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3.2 Perspektiven

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Pastoral kann keine Kompromisse eingehen, wenn es um die Solidarität mit den Leiden und Freuden der Menschen (vgl. Gaudium et spes 1) geht – und kaum irgendwo sind heute Freuden und Leiden intensiver und unberechenbarer als in Ehe, Familie und all dem, was um sie herum an Beziehungsformen existiert.155 Katholische Familien- und Ehepastoral hat grundsätzlich allen Menschen in allen Beziehungs- und Lebenssituationen ihre konkrete Hilfe und Begleitung anzubieten. An vielen Orten der katholischen Ehe- und Familienpastoral, so etwa in den Beratungsstellen der Caritas, in den Bildungsangeboten von Akademien und Familienbildungsstätten, geschieht das auch, nicht zuletzt unter kompetenter und erfahrungsnaher Mitwirkung von PsychologInnen.156 Sie verwirklichen, was für alle Orte der Pastoral gelten muss: Nicht die moralische Kommunikation, sondern die pastorale Aktion ist der primäre Zugang der Kirche zu den Menschen von heute. Das setzt die grundsätzlichen Ziele der kirchlichen Lehre nicht außer Kraft, gibt ihnen aber einen neuen Horizont.

Dieser spezifisch konziliare, also pastorale Zugang hätte einige Konsequenzen. Anders als der Synodenbeschluss, der nur einige wenige, eher summarische, nicht immer von typisch kirchlichem Kulturpessimismus freie Äußerungen zur realen Lage von Ehe und Familie enthält, müsste ein heute pastoral anschlussfähiger Diskurs zu Ehe und Familie von den tatsächlichen Erfahrungen des Volkes Gottes mit seinen Versuchen, Ehe, Familie, aber auch andere familiennahe Lebensformen zu leben, ausgehen. Notwendig wäre also, die Erfahrungen des Volkes Gottes mit Ehe-, Familien- und Beziehungsrealitäten wahr- und ernstzunehmen.157 Dabei müsste schon das Thema anders gefasst werden. Gerade wem es um die „christliche gelebte Ehe und Familie“ geht, muss es heute um mehr gehen: um die Realität heutigen Beziehungsgeschehens überhaupt. Und man bräuchte eine andere Sprache als jene, die den lehramtlichen Diskurs prägen: die des Rechts und der idealistischen Überhöhung.158

Die personalistische Aufladung der alten, primär juridisch verfassten Ehelehre, wie sie nachvatikanisch innerkirchlich die Diskurse beherrscht, ist jedenfalls kein hilfreicher Weg. Das II. Vatikanum versteht in seiner Pastoralkonstitution die Ehe zwar als Liebesgemeinschaft und vertieft dies theologisch, indem es die eheliche Partnerbeziehung als alltäglichen Lebenshorizont der Christusbeziehung, ja als personale Konkretion des Neuen Bundes versteht. Gaudium et spes „holt“ damit „in Sprache und Beschreibung die Intimisierung der Familie und zumal der Ehe nach“159, wie sie die bürgerliche Gesellschaft bereits vollzogen hatte.

Die klassischen Ehezwecke wurden damit grundsätzlich in einen neuen Rahmen gestellt. Der aber wurde, da die alten rechtlich-institutionellen Regelungen davon unberührt weiter galten, nicht wirksam umformatiert, sondern durch seine personalistische Aufladung nur eindringlicher und zugleich härter gemacht. Damit kam eine Entwicklung sich sukzessive immer weiter aufladender innerkirchlicher normativer Ehe- und Familiendiskurse zum Abschluss und im gewissen Sinne auch zu einem Kulminationspunkt. Seit dem 19. Jahrhundert war die katholische Kirche verstärkt als Anwältin von Ehe und Familie aufgetreten und hatte dabei „mit semantischen Beständen der Spätantike, mit kirchenrechtlichen Figuren des Mittelalters und der Gegenreformation und der ‚institutionalistischen‘ Überformung, die all das im 19. Jahrhundert erfahren hatte“160, gearbeitet. Die Umstellung auf den bürgerlichen Personalitäts- und Intimitätsdiskurs zeigte sich aber spätestens mit Humane vitae als gerade das nicht: als grundsätzliche Umstellung, vielmehr als Rahmung und Intensivierung, ja Intimisierung aller bisherigen Ehe- und Familiendiskurse.

Eherechtlich und lehramtlich-normativ hat sich daher zur vorkonziliaren Situation praktisch nichts geändert. Das hat zu geradezu paradoxen Konsequenzen geführt. Die personale Aufladung des Eheverständnisses ohne entsprechende rechtliche Relativierung führt nämlich nun zu einer personalen Aufladung des Rechtlichen und einer rechtlichen Aufladung des Personalen.161 Man braucht die Kraft und die Relevanz des Rechtlichen nicht zu leugnen, muss aber feststellen, dass die klassischen Ziele einer christlichen Ehe weder innerhalb der Ehe noch gar in der Beziehungsrealität außerhalb rechtlich wirklich zu sichern sind.

Die rein personalistische Aufladung alter rechtlicher Regelungen ist in Zeiten verblassender kirchlicher Einflussmacht nicht nur faktisch dysfunktional, sie ist in ihren internen (zwischen ziemlich erbarmungslosem Rechts- und dogmatischem Idealisierungsdiskurs) und externen (zwischen kirchlicher Norm und faktischem Leben auch der kirchentreuen KatholikInnen) Spannungen unplausibler noch als die nüchterne rechtliche Fassung früherer Zeiten.

Die rechtliche Fassung der katholischen Ehe- und Familienlehre kann heute weder ihren Sinn noch gar ihre Bedeutung ausschöpfen. Das konnte sie streng genommen natürlich nie. Heute kann diese rechtliche Fassung ihren Sinn und ihre Bedeutung noch nicht einmal präsentieren. Es wird in der Pastoral also darauf ankommen, dem Profil der katholischen Ehe- und Familienlehre jenseits ihrer rechtlichen Verfassung in der vielfältigen Beziehungskultur der Gegenwart Geltung zu verschaffen. Das ist die Herausforderung und sie wird nur zusammen mit dem Glaubenssinn des Volkes Gottes162 als wirklicher Entdeckungsprozess zu bewältigen sein. Aber die Pastoraltheologie kann natürlich darüber nachdenken, in welche Richtung dieser Entdeckungsprozess gehen könnte.

Man könnte etwa versuchen, in radikal neuen (Beziehungs-)Gegenden Sinn und Bedeutung der klassischen Ehezwecklehre in Prozessen „abduktiver“163 Kreativität zu entdecken. Abduktive Prozesse sollten stets da ansetzen, wo die Kreativität aussetzte und der Faden der Plausibilität riss. Das könnte in unserem Falle bedeuten, auf die klassischen Stichworte der alten Ehezwecklehre zurückzugreifen, sie aber grundlegend neu zu kontextualisieren. Diese Neukontextualisierung weg aus ihrem rechtlichen (und dann gar noch sekundär personalistisch aufgeladenen) Kontext hätte sie vor allem in den Kontext der realen Praktiken des Volkes Gottes heute zu verlagern. Sie würden dann nicht Ehe-„Zwecke“, sondern notwendige Erfahrungs- und Bewährungsfelder von Ehe und Familie benennen.

Nun hat die Ehezwecklehre seit Augustinus ein klassisches Profil. Es ist in den drei „Ehezwecken“ fides, proles, sacramentum zusammengefasst: also Treue, Nachkommen und Sakrament.164 Neukontexualisiert in den Erfahrungen des Volkes Gottes könnte dieser alte Diskurs unter Umständen abduktive Kreativität entwickeln, freilich nur dann, wenn er situativ und kreativ mit konkreten Lebenslagen Betroffener in Kontakt gebracht wird und man deren Intuitionen traut.

Die Ehezwecklehre sieht sich als solche, also als „Zweck“-Lehre, nun aber schweren Einwänden gegenüber. Hans-Joachim Sander hat sicher Recht, wenn er in seinem Gaudium et spes-Kommentar feststellt, dass es „bereits strukturell eine Abstufung“ bedeute,

wenn man Zweckursachen in einer so engen personalen Beziehung wie der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau eine wesentliche Repräsentanz gibt; eine solche Beziehung ist zweckfrei, wenn sie aus Liebe besteht, weil die Liebe keinen Zwecken unterworfen ist. Sie muss sich nicht rechtfertigen, auch wenn es mit noch so hohen und respektablen Zielen geschehen soll.165

Die hier vorgeschlagene Neuformatierung der Ehezwecklehre sieht in ihnen denn auch keine Ehe-„Zwecke“ mehr, sondern will ihr abduktives, also kreatives Potential in der Spannung zu den Lebensrealitäten von Ehe, Familie und analogen Beziehungen heute zur Geltung bringen. Das aber kann dadurch geschehen, dass nicht ihr „Zweckcharakter“ und damit Begründungs- und Zielcharakter für die Ehe im Mittelpunkt steht, sondern sie unausweichliche Erfahrungs- und Herausforderungsorte familiärer menschlicher Nahbeziehungen markieren und zugleich mögliche Orte der Entdeckung der Bedeutung der christlichen Botschaft in einer der prekärsten Zonen menschlicher Existenz.

Der „Ehezweck“ proles, also Nachkommenschaft, würde dann nicht länger verstanden als „Zweck“ der einzig, gar noch als „remedium concupiscentiae“ erlaubten ehelichen Sexualität, sondern als die ebenso glückliche wie irritierende wie herausfordernde Erfahrung der Elternschaft. Was sie heute genau bedeutet, wäre in den Erfahrungen von Eltern heute zu eruieren und zu beschreiben. Zugleich wäre zu fragen, was die christliche Botschaft zur Entdeckung und Gestaltung dieser Erfahrung beizutragen hat und wie umgekehrt an ihr Sinn und Bedeutung christlicher Glaubensinhalte sich erschließen.

Denn Elternschaft ist, besonders in nach-patriarchalen Zeiten, die sehr spezifische Erfahrung einer Verantwortung, der man nicht ausweichen kann, für Menschen, die man nicht beherrscht. Es ist die Erfahrung, für etwas verantwortlich zu sein, für das man biologisch und sozial auch tatsächlich verantwortlich ist, auf das man aber nicht wirklich umfassend und vor allem immer weniger Einfluss nehmen und das man schon gar nicht kontrollieren kann. Mit anderen Worten: Es ist eine Erfahrung der Demut.

Elternschaft konfrontiert in einer einzigartigen Weise mit der unausweichlichen Dialektik und Ambivalenz der eigenen Existenz. Elternschaft ist eine Beziehung größter Intensität und wie jede intensive und nicht regionalisierte, sondern tendenziell inklusive Beziehung konfrontiert sie mit den zentralen Polaritäten des eigenen Lebens: mit der Polarität von Macht und Ohnmacht, von Freude und Leid, von Nähe und Distanz, von Verantwortung und Scheitern vor Verantwortung.

Die zentrale Freude der Elternschaft aber ist tatsächlich das Geschenk der Gegenwart neuen und vor allem anderen Lebens. Eltern und Kinder sind eng verbunden, aber sie unterscheiden sich auch wesentlich, vor allem darin, dass sie gleichzeitig in verschiedenen Phasen ihrer Biografie leben. Diese Differenz ist unüberwindbar, reich und verstörend zugleich: Im Kind kommt einem eine andere Gegenwart entgegen. Welche Lehre unseres Glaubens hilft, dies zu verstehen und zu leben, und welche Lehre unseres Glaubens eröffnet Sinn und Bedeutung dieser Erfahrung?

Und: Kann all dies, oder Ähnliches, oder Anderes, jedenfalls mit Elternschaft Verbundenes an kirchlichen Orten in Kontakt, Kontrast, Verbindung gebracht werden mit der Botschaft Jesu? Kann man an kirchlichen Orten Trost und Hilfe finden, wenn es nicht gelingt? Gibt es überhaupt offene und ehrliche Diskurse darüber? Und das dann vielleicht wirklich im Horizont eines Gottes, von dem Christen glauben, dass er Kind wurde, sich auch mit den Kindern besonders identifiziert166 und gleichzeitig der Vater aller ist?

Auch die Sehnsucht nach dem „Gut der Treue“ wie die Schwere seiner Realisierung ist groß. „Der Traum von der Treue“167 wird nach wie vor geträumt, die Schlösser an der Hohenzollen-Brücke in Köln168 und anderswo und vor allem die in den Fluss geworfenen Schlüssel sind hierfür nur die neuesten Symbole. Die „sukzessive oder serielle Monogamie“169 bei permanentem prekären Aushandlungsrisiko kann als Zentralbefund heutiger Beziehungsrealität gelten. Die anhaltend hohen, immer noch steigenden Scheidungszahlen markieren das andere Ende der Problemzone.

Was heißt Treue, was heißt treue Lebensgemeinschaft in Zeiten notwendig individualisierter Lebensführung? Bietet die Kirche Orte, wo dies, nicht erst im Falle der Krise, sondern im Normalfall besprochen und – wichtiger noch – gelebt und entdeckt werden kann? Gibt es Experimentierorte für neue Lebensformen in der Kirche? Und: Welche Lehre unseres Glaubens hilft dies zu verstehen und zu leben und welche Lehre unseres Glaubens eröffnet Sinn und Bedeutung dieser Erfahrung?

Wo werden die konkreten Zusammenlebensprobleme von Partnern und Familien besprochen? Wo ihnen geholfen, mit Ideen und Vorbildern? Und das jenseits des Idealmodells? Johannes Huinink hat in seinem Referat vor der Deutschen Bischofskonferenz 2008 darauf hingewiesen, dass die Kirche außerordentlich hilfreich wirken könnte, wenn sie mitwirken würde, die Kluft zwischen familialen und nicht-familialen Handlungsräumen170 zu überbrücken. Menschen heute wollen beides und brauchen beides: den familialen Nahraum wie den intermediären Raum darum herum; in früheren Zeiten war beides allemal integraler verbunden.

Und: Gilt die Botschaft der Liebe und der Treue nur innerhalb der Idealform Ehe? Wo ein vermachteter, verrechtlichter Diskurs über all diese Themen in der Kirche dominiert, gibt es zu wenige Orte, wo das Volk Gottes erkunden kann, was die Botschaft Jesu von der Treue und der Kreativität der Ehe und des Zusammenlebens heute bedeutet.

Und dann bleibt ein Letztes: sacramentum. Augustinus meinte damit einerseits das Eheversprechen in Analogie zum Treueversprechen gegenüber Gott in der Taufe und andererseits war ihm die Liebe der Ehegatten zueinander ein Zeichen auf das Mysterium der Liebe Christi zu seiner Kirche inklusive von deren Unkündbarkeit.

Auf der Basis des Ursakraments, das Jesus Christus ist, und des sakramentalen Grundauftrags der Kirche, Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes zu den Menschen zu sein (Gaudium et spes 45), gibt es einen sakramentalen Auftrag der Kirche für alle Menschen und für jene, die sich lieben, allemal; für jene, die in ihrer Liebe gescheitert sind, aber ganz besonders. Denn das Christentum ist eine gute Botschaft besonders für die Leidenden.

Regina Ammicht Quinn hat auf dem Symposium „Sehnsucht, Ohnmacht und Ekstase. Gott und die Lebensformen des 21. Jahrhunderts“ an der theologischen Fakultät Graz171 drei Fragen gestellt, die Kirche an und mit heutigen Lebensformen bearbeiten muss: Wer sind wir Menschen in solch bewegten und beweglichen Zeiten? Wie geht gut(es) Menschsein? Und: Was sind die theologischen „Zeichen der Zeit“ jener Lebensformen, die Menschen in ihrer Sehnsucht nach intimer und kreativer Nähe heute (ver-)suchen?

Pastoral der Lebensformen, das hieße für kirchliches Handeln, Menschen zu helfen, die Liebe an einem ihrer schönsten und ekstatischsten, gefährdetsten und unvermeidlichsten Orte zu leben. Es hieße, ihnen zu helfen, die eigene Lieblosigkeit und jene des Partners auszuhalten, es hieße, ihnen zu helfen, verzeihen zu können und Verzeihung annehmen zu können, es hieße, ihnen zu helfen, sich der eigenen Schuld zu stellen, dem anderen nie das geben zu können, was er verdient und was man sich von ihm paradoxerweise erhofft. Es hieße, endlich aufzuhören mit den unrealistischen Diskursen über Ehe und Familie, unrealistisch in idealistischer Überhöhung wie rechtlicher Normierung.

Und es hieße, das, wofür man steht, Treue, Kreativität und den Glauben an die Unverbrüchlichkeit von Gottes Liebe, in heutigen Zeiten und ihren Lebensformen zu entdecken.

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