs der Ausflugsberg Muottas Muragl auf, hoch oben die Bergstation der Standseilbahn, darüber der intensiv blau leuchtende Himmel.

Kurz darauf erreichte der rote Zug der Rhätischen Bahn Pontresina. Selma packte ihren Rucksack und stieg aus.

«Selma?», rief jemand. Es war eindeutig die freundliche Stimme vom Telefon.

Selma drehte sich um: «Katharina?»

«Willkommen im Engadin.»

«Sagt man hier nicht Allegra?»

«Wie du willst. Kannst du Rätoromanisch?»

«Natürlich nicht. Wie hast du mich erkannt?»

«Von den Fotos im Internet. Ich habe dich gegoogelt. Selma Legrand-Hedlund, Reporterin, Fotografin, Malerin. Man findet einiges über dich.»

«Aha», sagte Selma erstaunt. «Ich habe mich selbst noch nie gegoogelt.»

«Solltest du tun. Ich bin sehr gespannt auf dein Buch über die Wölfe.»

«Oh, ja, ich freue mich sehr …» Selma lächelte. Die Wölfe! Wie sehr hatte diese Reportage, dieses Erlebnis, sie doch geprägt.

«Ich freue mich, mit dir zusammenzuarbeiten», sagte Katharina. «Kennst du das Engadin?»

«Leider sehr schlecht.»

«Dann will ich dir mal deine Foto-Location für die Hochzeit zeigen und erkläre dir alles. Komm mit.»

Katharina ging voran und liess ihre blonden und etwas wirren Locken wirbeln. Die junge Frau zog einen Autoschlüssel aus ihrer luftigen Sporthose und öffnete die Türen eines allradangetriebenen Kleinwagens. «Ich bin eine Freundin der Braut und für die Outdooraktivitäten rund um die Hochzeit zuständig», erklärte Katharina im Bündner Dialekt, während sie den Wagen Richtung Berninapass steuerte. «Die Hochzeit findet in drei Phasen statt. Erste Phase: Die Trauung. Diese findet im Fextal bei Sils im Engadin statt. Kennst du das?»

«Auch nicht», antwortete Selma. «Aber ich habe schon davon gehört. Es soll magisch sein.» Sie dachte an Marcel. Er wüsste wohl alles über das Fextal. Sie hatte nicht die geringste Ahnung.

«Dir als Fotografin und Künstlerin wird es auf alle Fälle gefallen. Und es gibt eine Kapelle. Da wird geheiratet. In kleinem Rahmen. Das Fest findet in St. Moritz statt. Das ist Phase zwei in etwas grösserem Rahmen. Hundert Gäste. In einer Villa am Suvretta-Hang. Schliesslich kommt Phase drei, das ist dann mein Job: die göttliche Trauung.»

«Oh Gott», sagte Selma spontan. «Sektenhochzeit?»

«Nein, nein», lachte Katharina.

«Jonas Haberer, mein Auftraggeber, erwähnte, dass wir eine Wanderung machen. Ist das die göttliche Trauung?»

Katharina lächelte verschmitzt, schaute kurz zu Selma und sagte: «Genau.»

Sie fuhren den ersten Teil der Passstrasse hinauf. Selma genoss die Aussicht. Und sie nahm sich vor, mehr Zeit einzuplanen, damit sie in Ruhe fotografieren und malen könnte.

Sie erreichten die Baumgrenze, fuhren an der kleinen Siedlung Bernina Suot vorbei und kamen schliesslich zu einem riesigen Parkplatz. «Da sind wir», sagte Katharina, stieg aus dem Auto und setzte sich eine dunkle Sonnenbrille auf. «Los geht’s!»

Katharina führte Selma zur Diavolezza-Seilbahn. Die grosse Kabine schwebte über die karge, steinige Landschaft, über einen kleinen See und anschliessend über ein Schneefeld, das Selma seltsam erschien.

«Was ist denn mit dem Schnee?», fragte Selma.

«Der ist zugedeckt. War einmal ein Gletscher. Der Diavolezza-Gletscher. Er wäre aber längst geschmolzen. Seit Jahren wird der letzte Schnee am Schluss der Skisaison zugedeckt, damit er den Sommer übersteht und man möglichst früh die neue Saison beginnen kann.»

«Wie am Titlis», murmelte Selma nachdenklich.

«Ja, genau.»

«Ihr spürt also die Klimaerwärmung sogar hier oben?»

«Das wirst du gleich sehen», antwortete Katharina.

Die Bahn fuhr langsam in die Bergstation ein. Selma und Katharina stiegen aus der Kabine und gingen die Treppe hinunter zum Restaurant. Selma war ganz fasziniert vom blau beleuchteten Handlauf, konnte sich aber nicht draufsetzen, weil er zu nahe an der Wand montiert war. Zudem eilte Katharina voraus. Schnell ging sie durchs Restaurant, winkte den Angestellten zu, öffnete die Türe zur grossen Sonnenterasse und wartete auf Selma. Als die Reporterin durch die Tür kam, wurde sie geblendet. Von der Sonne. Vor allem aber von der Aussicht.

«Wow!», sagte Selma laut.

«Willkommen in der Bernina-Arena», sagte Katharina.

Selma brachte erneut nur ein «Wow!» heraus.

«Links der Piz Palü mit seinen drei Gipfeln und seinen mächtigen Hängegletschern, rechts der Piz Bernina mit dem Biancograt, der Himmelsleiter. Der Bernina ist mit seinen 4049 Metern der höchste Berg der gesamten Ostalpen. Tja, und unter uns der Persgletscher und dort drüben, am Fusse des Berninas, der Morteratschgletscher oder eben das, was von ihm übriggeblieben ist.»

«Toll», murmelte Selma. Sie kramte aus ihrem Rucksack die Sonnenbrille und ihre kleine Kamera. Damit schoss sie einige Fotos.

«Allegra!», rief Katharina und winkte einem älteren Mann mit einem markanten weissen Schnurrbart auf einem Liegestuhl zu. Dieser winkte lachend zurück. Katharina liess den Blick über die Terrasse schweifen, erkannte unter den Gästen sonst aber niemanden. Dann blickte sie angestrengt Richtung Piz Palü. «Oh, da kommen sie», sagte sie plötzlich.

Selma schaute nun ebenfalls zum Piz Palü und erkannte auf dem riesigen Schneefeld drei Personen, die abstiegen.

«Das ist mein Freund Conrad mit seinen Gästen. Sie hatten ihn für die Tour Bernina-Palü gebucht.»

«Oh», machte Selma.

«Gestern der Piz Bernina, heute der Piz Palü. Eine fantastische Tour.»

«Bist du auch Bergführerin?»

«Ja.»

«Und Wanderleiterin? Schliesslich machen wir eine Wanderung.»

Katharina lachte. «Klar. Wir machen eine Wanderung.» Sie kicherte aufgeregt und zwinkerte Selma zu.

Selma fielen die dunklen Augen auf, die irgendwie nicht zu den blonden Haaren passten. Selma konnte sich aber nicht vorstellen, dass Katharina ihre Haare färbte. Dazu sahen sie zu wild und naturbelassen aus.

«Da!» Katharina zeigte mit dem Finger auf den Piz Bernina.

«Was für ein stolzer Berg.»

«Dorthin führt uns die Wanderung.»

«Wie meinst du das?», fragte Selma irritiert und begann, mit der linken Hand an ihren Haaren zu zupfen.

«Wir wandern die Himmelsleiter hinauf zum Piz Bernina.»

«Excusé, Katharina, du redest von wir?»

«Die Braut, du und ich. Oben treffen wir den Bräutigam. Dieser steigt von der italienischen Seite her auf, weil er Italiener ist. Oben gibt es den göttlichen Gipfelkuss, und dann ist das Paar bis in alle Ewigkeit miteinander verbunden. Ist das nicht romantisch? Und du fotografierst alles.»

«Moment», sagte Selma. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass über die Himmelsleiter ein offizieller Wanderweg führt.»

Katharina lachte und gab Selma einen kleinen Stoss. Selma geriet ins Schwanken, musste sich am Geländer festhalten und schnappte nach Luft.

«Du spürst die Höhe, was?», hörte Selma Katharina sagen. «Wir sind auf fast 3000 Metern über Meer. Du bist dir das nicht gewohnt. War wohl keine gute Idee, gleich hier hinaufzufahren.»

«Die Höhe …», stammelte Selma, «… die Höhe. Klar, Basel liegt auf rund 250 Metern. Hier ist die Luft viel dünner.»

Aber Selma wusste, dass ihr nicht nur wegen der Höhe schwindlig war.

Gipfelkuss

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