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Das Geschenk

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Eines Tages im Dezember 1940 befand sich Rita auf ihrem Heimweg von der Schule, als sie, wie sie es später bezeichnete, „das größte Geschenk, das ich von Gott jemals erhalten habe“, bekam. Ihr Magen schnürte sich zusammen, als sie das Haus der Gianfrancescos erreichte. An der Türschwelle konnte sie kaum noch auf den Beinen stehen. Ihre Knie und Ellbogen wurden wachsweich. Ihre Großmutter gab ihr einige Gläser warmes Wasser, die sie mit Schweißperlen im Gesicht austrank. Dies brachte jedoch keine Besserung. Die Krämpfe hielten eine ganze Stunde lang an.

Danach wurde Rita in den folgenden vierundzwanzig Stunden von Durchfall geplagt. Ihre einst fülligen Wangen hingen nun wie Satteltaschen an den Schläfen ihres Porzellangesichts. Jedes Mal, wenn sie den Versuch unternahm, etwas zu essen, kam es ihr vor, als zerschnitten Glasscherben ihre Eingeweide. In den folgenden Tagen verweigerte ihr Körper die Aufnahme jeglicher Nahrung, und so war sie gezwungen, eine eingeschränkte Diät mit Zwieback, Tee und weichen Nahrungsmitteln, die ihr Organismus aufnehmen konnte, einzuhalten.

Bis Anfang 1941 befielen die Krämpfe die Achtzehnjährige oft dreimal in der Woche. Doch selbst inmitten dieser körperlichen Belastung blieb Ritas Hauptanliegen die Sorge um das Wohlergehen ihrer Mutter.

Selbst Wochen nach der Ablegung ihrer Prüfung für den öffentlichen Dienst hatte Mae noch immer nichts vom Rathaus gehört. Das angespannte Warten auf das Ergebnis hatte wahrscheinlich ihren zweiten Nervenzusammenbruch verursacht – was zu einem erneuten sechswöchigen Aufenthalt in Philadelphia führte.

Jetzt stand Rita am Vorabend ihres Schulabschlusses vor einem ernüchternden Erwachsenendasein und war erneut mutterseelenallein. Obwohl sie Mae deren Abwesenheit nicht übel nahm, erzählte mir Mutter Angelica dennoch, dass diese Erfahrung sie zu der Erkenntnis führte, dass sie von niemandem Unterstützung erwarten konnte – weder von ihrer Mutter noch von ihrem Vater, noch nicht einmal von ihren Großeltern. Die Zukunft würde gänzlich von ihrem eigenen Einfallsreichtum abhängen. Mit dieser Einsicht fing Rita ganz allein mit der Arbeitssuche an.

Mae Rizzo war emotional ausgebrannt, ohne Arbeit und wieder knapp bei Kasse nach Canton zurückgekehrt. Am 22. Mai 1941 reichte sie beim Bezirksgericht einen Antrag auf Auszahlung ausstehender Unterhaltszahlungen in Höhe von 2098,50 Dollar ein, die sie von ihrem früheren Ehemann einklagte. Ob ihr das Gericht das Geld zusprach, ist zwar nicht klar, doch erhielt Mae am 1. Juli 1941 eine Stelle als Buchhalterin im Büro der Wasserwerke von Canton. Die Prüfung für den öffentlichen Dienst hatte sie ja bestanden. Die Arbeit brachte Maes Leben wieder ins Gleichgewicht, und ein Gefühl der Sicherheit erfüllte sie. Um ihren finanziellen Überfluss zu zeigen, putzte sie den Raum, den sie im Haus der Gianfrancescos mit Rita teilte, fein heraus mit Bettdecken aus Satin, die zudem noch rundherum mit Volants abgesteppt waren, mit Vorhängen an den Fenstern und mit neuen Lampen. All dies hätte sie sich zuvor niemals leisten können. Diese neuen Annehmlichkeiten boten Rita indes nur wenig Trost, denn ihr Magenleiden verschlimmerte sich.

Ende Juli baten Ritas besorgte Großeltern ihren Arzt, Dr. James J. Pagano, den Magen ihrer Enkeltochter zu untersuchen. Seit Anthony Gianfrancescos Schlaganfall hatte Pagano regelmäßig Hausbesuche in der Liberty Street gemacht. Anfangs dachte der Arzt, Rita würde an Magengeschwüren oder einer Entzündung der Gallenblase leiden. Daher verschrieb er zunächst entsprechende Medikamente, doch diese halfen nicht im Geringsten, den Schmerz zu mildern oder die Krämpfe zu beenden – ein Beweis dafür, dass die Diagnose falsch war.

Als Dr. Pagano Rita im November 1941 zur Röntgenuntersuchung ins Mercy Hospital schickte, hatte sie bereits zwanzig Pfund an Gewicht verloren. Schließlich ergaben die Untersuchungen eindeutig, dass Rita an einer Gastroptose litt, was üblicherweise auch als „Magensenkung“ bezeichnet wird. Durch diesen Zustand wird der Mageneingang abgeschnürt. Dies führt zu einer Blockierung der Nahrungsaufnahme. Ein für sie individuell angepasster Gürtel sollte nun Ritas Magen stützen und heilen. Durch diesen Gürtel wurde Ritas Leben erträglich, sogar dann, als die Welt auseinanderfiel.

Im Dezember 1941 griffen die Japaner Pearl Harbor an und zogen damit die Vereinigten Staaten in den weltweiten Konflikt mit hinein. Für eine Stahlstadt wie Canton brachte der Krieg Arbeit und entsprechend auch Arbeitsplätze. Rita schloss sich den Reihen der mehr als fünfzehntausend Frauen von Canton an, die auf der Gehaltsliste der Rüstungsindustrie standen. Ihre zuversichtliche Einstellung und ihre im Abschlussjahr gewählten Kurse ermöglichten es ihr, Anfang 1942 eine Stelle in der Werbeabteilung der Firma Timken Roller Bearing zu bekommen. Zu dieser Zeit war Timken ein regelrechtes Machtzentrum, das innerhalb von zwei Jahren 100.000 nahtlose Kanonenrohre für 37-, 40- und 75-mm-Geschosse herstellte.

Als Sekretärin des Abteilungsleiters der Werbeabteilung, Peter Poss, hatte Rita viele verschiedene Aufgaben. Sie schrieb und korrigierte Texte und gestaltete Entwürfe für Werbekampagnen und lernte sogar, manche Maschinen zu bedienen. „Herr Poss meinte, sie sei spitze“, erinnerte sich Elsie Machuga, die mit Rita bei Timken arbeitete. „Sie war so eine Art Allroundsekretärin.“

Im April 1942 ruhte sich Rita eines Tages im Aufenthaltsraum der Frauen bei Timken aus. Sie lag auf dem Sofa, legte ihre Füße hoch und versuchte dadurch, die Magenkrämpfe, deren Kommen sie bereits spürte, aufzuhalten. Kurz darauf fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Unterleib. Selbst der für sie angefertigte Gürtel konnte ihren sich aufbäumenden Magen nicht mehr länger unter Kontrolle halten.

Am 13. Mai untersuchte Dr. Wiley Scott Rita zum ersten Mal. Er entschied, dass der Gürtel zu einer Art Korsett erweitert werden sollte, und empfahl ihr gleichzeitig, beim Schlafen die Füße ungefähr zwanzig Zentimeter hochzulagern, um den Magen zu stützen. Das Korsett durfte sie erst dann ausziehen, wenn sie im Bett die Füße hochgelagert hatte. Sie befolgte die ärztlichen Anweisungen, und ihre Magenschmerzen ließen nach. Rita kehrte zur Arbeit zurück.

Am 10. Juli 1942 wechselte Mae Rizzo gerade die Bettwäsche ihres Vaters, als „zwei große Männer ganz in weiß“ den Raum betraten. Die Männer riefen nach Anthony Gianfrancesco, während Mae ein Ende des Kissens mit den Zähnen festhielt und nur stumm zuschaute. Als sie sich noch damit abmühte, das Kissen in einen frischen Bezug hineinzustopfen, richtete sich der Vater auf. Anthony blickte die Fremden unverwandt an, murmelte ein „Ja“ und fiel zurück in die Arme des Todes. Es wird immer ein Geheimnis bleiben, ob diese weißgekleideten Männer tatsächlich engelhafte Erscheinungen waren. Doch Mae war sich sicher, sie gesehen zu haben. Sie erzählte diese Geschichte in den kommenden Jahren immer wieder.

Wenn jemand zu dieser Zeit Engel gebraucht hätte, dann wohl Rita. Als der November kam, waren ihre „Nerven schlimmer als je zuvor“, und die Krämpfe waren zurückgekehrt. „Ich konnte weder schlafen noch essen. Meine Hände zitterten, und mein linker Arm wurde taub“, schrieb Rita über ihre Krankheit. Ihre einzige Entlastung, das Korsett, fing an, in ihre Hüften einzuschneiden, was Blasen hervorbrachte, die bei fortgesetztem Tragen des Teiles mit der Zeit aufbrachen. Damit die Haut wieder ausheilen konnte, legte sie das Korsett ab und blieb zu Hause im Bett liegen. Während dieser Isolation beschäftigte sich Rita eifrig damit, ihre Lage ernsthaft zu überdenken. Eines Tages beschloss sie, ohne das Korsett aus dem Bett zu steigen. Sie wollte testen, ob sie wieder gesund wäre. Sofort wälzte sich ein widerwärtiger Schmerz durch ihren Magen. Als sie flüchtig nach unten schaute, versetzte ihr das, was sie sah, einen großen Schrecken: Die Haut ihres Unterleibes hatte einen bläulichen Farbton angenommen, als handle es sich um einen verblassenden Bluterguss. Doch noch mehr erschreckte sie, dass an der linken Seite des Unterleibs eine Geschwulst von der Größe einer Zitrone herausragte.

Mutter Angelica

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