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SOKRATES – DIE SCHLÜSSELFIGUR

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Sokrates scheint mir als Erster die Philosophie – und darin stimmen alle völlig überein – von den dunklen und von der Natur selbst verhüllten Fragen, mit denen sich alle Philosophen vor ihm beschäftigt haben, abgebracht und dem alltäglichen Leben zugeführt zu haben. Darauf hat sie nach den Fähigkeiten und den Fehlern der Menschen und überhaupt nach dem Wesen des Guten und des Schlechten gefragt und auf der anderen Seite die Auffassung vertreten, dass alles, was am Himmel passiert, von unseren Erkenntnismöglichkeiten weit entfernt sei oder doch, selbst wenn man etwas darüber erfahren könne, keine Bedeutung für ein gutes Leben habe. Sokrates hat in allen seinen Gesprächen, die von denen, die ihn hörten, auf unterschiedliche Weise und ausführlich aufgeschrieben wurden, betont, dass er selbst nichts behaupte, aber andere widerlege, ohne selbst Antworten geben zu können. Er sei jedoch den anderen Menschen darin überlegen, dass diese zu wissen glaubten, was sie nicht wüssten. Er selbst dagegen wisse nur, dass er nichts wisse. Deshalb glaube er auch, er sei von Apollon als der weiseste aller Menschen bezeichnet worden, weil dies überhaupt das einzige wirklich verlässliche Wissen sei, dass man nicht glaube, etwas zu wissen, was man nicht wisse (Cicero, Academica posteriora 1, 15–17).

Sokrates bestand darauf und hielt daran fest, dass das allein zuverlässige Wissen darin bestehe, nichts zu wissen und sich auch nicht einzubilden, etwas zu wissen. Sein ganzes Reden beschränkte sich darauf, tugendhaftes Handeln zu preisen und die Menschen dafür zu begeistern, wie man es den Schriften seiner Anhänger und Schüler entnehmen kann. Darauf fährt Cicero fort:

Von Platons Autorität, der ausgesprochen vielseitig und gedankenreich war, ging eine zwar weitgehend einheitliche philosophische Strömung aus, die sich unter den beiden Begriffen Akademiker und Peripatetiker profilierte. Denn nachdem Platon seine Philosophie seinem Neffen Speusippos gewissermaßen vererbt hatte, taten sich zwei ebenbürtige Männer besonders hervor: Xenokrates aus Chalkedon und Aristoteles aus Stageira. Danach wurden die Anhänger des Aristoteles Peripatetiker genannt, weil sie in der Wandelhalle mit dem Namen Lykeion auf und ab gehend diskutierten, während die anderen in Platons Nachfolge in der Akademie, einem anderen Gymnasium, zusammenkamen und Gespräche zu führen pflegten. Diesem Treffpunkt verdankten sie dann eben auch ihre Bezeichnung als Akademiker. Doch beide – Xenokrates und Aristoteles – entwickelten erfüllt von Platons gedanklichem Reichtum ihre eigene philosophische Lehre in einem geschlossenen System. Aber jenes sokratische Verfahren, ohne Gewissheit und Hoffnung auf sichere Antworten über alle Fragen zu diskutieren, gaben sie auf. So entstand, was Sokrates niemals akzeptiert hätte: eine wissenschaftlich begründete Philosophie mit einer systematischen Ordnung. Diese Philosophie bildete zunächst eine Einheit, obwohl sie zwei Namen hatte. Denn die Peripatetiker unterschieden sich in nichts von der Alten Akademie. Aristoteles ragte allerdings durch den beeindruckenden Reichtum seines Talents, wie mir scheint, über alle anderen hinaus. Doch beide Schulen hatten denselben Ursprung und dieselbe Vorstellung von dem, was man erstreben und was man meiden muss.

Die Tauglichkeit kommt aus dem Inneren des Menschen und ist das Ergebnis intensiver Denkarbeit. Nur wer am Ende wirklich weiß, was Tauglichkeit ist, wird in ihrem Sinne handeln und wirklich tauglich sein. Darin besteht die von Sokrates postulierte Identität von Tauglichkeit und Wissen.

Von den Sophisten aber unterscheidet er sich vor allem darin, dass er die Philosophie nicht im Lehrvortrag, sondern im Dialog realisiert, in dem sich die Gesprächspartner ständig gegenseitig kontrollieren und sich vergewissern, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Unter diesem Gesichtspunkt geht es also um ein Wissen, das nur im Austausch mit anderen Menschen Bestand hat.

Im Bemühen um Wissen muss ich leben und deshalb mich selbst und die anderen prüfen und widerlegen (Apologie 28e).

Das Bekenntnis zu dieser Lebensaufgabe ist der Kern der Verteidigung des Sokrates vor dem athenischen Gerichtshof.

Im platonischen Dialog Lysis (218a) erklärt Sokrates jeden zu einem Philosophen, der noch nicht weise sei; denn wer es schon sei, brauche nicht mehr zu philosophieren. Auch im Symposion (204a) definiert er die Philosophie als ein Streben nach Wissen, das man (noch) nicht habe:

Kein Gott philosophiert oder begehrt, weise zu werden; er ist es ja, und auch wenn sonst jemand schon weise ist, philosophiert er nicht mehr.

Allerdings philosophiert auch der Unverständige nicht (Symposion 204a):

Denn das ist eben das Schlimme am Unverstand, dass der Unverständige, ohne schön, gut und vernünftig zu sein, doch ganz zufrieden mit sich selbst ist. Wer aber nicht glaubt, dass ihm etwas fehlt, der will auch nichts haben, wovon er nicht annimmt, dass es ihm fehlt. Platon hat das sokratische Wesen voll und ganz in sich aufgesogen. Das kommt darin zum Ausdruck, dass er in fast allen seinen Werken nicht selbst das Wort ergreift, sondern Sokrates sprechen lässt, den er dann auch in seiner Politeia (480a) über den Gegenstand der Philosophie sagen lässt, es sei das Wissen vom wirklich Seienden.

Mit Platons Schüler Aristoteles, der die Philosophie zu einer alles umfassenden Wissenschaft entwickelt und eine unbeschreiblich große Wirkung auf die spätere Philosophiegeschichte entfaltet, geht die klassische Epoche zu Ende.

Platons Akademie übernimmt die Aufgabe, das Erbe ihres Gründers weiterzugeben. Besonders wichtig wird die Neue Akademie – vor allem unter ihrem Leiter Karneades, dem Begründer des Skeptizismus, der jede Form dogmatischen Denkens ablehnt und die Zurückhaltung des Urteils fordert. Der grundsätzliche Zweifel am Wert menschlicher Erkenntnis führt zur Unerschütterlichkeit oder Unempfindlichkeit gegenüber allem Geschehen.

Auch außerhalb der Akademie gibt es Verfechter der skeptischen Denkhaltung: So befindet sich beispielsweise Pyrrhon von Elis in ständiger Auseinandersetzung mit den Schulen der Stoiker und der Epikureer, die sich gegenseitig darin überbieten, den besten Weg zum Glück des Menschen, zur Eudämonie, zu finden, indem sie alles, was dem Menschen nicht verfügbar ist, wie zum Beispiel materielle Güter, radikal entwerten und als bedeutungslos für das Glück betrachten.

Alle nachklassischen Philosophenschulen stimmen darin überein, dass die praktische Vernunft vor dem theoretischen Denken Vorrang hat. Denn Glück ist nur durch Handeln erreichbar. Die Schulen haben allerdings nicht dasselbe Verständnis von Glück. So sehen es die Stoiker in der Freiheit von allen Leidenschaften (Apathie) und in der Verwirklichung der Tugend, d. h. in rational begründetem Handeln. Die Pyrrhoneer, die Nachfolger des Pyrrhon von Elis, und Epikurs Anhänger, die Epikureer, bezeichnen diesen Zustand als Ungestörtheit (Ataraxie), die Distanz hält zu allem Unverfügbaren oder Unbeeinflussbaren, an das man sein Herz nicht hängen darf, weil es einen nichts angeht. Die skeptischen Pyrrhoneer sind darin besonders konsequent: Denn für sie gibt es nichts, worüber der Mensch frei verfügen kann. Folglich ist alles gleichgültig – auch die Gleichgültigkeit selbst.

Dass Philosophie eine unmittelbare Lebenshilfe sein kann, veranschaulicht später Mark Aurel, der sich als römischer Kaiser und griechisch schreibender Philosoph in seinen Selbstgesprächen nicht nur an der stoischen Lehre, sondern auch an Heraklit, Sokrates und Platon, aber auch an dem Kynismus eines Diogenes und sogar an Epikur orientiert. Dem stoischen Sklaven Epiktet bringt der Kaiser höchste Achtung entgegen. Wenn es von Sokrates heißt, er habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde heruntergeholt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten, dem Guten und Bösen zu forschen, kann man von Mark Aurels Philosophie behaupten, sie reduziere den Menschen noch auf das ihm zukommende Maß: Die Philosophie lehre seine Bedeutungslosigkeit, indem sie ihn immer wieder dazu auffordere, sich selbst in seiner extremen Begrenztheit und Verletzlichkeit zu erkennen. So ist sie am Ende nichts weiter als die Vorbereitung auf einen würdevollen Abschied von der Welt. Hier schließt sich der Kreis zu Sokrates. Außerdem hat noch keiner von denen, die auf dieser Welt mit Leidenschaft nach der Wahrheit und nach dem Anblick des Seienden streben, sein Verlangen hinreichend stillen können, weil er eben nur eine durch den Körper sozusagen verdunkelte und vernebelte, unzuverlässige und gestörte Vernunft besitzt. Aber wie ein Vogel blicken die Philosophen nach oben, um aus dem Körper hinaus in ein helles und strahlendes Licht zu fliegen, und so machen sie ihre Seele leicht und frei von allem, was vergänglich ist, indem sie die Philosophie zu einer Vorbereitung auf das Sterben werden lassen. So halten sie den Tod für ein großes und wirklich vollkommenes Gut und sind überzeugt davon, dass die Seele dort ihr wahres Leben haben wird, während sie hier nicht wirklich lebt, sondern nur als ob sie träumen würde (Plutarch, Non posse suaviter vivi secundum Epicurum, 28).

Mit diesen Worten spielt Plutarch (um 100 n. Chr.) auf eine zentrale Stelle im platonischen Phaidros (249d) an. Mit der These, Philosophieren bedeute sterben lernen, greift er Worte auf, die Sokrates im Phaidon (64a-b) kurz vor seinem Tod spricht, um das letzte Ziel der Philosophie zu formulieren.

In dieser nachklassischen Epoche der Philosophiegeschichte hat die Philosophie ein gemeinsames Motiv: Sie ist Psychotherapie. Das ist am deutlichsten fassbar bei den Kynikern, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, Menschen zum Umdenken aufzufordern und von seelischen Krankheiten zu heilen. Für die Analogie zwischen Philosophie und Heilkunde ist eine Bemerkung des Antisthenes bezeichnend (D. L. 6, 4): Auf die Frage, warum er seine Schüler so hart anfasse, soll er geantwortet haben: „Die Ärzte machen es doch genauso mit ihren Patienten.“ Und als Diogenes einmal gefragt wurde, warum er die Spartaner höher schätze als die Athener und es dennoch vorziehe, in Athen zu leben, soll er gesagt haben, auch der Arzt befasse sich nicht mit den Gesunden, sondern mit den Kranken (Stobaios 3, 13, 43). Der Kyniker Demonax erklärt später, man müsse sich die Ärzte zum Vorbild nehmen, die sich bemühten, die Krankheiten zu heilen, ohne den Kranken böse zu sein (Lukian, Leben des Demonax 7). Und auch nach Epikur erfüllt die Philosophie eine therapeutische Aufgabe:

Leer ist die Rede jener Philosophen, von der nicht irgendeine Leidenschaft des Menschen geheilt wird. Wie nämlich eine Medizin nichts nützt, wenn sie nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so ist auch eine Philosophie nutzlos, wenn sie nicht die Seele von den Leidenschaften befreit (Frg. 221 Us.).

Der Neuplatonismus, der die spätantike Epoche der Philosophiegeschichte prägte, hat alle philosophischen Schulen beerbt. So wurde zum Beispiel das Studium des Aristoteles zu einem wichtigen Inhalt neuplatonischen Denkens. Simplikios betrieb im 6. Jh. n. Chr. die Harmonisierung von platonischer und aristotelischer Philosophie mit besonderem Ernst. Die intensive philosophische Arbeit der Neuplatoniker lässt sich vor allem daran ablesen, dass ihre noch erhaltenen Schriften an Umfang alle anderen philosophischen Werke der Antike um ein Vielfaches übertreffen.

Wie schon die griechischen Großdenker Platon und Aristoteles an dieser Stelle nicht thematisiert werden, unterbleibt auch eine Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus. Denn diese würde den Rahmen einer Darstellung weit überschreiten, in deren Mittelpunkt Philosophen stehen, die vor allem dadurch bemerkenswert sind, dass sie zwar entweder nichts schrieben oder nur Fragmente ihres Denkens hinterließen, aber eine bis heute unbeschreiblich große Wirkung haben.

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