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2 Der Aufstieg: Gemeindetheologie 1970

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„Gemeinde“ ist im Horizont der verschärften konfessionellen Differenz des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts alles andere als ein genuin katholischer Begriff. Der Wiener Pastoraltheologe Ferdinand Klostermann (1907-1982) berichtet, dass noch 1968 ein Jesuit in den „Räumen der Wiener Katholischen Hochschulgemeinde“ ihm entgegnet habe, „Gemeinde sei eigentlich eine eher protestantische Vokabel, die man im katholischen Bereich vermeiden sollte“196. Freilich, so schreibt Klostermann dann 1970, mittlerweile sei „Gemeinde … wie über Nacht eine katholische Vokabel, ja geradezu eine katholische Modevokabel geworden.“197

Erst Anfang der 1970er Jahre, so lässt sich aus Klostermanns Bemerkung schließen, setzte sich offenbar die „Gemeindetheologie“ endgültig und sehr schnell auch im katholischen Bereich durch. Es musste also vorher ein anderes Paradigma kirchlicher Basisorganisation geherrscht haben. Im 4. Band des „Lexikons für Theologie und Kirche“ aus dem Jahre 1960 wird denn auch unter dem Stichwort „Gemeinde“ noch schlicht auf „Pfarrei“ bzw. auf „Kirche“ verwiesen, ausgeführt waren nur das „protestantische Glaubensverständnis“ und die „Rechtsgeschichte“.198

Wer ist dieser Ferdinand Klostermann, der hier durchaus zutreffend den Sieg der Gemeindetheologie auch im katholischen Bereich konstatiert? Zum einen, er ist jener Theologe, der für diesen Sieg wie kaum ein anderer verantwortlich war. Ferdinand Klostermann, von 1962 bis 1977 Ordinarius für Pastoraltheologie an der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät,199 kann als zentraler Theoretiker wie als Initiator der nachkonziliaren Gemeindetheologie gelten. Er war ohne Zweifel einer der einflussreichsten Theologen seiner Zeit und das weit über Österreich hinaus.

Von den im Lande geborenen österreichischen Theologen ist nur einer nach dem Zweiten Weltkrieg in der ganzen Welt bekannt geworden: Ferdinand Klostermann. Das ist wohl unter anderem darauf zurückzuführen, dass sich mit seinem Namen die Leitidee für die Seelsorge nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbindet, nämlich die christliche Gemeinde200

– so der Linzer Pastoraltheologe und Freund Klostermanns, Wilhelm Zauner, in einem Rückblick auf Klostermanns Leben 1987.

Der gemeindetheologische Diskurs Klostermanns reagiert deutlich auf die Säkularisierungserfahrungen des sich auflösenden katholischen Milieus in der Modernisierungswelle der frühen 60er Jahre. Man wollte der schon seit längerem, nunmehr aber unübersehbar nachlassenden Bindekraft der katholischen Kirche gegensteuern. Für Klostermann spielt die These, „dass im allgemeinen der Kirchenbesuch mit der wachsenden Pfarreigröße abnimmt“, eine zentrale Rolle in der Begründung seines gemeindetheologischen Projekts. Er entwickelt aus diesem Befund „die pastorale Notwendigkeit von Pfarrteilungen bzw. gemeindlichen Substrukturen unserer städtischen Großpfarreien“ und fordert auch die „Erhaltung der Kleinpfarreien … als echte Gemeinden“, auch „auf dem Lande.“201 Dieses Begründungsmuster findet sich im Übrigen praktisch identisch knapp ein Jahrhundert vorher im protestantischen Bereich, als auch dort gemeindetheologische Konzepte erst wirklich nachhaltig Fuß fassten.202

Der „fortschreitenden Säkularisierung“ sollte, so rückblickend auf einer Fachtagung der Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2007 der frühere Essener, jetzige Münsteraner Bischof Genn mit Bezug auf eine Studie Wilhelm Dambergs, durch „die Bildung von Pfarreien unter dem Leitbild der Pfarrfamilie“ entgegengewirkt werden. Daraus entstand etwa im Bistum Essen „die Option, im Umkreis von maximal 750 Metern immer wieder eine Kirche mit der entsprechenden Infrastruktur (Pfarrhaus, Kaplanei, Kindergarten, Pfarrheim, Jugendheim, Küsterwohnung) zu bauen.“203

Der gemeindetheologische Diskurs knüpft zudem an die Tradition des genuin antiliberalen, demokratiekritischen „Organismusgedankens“ der Zwischenkriegszeit an,204 wie ihn etwa Romano Guardini innerkirchlich exemplarisch – und am reflektiertesten – vertreten hat und den man in der Maxime zusammenfassen kann: „Nicht mehr das subjektiv-individualistische Denken herrsche vor, sondern eine organisch geprägte Form, in der die Kirche als Gemeinschaft der Vielen entdeckt wird, geeint in Gott“205. Alois Baumgartner hat bereits in seiner 1977 erschienenen Studie zu den „Ideen und Strömungen um Sozialkatholizismus der Weimarer Republik“206 entsprechende Tendenzen unter dem Titel „Sehnsucht nach Gemeinschaft“ analysiert.

Diese innerkirchliche „Sehnsucht nach Gemeinschaft“ war ihrerseits bereits die Konsequenz aus den (zumindest so gedeuteten) Defiziterfahrungen an religiöser Intensität und Konsequenz einer rein volkskirchlichen Formation von Kirche. Deren Charakteristikum war das als selbstverständlich empfundene Mit- und Zueinander der drei Größen kirchliche Sozialform, religiöses Sinnsystem und gesellschaftliche Wirklichkeit. Im katholischen Milieu der Pianischen Epoche gelang das zwar nur noch auf der geschmälerten Basis eines gesellschaftlichen Submilieus und also auf defensiv-triumphalistischer Basis, aber es gelang doch noch recht weitgehend.207 Spätestens mit der Perforierung dieses Milieus (für sensible Geister aber aben auch schon vorher) zerfiel diese Einheitsimagination von kirchlicher Sozialform, religiösem Sinnsystem und gesellschaftlicher Wirklichkeit.208

Im gemeindetheologischen Konzept Klostermanns werden nun zwei dieser drei Parameter in ein erneuertes Nahverhältnis gebracht: die kirchliche Sozialform und das religiöse Sinnsystem. Die „Gemeindetheologie“ reintegriert beide subjekt- und (klein-) gruppenorientiert. Der grundlegende Wandel des Verhältnisses zur dritten Größe, der umgebenden gesellschaftlichen Realität, wurde dabei eher begrüßt. An die Stelle wechselseitiger Stützung traten der Gesamtgesellschaft gegenüber nun Kategorien wie „Kontrast“, „Eigenständigkeit“ und „Unabhängigkeit“. Oder noch einmal in den Worten Klostermanns: Im gemeindekirchlichen Konzept werde

das volkskirchliche Denken überwunden; ein Denken, das zu falschen Identifizierungen von Kirche und Volk, Kirche und Staat, Kirche und Partei, Kirche und Klassen, Kirche und irgendwelchen Systemen anderer Ebenen neigt.209

„Gemeindetheologie“, das zeigt sich als wirkmächtiger pastoraltheologischer Transformationsdiskurs, der in der Mitte der 1960er Jahre tatsächlich enorm praxisrelevant wurde. Er projektierte die Umformatierung der kirchlichen Basisstruktur hin zu „überschaubaren Gemeinschaften mündiger Christen“, wie es dann hieß. „Gemeinde“, das war konzipiert als Nachfolgestruktur der als anonym, bindungs- und entscheidungsschwach wahrgenommenen volkskirchlichen Pfarrstruktur. Man kann diesen Diskurs tatsächlich Gemeindetheologie nennen, denn eines seiner charakteristischen Merkmale war und ist bis heute die dezidiert theologische Selbstbegründung.210 Das unterschied ihn signifikant von dem bis dahin für Organisation und Legitimation kirchlicher Basisstrukturen primär zuständigen kirchenrechtlichen Diskurs. Ein weiteres Merkmal des gemeindetheologischen Diskurses und vielleicht Folge seiner theologieintensiven Begründung war es, zumindest konzeptionell alle kirchlichen Handlungsstrategien auf diesen Umbauprozess zu zentrieren. Es galt eben tatsächlich das „Prinzip Gemeinde“211, es galt die Maxime „Kirche als Gemeinde“212, um Klostermann-Titel aus den frühen 70er Jahren zu zitieren.

Dieser Umformatierungsprozess hatte zugleich extensiven wie intensivierenden Charakter. Klostermann nennt als Ziel des Gemeindebildungsprozesses, „dass in (einer) Pfarrei möglichst viele Menschen eine möglichst genuine Gemeinde Jesu, des Christus, erleben können“, „dass die Pfarrei ein konkreter Ort wird, an dem möglichst vielen Pfarrangehörigen, aber auch anderen im Pfarrgebiet wohnenden Menschen die Glaubenserfahrungen Jesu weitervermittelt werden können.“ Dazu sollen „möglichst viele in christliche Gruppen und Gemeinden“213 eingebunden werden. Intensivierung und extensive Erfassung gleichzeitig also waren angezielt. Das Ergebnis sollte die „menschliche, brüderliche, offene und plurale Pfarrei“214 sein, so die Formulierung Klostermanns.

Die Gemeindetheologie startet als Diskurs. Konzeptionell war dieser Diskurs zumindest im deutschsprachigen Raum bis vor kurzem praktisch alternativlos. Die Realität freilich war komplexer. Einerseits wurde tatsächlich die alte volkskirchliche und rein kirchenrechtlich definierte Territorialpfarrei mit gemeindetheologischen Kategorien aufgeladen. Um dem gemeindetheologischen Ideal näher zu kommen, wurden etwa die bereits von Klostermann geforderten „lebendigen Zellen“215 gegründet, also Familien-, Bibel- und andere religiöse Kreise als Orte verdichteter Kommunikation, möglichst auch verdichteter religiöser Kommunikation. Dazu wurden Pfarrheime gebaut, vor allem aber wurde eine neue Rhetorik und durchaus auch eine neue Wirklichkeit kommunikativer Gemeinsamkeit und Partnerschaft eingeübt. Gleichzeitig jedoch verlor die Gemeinde immer mehr ihrer realen Funktionen. Als nämlich die alte Pfarrerrolle im Professionalisierungsprozess der Pastoral in den 70er und 80er Jahren in ein Set von Hauptamtlichenberufen ausdifferenziert wurde, wanderten die sich professionalisierenden Handlungsfelder stets auch aus der Gemeinde aus, was zwar einen Differenzierungsfortschritt bedeutete, aber angesichts der unterkomplexen Gemeindetheologie ein reales, bis heute ungelöstes Integrationsproblem kirchlichen Handelns schuf,216 andererseits neo-integralistischen, klerikalistischen Reintegrationskonzeptionen zumindest partiell und vor allem in der Diskussion über „priesterliche Identität“ eine gewisse Schwungkraft verlieh.

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