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«Rufe mich bei Gelegenheit an. LG Jonas.»

Diese WhatsApp-Nachricht fand die Reporterin auf ihrem Smartphone, als sie aus der Dusche kam. Nach ihrer nächtlichen Malaktion und nachdem Marcel zu seiner Schicht bei den Basler Verkehrs-Betrieben aufgebrochen war, hatte Selma doch noch schlafen können.

Sie rief ihren Auftraggeber Jonas Haberer gleich an.

«Ja, bitte?»

«Jonas!»

«Selma, du bist ja fix», sagte er mürrisch. «Braves Mädchen.»

«Was ist denn mit dir los? Kein fröhliches ‹Selmeli, mein Mäuschen, mein Myysli›?»

«Es ist zu heiss. Und dies schon um 10 Uhr morgens.»

«Ich habe gerade geduscht. Mir geht es wunderbar.»

«Du hast geduscht? Bist du etwa nackt?»

Selma war etwas verlegen. Sie war tatsächlich nackt. Zum Glück führte sie ein Telefonat und keinen Videoanruf. «Ja, ich bin nackt.»

«Selmeli!», schrie Haberer ins Telefon. «Das kannst du nicht machen, Kleines. Jetzt habe ich noch heisser.»

«Du hockst doch in Bern. Also spring in die Aare.»

«Selmeli, das machen Kinder und pensionierte Beamte.» Er prustete laut heraus. «Nein, nein», meinte er. «Dann fahre ich lieber nach Engelberg und hüpfe auf dem Titlisgletscher in eine Spalte. Aber im Gegensatz zu dir nehme ich Whisky mit. Dann habe ich Whisky on the rocks.» Wieder prustete Haberer drauflos.

Selma musste ebenfalls lachen, obwohl er diesen Scherz nach ihrem Sturz in den Gletscher schon einmal gebrachte hatte. Dann sagte sie: «Die Aare ist doch herrlich.»

«Wie der Rhein, nicht wahr?», sagte Haberer mit einem süffisanten Unterton.

«Oh, ja, einfach toll.»

«Du badest wirklich in dieser Kloake?»

«Aber natürlich. Vielleicht springe ich später noch hinein.»

«Selmeli, wie erbärmlich! Deine Frau Mama macht das sicher nicht. Sie muss sich schämen für dich.»

«Charlotte weigert sich tatsächlich im Rhein zu schwimmen. Sie hat noch die Zeiten erlebt, als der Rhein wirklich eine Kloake war. Oder besser gesagt: ein Abwasserkanal der Industrie.»

«Und Charlotte ist eine Dame von Welt. Sie hat Niveau. Ich passe wirklich besser zu deiner Mutter als zu dir, Liebes, es tut mir leid.»

«Ich werde es überleben, Jonas. Und meiner Mutter einen Gruss ausrichten.»

«Einen sehr lieben, bitteschön.» Er räusperte sich. So laut, dass Selma kurz das Telefon vom Ohr nehmen musste. «So ein eiskaltes Gläschen Aquavit mit Charlotte wäre jetzt nicht schlecht.»

«Also, Jonas, worum geht es?», fragte Selma und wollte endlich zum Geschäftlichen kommen. «Etwas Dringendes kann es ja nicht sein, schliesslich hast du mir geschrieben, ich solle dich gelegentlich anrufen.»

«Gelegentlich heisst bei mir innerhalb einer Viertelstunde, das solltest du wissen, Myysli. Bei mir ist immer alles dringend.»

«Also?»

«Ich habe einen neuen Auftrag.»

«Endlich», seufzte Selma erleichtert. «Ist auch an der Zeit.»

«Es geht um eine aussergewöhnliche Hochzeit.»

«Du suchst eine Hochzeitsfotografin?»

«Ja. Stinkreiches Mädchen heiratet stinkreichen Macho. Kohle ohne Ende. Deshalb ist das Honorar horrend. Es muss einfach die beste Fotografin der Welt sein.»

«Das bin ich nicht.»

«Wenn ich es sage, dann schon.»

«Jonas, ich fotografiere keine Hochzeiten», sagte Selma barsch.

«Auch wenn noch eine kleine Bergwanderung dabei ist und du extrem tolle Landschaftsbilder machen und vielleicht sogar Steinböcke, Gämsen, Wölfe und Bären fotografieren kannst? Und es für dich ein wahrlich grosses Abenteuer werden kann?»

«Wie meinst du das?»

«Selmeli, der Berg ruft!»

«Und die Hochzeitsglocken läuten», meinte Selma sarkastisch. «Und nenn mich nicht immer Selmeli!»

«Selmeli, Selma, warum bist du so hart zu mir?»

«Ich bin Fotoreporterin und keine Hochzeitsfotografin.»

«Verstehe, du hast recht. Hochzeitsfotografie ist unter deiner Würde. Wie konnte ich dich überhaupt fragen? Kapelle, Kutsche, Küsschen, Küsschen, jede Menge Kohle, Selmeli, vergiss es, mir kommt das Kotzen. Ich engagiere irgendeinen Nachwuchsfotografen, der mal in New York, Dubai oder Shanghai war und verkaufe ihn als trendy. Also, bis dann!»

Die Verbindung brach ab. Selma starrte auf ihr Smartphone und schüttelte den Kopf: «Hochzeitsfotografin», murmelte sie. «Der hat sie doch nicht mehr alle.»

Selma ärgerte sich auch eine Stunde später noch über ihren Auftraggeber Haberer. Deshalb kam ihr der Coiffeurbesuch bei ihrer besten Freundin Lea gerade recht. Lea wohnte nicht nur im gleichen Haus wie sie, sondern hatte im Parterre auch ihren Salon.

«Hast du Ärger, Madame Selma Legrand-Hedlund?», fragte Lea, nachdem sie Selmas Haare gewaschen hatte. «Schlecht geschlafen? Du wirkst etwas …»

«Ich bin sauer», unterbrach Selma. «Mein Boss, der tolle Jonas Haberer, wollte mich tatsächlich als Hochzeitsfotografin engagieren.»

«Aha. Aber sonst ist alles in Ordnung? Marcel hat letzte Nacht wieder einmal bei dir geschlafen, oder?»

«Jetzt redest du wie meine Mutter», murrte Selma. «Ist nicht verwunderlich. Charlotte ist schliesslich omnipräsent, da sie ebenfalls in diesem Haus wohnt. Und ja, Marcel hat bei mir übernachtet. Aber Schluss jetzt, Lea. Bring meine Haare in Ordnung.»

Lea griff zur Schere und begann vorsichtig zu schnippeln. «Ihr seid wirklich ein Traumpaar. Ich würde mich freuen, wenn Marcel bei dir einziehen würde. Vielleicht arbeitet er dann auch wieder als Psychologe und gibt diesen Tram- und Busfahrerjob auf.»

«Lea!», sagte Selma unwirsch. «Du denkst schon wie meine Mutter. Ich möchte jetzt nicht über meine Beziehung sprechen.» Natürlich liebte sie Marcel. Er war der perfekte Mann. Gutaussehend, aufmerksam, witzig, gebildet. Und er konnte kochen. Putzen nicht so. Aber kochen konnte er wirklich.

Andererseits: Marcel war auch der perfekte Freund. Und genau diese Freundschaft hatte sich verändert, seit sie ein Paar waren. Sie waren körperlich intim, aber ihre Freundschaft war es jetzt weniger. Was sich schon allein daran zeigte, dass sie mit Marcel darüber nicht reden konnte. Und genau dies vermisste sie. Was sollte sie ihm denn sagen? Dass sie ihn liebe, aber …? Zu doof. Selma wollte Marcel nicht verletzen.

«Nellie hat mir geschrieben», sagte Selma und wechselte das Thema.

«Wie geht es denn deiner Nichte? Oder Halbnichte? Wie nennt man die Tochter eines Halbbruders überhaupt?»

«Für mich ist sie einfach meine Nichte. Sie schreibt gerade eine Arbeit für ihr Studium der Medienwissenschaften.»

«Oh, dann begibt sie sich also in deine Fussspuren und wird ebenfalls eine grosse Reporterin.»

«Ich hoffe nicht, die Geschäfte laufen gerade alles andere als gut.»

«Ach komm, Süsse, das wird schon wieder. Wann besuchst du Nellie und deine schwedische Familie endlich einmal?»

«Sie lädt mich in jedem Mail ein.»

«Na dann, los.»

«Ach Lea, ich weiss immer noch nicht, ob ich das möchte. Nichts gegen Nellie. Sie ist eine tolle junge Frau. Aber meine Geschichte ist nicht ihre. Ich habe bis vor Kurzem geglaubt, ich hätte den gleichen Vater wie meine Schwester Elin, Dominic-Michel Legrand. Dass mein Erzeuger in Wirklichkeit Nellies Grossvater Arvid Bengt Ivarsson ist, ganz ehrlich, damit tue ich mich schwer.»

«Du solltest diesen Knoten lösen und nach Schweden reisen. Sonst kannst du das nie klären.»

«Es wird geklärt.»

«Aha. Und wie?» Lea stellte sich neben den Friseurspiegel und schaute Selma fragend an.

«Nellie will im August in die Schweiz reisen und uns besuchen. Zusammen mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem Bruder. Und mit ihrem Grossvater. Mit meinem Vater.»

«Echt jetzt?»

«Ja.»

«Weiss Charlotte davon?»

«Nein.»

«Nein?»

«Lea, ich weiss es erst seit zwei Wochen.»

«Seit zwei Wochen?»

«So ungefähr. Vielleicht sind es auch drei Wochen.»

Lea verdrehte die Augen und fragte: «Was hast du Nellie geantwortet?»

«Nichts.»

«Nichts? So, so. Und wer weiss ausser mir davon? Marcel?» Lea schaute ihrer Freundin tief in die Augen.

«Niemand», sagte Selma.

«Niemand?»

«Jetzt schau mich nicht so an.»

«Wo liegt eigentlich dein Problem, Süsse? Wir wohnen im Haus des schwedischen Ex-Königs Gustav …»

«Tun wir nicht. Der wohnte weiter hinten in der St. Johanns-Vorstadt. Und im Hotel Drei Könige. Und nur weil meine Mutter so ein Theater um ihn macht, heisst das noch lange nicht, dass er ein guter Kerl war. Ich habe viel über ihn gelesen, liebe Lea, und ich muss sagen: Er war kein Sympathieträger.»

«Was aber nichts mit Nellie und deinem Vater zu tun hat.»

Selma wurde sauer: «Sag mal, was ist denn mit dir los? Wenn ich keinen Bock auf diese dämliche schwedische Verwandtschaft habe, ist das meine Sache.»

Lea machte sich wieder ans Werk, frisierte Selma weiter und sagte: «Natürlich. Ich finde trotzdem, du solltest dich dieser Sache stellen. Nellie ist nett. Da kann dein Vater kein Idiot sein.»

Wie recht sie hatte, dachte Selma und hatte bereits ein schlechtes Gewissen ihrer Freundin gegenüber.

«Sorry, ich wollte dich nicht verletzen», sagte Lea. «Aber mal ganz ehrlich: Die Sache belastet deine Mutter und deine Schwester. Und Marcel. Und mich ebenso. Nellie vermutlich auch. Deine ganze Familie leidet. Seit Monaten schiebst du das alles vor dich hin. Niemand getraut sich, mit dir darüber zu sprechen. Gib deinem Vater eine Chance.»

Tausend Gedanken schwirrten in Selmas Kopf herum. Als Lea ihr Werk beendet hatte, betrachtete sich Selma im Spiegel. Lange. Die Frisur war top. Trotzdem gefiel sie sich nicht. Sie hatte so markante, harte Gesichtszüge bekommen.

«Selma, bist du unzufrieden?»

«Alles gut. Bist ein Schatz.»

«Aber?»

«Nichts aber. Du hast recht. Ich werde Nellie schreiben. Ich werde ihr schreiben, dass ich mich auf sie und ihre Familie freue. Auf meine Familie.»

Gipfelkuss

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