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4.2 Funktionen

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Die gemeindetheologischen Ansätze von 1935 und 1970 ähneln sich, unterscheiden sich freilich auch. Beide gehen von einer bislang defizitären kirchlichen Reaktion auf die Säkularisierungsprozesse ihrer jeweiligen Gegenwart aus. Beide versuchen, angesichts des „mitten im Herzen des entchristlichten, um nicht zu sagen entgotteten Abendlandes“, so wie bereits zitiert Kardinal Innitzer 1935 (!), die katholische Großkirche an ihrer Basis gemeinschaftsorientiert zu reformatieren, und beide laden dazu die eher formale kirchenrechtliche Größe „Pfarre“ mit gemeinschaftsnahen Kategorien auf: unter dem Begriff „Pfarrgemeinde“ 1935, unter dem Begriff „Gemeinde“ 1970. Sie gleichen sich auch in der Dualität von Emanzipationspathos der Laien und unangetasteter Leitungsgewalt der Priester.

Die beiden gemeindetheologischen Ansätze unterscheiden sich aber darin, wie diese unangetastete Leitungsgewalt dann konkret gedacht wird. 1935 geschieht dies zeittypisch mit anti-liberaler Stoßrichtung in Kategorien von Über- und Unterordnung und konkret gefasst in der Führerkategorie. 1970 wird diese unangetastete „Letztverantwortung“ des Klerus dann demokratiekompatibler eher in familiaristisch-paternalistischen Kategorien wie „Pfarrfamilie“, „brüderliche Leitung“ und „Einmütigkeit“ gefasst.

Damit wird auch die zentrale Diskontinuität erkennbar, die mit den beiden Jahreszahlen 1970 und 1935 benannt werden kann: Sie liegt im völlig gewandelten politischen und kulturellen Kontext. Wurde die „Gemeindetheologie 1935“ zu Beginn des autoritären österreichischen Ständestaates vorgelegt, so die „Gemeindetheologie 1970“ in der nachkonziliaren Aufbruchsphase und zudem auch unmittelbar nach jenem westeuropäischen und US-amerikanischen Kulturumbruch und Demokratisierungsschub, den man gewöhnlich mit der Chiffre „1968“ umschreibt. Führerideologie und anti-demokratisches Ordnungsdenken waren damit natürlich obsolet geworden, die „Gemeindetheologie 1970“ galt ja auch eher als „progressives“, weil tendenziell egalitäres innerkirchliches Konzept. Umgekehrt stellt sich dann aber die Frage, inwiefern fast identische Konzepte in solch radikal unterschiedlichen zeithistorischen Kontexten entwickelt, präsentiert, attraktiv und zumindest partiell auch erfolgreich werden konnten. Welche Funktion erfüllten diese gemeindetheologischen Diskurse in der jeweiligen kirchlichen Lage? Was war 1935 wie 1970 so attraktiv an diesem Konzept?

Michel Foucault hat bekanntlich dem Christentum zugesprochen, nicht nur eine völlig neue Konzeption von Moral in die Weltgeschichte eingespeist zu haben, sondern mit der „pastoralmacht auch eine völlig neue Form religiöser Organisation.

Sie ist selbstlos, im Unterschied zur Königsmacht, sie ist individualisierend, im Kontrast zur juridischen Macht, und sie ist totalisierend, im Unterschied zur antiken Machtausübung. Sie bezieht sich mithin auf alles im Leben und auf das ganze Leben. Ihr zentrales Bild ist tatsächlich der Hirte, der bereit sein muss, sein Leben einzusetzen für die Schafe, ein Hirt, der jedes Einzelne der Schafe im Auge haben muss und daher den Verirrten nachgeht und den alles an jedem Schaf interessiert. Der Beichtstuhl ist daher für die Pastoralmacht mindestens so wichtig wie der Altar: Im katholisch-autoritären Ständestaat bestand denn auch die Pflicht, den jährlichen Beichtzettel beim Arbeitgeber abzugeben.

Pastoralmacht ist nach Foucault also individualisierend, totalisierend und zumindest dem Anspruch nach selbstlos. Betrachtet man beide Gemeindetheologien, jene von 1935 wie jene von 1970, als Versuch, die verlorenzugehen drohende kirchliche Pastoralmacht zu sichern bzw. wiederzugewinnen – und die beide Entwürfe begleitenden Krisenanalysen legen das nahe –, dann zeigt sich, dass beide darin übereinstimmen, den sich lockernden Zugriff der Kirche auf den Einzelnen durch den Aufbau spezifischer, kommunikativ verdichteter sozialer Räume wieder verstärken zu wollen. Sie unterscheiden sich freilich im Zugang zu dieser Lösung, näherhin in der Gewichtung von Individualisierung und Totalisierung. Die Gemeindetheologie propagiert sich 1935 vor allem als zeitgewünschte Totalisierung des kirchlichen Zugriffs, die Gemeindetheologie 1970 primär als ebenso zeitgewünschte Individualisierung dieses Zugriffs.

Die gemeindliche Gemeinschaftlichkeit dient in der Gemeindetheologie 1935 vor allem dazu, alle in allen ihren Lebensbezügen zu erreichen, also die Totalität des Zugriffs zu garantieren. Man denke an Innitzers Satz, es ginge „um nichts mehr und nichts weniger, als dass die Kirche sich anschickt, ihren Totalitätsanspruch … wieder und mit allem Nachdruck zu stellen.“251 Der zeittypische Hintergrund ist unmittelbar greifbar: Immerhin forderte der Professor für Dogmatik an der Theologischen Hochschule von Stift St. Florian in Oberösterreich, Dr. Alois Nikolussi (1890-1965), auf der Wiener Seelsorgertagung 1935 auch, man müsse

das Wir-Gefühl von der staatlich-politischen in die kirchlich-religiöse Sphäre hinüberleiten, wo es ja wirklich am allermeisten bodenständig ist. Wir müssen ein wahres Trommelfeuer loslassen, bis dass das Wir vor jedermanns Bewusstsein aufragt wie ein Diktator: groß, herrlich, berauschend.252

Im gleichen Aufsatz fällt übrigens auch Nikolussis unvergesslicher Satz: „Es ist katholischer, mit dem Bischof im Irrtum als gegen den Bischof in der Wahrheit zu schreiten“253. Die Gemeindetheologie 1970 aber hatte bei aller totalisierenden Funktion, auch sie wollte „möglichst viele“ in möglichst vielen Lebensbezügen erreichen, vor allem ein individualisierendes Interesse. Der Einzelne sollte wirklich als Einzelner wahrgenommen werden. Es ging darum, jeden auch wirklich zu erreichen, also die Individualität des Zugriffs zu sichern.

Beide Konzepte stehen in der Dualität von Emanzipation und Unterordnung der Laien. Den Vertretern beider Konzepte ist das bewusst. Sie unterscheiden sich freilich darin, wie sie diese Dualität bearbeiten. Die Gemeindetheologie 1935 greift vom Unterordnungspol auf die Einzelnen zu und verspricht im gemeindlichen Gemeinschaftlichkeitskonzept partielle Emanzipationserfahrungen. Die Gemeindetheologie 1970 greift vom Emanzipationspol auf die Einzelnen zu und domestiziert – oder weniger polemisch gesagt – balanciert diese Emanzipationsbewegung mit dem gemeindlichen Gemeinschaftlichkeitskonzept aus, so dass die priesterliche Pastoralmacht nicht nur nicht gefährdet, sondern auf neuer, wohl am besten „familiaristisch“ zu nennender Basis fortführbar wird. Die „Selbstlosigkeit“ des priesterlichen Hirten wird daher 1935 in der Führermetapher, 1970 in der Metapher des gütigen Familienvaters codiert.

Gemeinsam aber ist beiden Gemeindetheologien ein durchgängiger Aktivierungs- und Verlebendigungsgestus, eine anti-volkskirchliche Entdifferenzierungstendenz. Kennt die Volkskirche eine extrem gespreizte und letztlich auch akzeptierte Partizipationsdifferenz von kirchenrechtlich notwendiger Minimalpartizipation bis zu heroischhimmlischen Heroismusanforderungen, wie sie die Heiligen der Zeit repräsentieren (etwa Katharina von Emmerich, die nichts aß und stigmatisiert war, oder der heilige Pfarrer von Ars als Ikone priesterlicher Heiligkeit und Schlichtheit zugleich), so sind Gemeindetheologien eher von einer mediatisierten Normalpartizipation oberhalb des Kirchenrechts, aber unterhalb religiöser Extremismen gekennzeichnet. Gemeindetheologien sind immer auch der Versuch, das Ärgernis zu beseitigen, dass nicht alle Menschen religiöse Virtuosen sind.

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