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3 Wie weiter? 3.1 Signifikante Problemfelder katholischer Ehe- und Familienpastoral

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Und dennoch: Maria Widl hat Recht, wenn sie schreibt, dass sich „heute die kirchliche Lehre über die Ehe und Sexualmoral als das bei weitem größte allgemeine pastorale Problem“148 erweise. Offenkundig bezieht sich die katholische Familien- und Ehelehre zumindest in ihren offiziellen Verkündigungen und rechtlichen Regelungen noch weitgehend auf die auslaufende „Normalität“ vergangener, extern stabilisierter Biografie- und Beziehungsmodelle. Sie wirkt daher wie der apologetische Legitimationsdiskurs einer vielleicht heute noch ersehnten, aber immer seltener noch möglichen konsolidierten Ehe- und Familienstruktur.

Aus pastoraltheologischer Perspektive entwickelt die offizielle katholische Ehe- und Familientheologie selbst in der moderat reformierten Fassung der Würzburger Synode ausgesprochen problematische Konsequenzen. Zum einen wirkt die katholische Ehe- und Familienlehre als kirchliches Distanzierungs- und Entfremdungssignal. Wenn in den Ballungsräumen jede zweite, auf dem Land jede dritte Ehe geschieden wird, dann bedeutet dies, dass mittelfristig die allermeisten Menschen entweder selbst oder im familiären Nahbereich mit der Erfahrung kirchlicher Rechtsminderung von wiederverheirateten Geschiedenen149 oder (wenn auch kaum mehr exekutiert) nicht-ehelich Zusammenlebenden konfrontiert werden. In Zeiten, da kirchliche Partizipation unter den dauernden Revisionsvorbehalt auch der aktiven Kirchenmitglieder geraten ist, bedeutet dies für eine immer größere Zahl von Menschen ein von der Kirche ausgehendes Distanzsignal.

Die Kluft zwischen strikter Doktrin und kirchlichen Rechtsvorschriften einerseits und real davon weit abweichender Praxis andererseits wirkt zudem, wie alle allzu breiten Theorie-Praxis-Klüfte, entplausibilisierend auf die kirchliche Lehre im Bereich von Ehe und Familie, aber zunehmend auch auf kirchliche Lehren überhaupt. Diese Kluft hat offenbar jene Grenze schon länger überschritten, bis zu der Norm-Praxis-Abweichungen durchaus versöhnend, friedensstiftend und realitätsadäquat wirken können.

In der lehramtlichen Ehe- und Familienlehre herrscht zudem trotz aller „Verflüssigungsversuche“ in Richtung Gradualität und Prozesshaftigkeit weitgehend dann doch noch die alte statisch-idealistische, dabei stark juridische Auffassung familiarer und ehelicher Beziehungsrealitäten, wie sie früheren sozialen Formationen durchaus entsprach, heute aber nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. Aus der Perspektive der Betroffenen erscheint solch eine Lehre heute als legalistische Engführung und erweckt den Verdacht einer heteronomen Außensteuerung intimster menschlicher Realitäten, die den komplexen Wirklichkeiten von Ehe, Familie und überhaupt partnerschaftlichen Beziehungsstrukturen nicht gerecht wird.

Vom 12. Jahrhundert bis zum II. Vatikanum war bekanntlich für das innerkirchliche Verständnis der Ehe die Vertragstheorie prägend, also eine juridische Kategorie. Eine personale Beziehung brauchte dazu nicht vorhanden zu sein: Der Ehekonsens konstituierte einen Vertrag, der zentral das lebenslange und ausschließliche „Recht auf den Körper des anderen zum Zwecke der Zeugung“ umfasste. Wer dieses Recht darüber hinaus anderen einräumte, beging Vertragsbruch und handelte schwer sündhaft. Diese Lehre ist bis heute die kaum modifizierte Grundlage der kirchenrechtlichen und lehramtlichen moraltheologischen Normierungen. Das Recht der Verheirateten auf intime sexuelle Beziehungen wird dabei isoliert von aller personaler Beziehungsrealität als Herrschaftsrecht – meistens wohl zu Lasten der Frau – definiert. Dies entspricht nicht jenem Verständnis intimer Beziehungen, wie es heute vorherrscht. Die differenzierte Ehelehre des II. Vatikanums ist hier weiter, sie wurde in der nachkonziliaren Entwicklung kirchenrechtlich aber nicht wirklich wirksam.

Die katholische Ehe- und Familientheologie berührt auch den Sakramenten- und Gottesbegriff in durchaus problematischer Weise. Sie definiert(e) gemäß der Vertragstheorie klassisch den „Eheabschluss“ als „Sakrament, nicht aber das nachfolgende Eheleben.“150 Sie stellt damit das Leben wiederverheirateter Geschiedener oder auch nichtverheiratet Zusammenlebender unter dauernde Sündhaftigkeit und damit Gottes voraussetzungslose Barmherzigkeit, die seine Gerechtigkeit nicht aufhebt, sondern darstellt,151 in der Praxis kirchlicher Nicht-Vergebung in Frage. Obwohl die katholische Ehetheologie die Ehe als Sakrament, also als wirksames Zeichen der Gnade Gottes bestimmt, Gottes Gnadenwirksamkeit also gerade in diesem Sakrament bis in die oft mühsame Alltäglichkeit hinein zuspricht, wird das Scheitern einer Ehe von Gottes Zuwendung – zumindest im Bereich der Lehre – nicht noch einmal umfangen.

Anders als Gottes Liebes- und Gnadenzusage sind Liebes- und Gnadenzusagen des Menschen aber gefährdet, endlich und stets hilfsbedürftig. Die Schuldgeschichte, die im Übrigen jede, auch die beste Ehe ist, kann, im Unterschied zu anderen Schuldgeschichten, von der Kirche im Falle ihrer Eskalation nicht noch einmal in Gottes verzeihende Zusage hinein aufgehoben werden. Jesu befreiende Gnadentaten, Grundlage allen sakramentalen Handelns der Kirche, zeichnet aber zweierlei aus: die reale, zeichenhafte Erfahrbarkeit der Nähe des Gottesreiches sowie die Tatsache, dass diese Zusage gerade an sündige Menschen zugesprochen wird: Sie sind praktischer Vollzug des anbrechenden Gottesreichs. In der katholischen Ehelehre wird der ersten, gescheiterten Ehe die (bleibende) Sakramentalität zugesprochen, wiewohl ihre Erfahrungsrealität ganz anders ist, während eine eventuell zweite Verbindung, obwohl vielleicht beziehungs- und lebensintensiv, kategorisch unter Sündhaftigkeit gestellt wird. Erfahrung und Sakramentalität weichen mithin massiv auseinander.

Die katholische Ehe- und Familienlehre neigt schließlich zu pastoral- (und selbst moral-)theologisch schwer nachvollziehbaren „Alles oder Nichts“-Standpunkten: Fast alles in der Ehe ist legitim, aber fast nichts außerhalb der Ehe ist es. Scheitert eine Ehe, ist aber weder das Leben insgesamt gescheitert, noch bedeutet Scheitern hier, dass überhaupt keine Treue mehr gelebt oder dass das angestrebte Ideal nun überhaupt nicht verwirklicht werden könnte. Jemand, der in der definitiven Treue zu einer Lebensform gescheitert ist, scheitert in vielerlei anderer Hinsicht nicht: anderen Menschen gegenüber, aber selbst seinem ehemaligen Partner gegenüber nicht, dem gegenüber er ja auch weiter spezifische Verpflichtungen hat. Zudem ist zwischen Scheitern und Schuld zu unterscheiden. Die Gründe für das Scheitern einer Treuebeziehung fallen in ganz verschiedenem Ausmaße in die freie Verantwortung des Einzelnen, sind also in ganz verschiedenem Ausmaße seine Schuld. Diese gibt es natürlich, aber ihre Klärung bleibt zuletzt Gott vorbehalten. Was an einer scheiternden Bindung hat der Einzelne, was sein Partner, was auch die Gemeinschaft zu verantworten, die etwa zu wenig Hilfe und Unterstützung gab?

In der katholischen Ehetheologie zeigt sich auch, und das berührt nun den Grundlagenbereich der Pastoraltheologie, eine tendenziell vorkonziliare Verhältnisbestimmung von Pastoral und Dogmatik: Pastoral erscheint als (bestenfalls: gnädigerer) Anwendungsort dogmatischer Prinzipien. Demgegenüber gilt: Die Pastoral ist selbst ein Entdeckungsort der kirchlichen Lehre und mit ihr in einem wechselseitigen Erschließungsund Entdeckungsverhältnis. Pastoral meint nach dem II. Vatikanum das evangeliumsgemäße Handlungsverhältnis der Kirche zur Welt im Ganzen.152 Sie umfasst die gesamte Handlungs- und Erfahrungsseite der Kirche und ist selbst ein theologischer Ort und für die Kirche konstitutiv. Pastoral ist keine äußerliche Erscheinung der Kirche, sondern ihre Handlungsmacht in der Zeit.

Im Umgang mit den völlig neuen Beziehungskonstellationen unserer Gesellschaft zeigt sich, welche Relation zwischen Dogmatik und Pastoral man im Kirchenbegriff ansetzt: Hat die pastorale Erfahrung selbst dogmatisches Gewicht, oder ist sie unerheblich gegenüber der Lehre? Hat die Kirche in ihrer Geschichte auch etwas zu lernen oder nur zu lehren? Haben die Menschen ihr etwas zu sagen, oder braucht sie nicht auf sie zu hören?153

Das Konzil entscheidet sich grundsätzlich für die erste Alternative, die nachkonziliare katholische Ehe- und Familienlehre nimmt dies, vor allem in ihren kirchenrechtlichen Konsequenzen, weitgehend zurück. Sie billigt der pastoralen Wirklichkeit keine Erschließungskraft für die Lehre zu. Demgegenüber gilt es, so Ottmar Fuchs, „die inhaltliche Botschaft, die von den wiederverheirateten geschiedenen Gläubigen ausgeht, aufzufinden.“154

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