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Die Besichtigung

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Peter Poss, Ritas Vorgesetzter bei Timken, gab ihr einen Tag frei und brachte sie zur Bushaltestelle. Er befürwortete ihre Reise. Er war ebenfalls damit einverstanden, sie um 17 Uhr wieder abzuholen und rechtzeitig zum Abendessen zu Hause abzuliefern, damit Mae keinen Verdacht schöpfen konnte.

Der Besuch der Wallfahrtsstätte St. Paul war einfach überwältigend. Die gotische Kirche im Stil der Gründerjahre stand an der Kreuzung der Euclid Avenue und der East Fortieth Street in Cleveland und war eine Festung des alten Glaubens in der modernen Welt. Die massive Kirche aus Sandstein, die im Jahr 1875 erbaut worden war, sah mit ihrem spitzen Glockenturm und den Türmchen, die Minaretten ähnelten, aus, als würde sie in den Himmel hineinragen. An der Seite der Kirche stand ein fünfstöckiges Backsteinkloster, das 1931 angebaut worden war. Rita betrat das imposante Gebäude mit einigem Zögern.

Schwester Magdalene, eine sympathische Nonne, führte sie in ein Sprechzimmer mit dunklen Vorhängen. Die ausgeprägte Stille und das dicke Metallgitter beunruhigten Rita wahrscheinlich. Als sie versuchte, ein Gespräch zu beginnen, auf das jemand auf der anderen Seite antworten würde, öffnete sich in dem Eisengitter eine Tür. Schweigend, wie Gespenster, standen zwei Nonnen auf der anderen Seite des geöffneten Eisengitters. Sie trugen dunkelbraune Ordenstrachten und einen schwarzen Schleier vor ihrem Gesicht. Rita starrte die schattenhaften Gestalten an. Sie war noch nie zuvor im Innern eines solchen Klosters gewesen, und sie war auch noch nie solchen Nonnen begegnet. Die Schwestern hoben ihre Schleier leicht hoch und stellten sich selbst in gedämpfter Stimme und mit deutschem Akzent vor. Eine der Schwestern war Mutter Mary Agnes, die Äbtissin des Klosters. Die andere, Mutter Mary Clare, war ihre Stellvertreterin. Einige Zeit sprachen die Nonnen über ihre Lebensweise und die Erwartungen, die sie an eine Postulantin stellten.

Rita sah sich das Umfeld und die seltsame Art der Nonnen genau an und kam dann schließlich, vielleicht ohne es selber völlig zu verstehen, zu einer Entscheidung: „Ich dachte mir, nun gut, Herr, hier willst Du mich also haben, hier soll ich eintreten.“

Bevor Rita wieder ging, erkundigte sich Mutter Agnes bei ihr, ob sie eine erste oder eine zweite Chorschwester werden wollte. Die ersten Chorschwestern sangen das tägliche Chorgebet und legten die feierlichen Gelübde ab, während die zweiten Chorschwestern Laienschwestern waren und sich tagsüber an der Reinigung des Klosters beteiligten. Da Rita den Unterschied nicht ganz verstanden hatte, antwortete sie: „Ich versuche es mit dem Singen.“

„Oh, haben Sie eine Altstimme?“, strahlte Mutter Agnes. „Wir bräuchten so dringend eine solche.“

Obwohl Mae einmal gesagt hatte, dass Rita „keinen Ton halten“ konnte, sagte sie zu, Alt zu singen, und wurde so eine erste Chorschwester.

„Das war eine weitere Fügung der Vorsehung“, erzählte mir Mutter Angelica. „Wenn ich nämlich nicht eine erste Chorschwester gewesen wäre, hätte ich niemals Äbtissin werden können. Laienschwestern konnten nicht Oberinnen werden – und wenn man sich einmal für etwas entschieden hatte, war der Wechsel in einen anderen Stand nicht mehr möglich.“

Rita versprach, am 15. August 1944 im Alter von einundzwanzig Jahren in das Kloster einzutreten.

Bei ihrer Rückkehr nach Canton beschrieb Rita ihrer Freundin Elsie das wunderbare Kloster in Cleveland und teilte ihr ihre Pläne für die Abreise mit. „Ich dachte einfach, na gut, Mädchen, dann geh!“, erinnerte sich Machuga später.

An einem Freitagnachmittag des Jahres 1944 lag Rhoda Wise im Bett und erlebte eine schmerzhafte Ekstase. Während ihre Wunden bluteten, fing sie an zu sprechen. Es war nach der Erinnerung von Catherine Barthel das einzige Mal, dass Rhoda Wise während einer ihrer übernatürlichen Agonien irgendetwas herausbrachte. „Rita? Meine Rita?“, war alles, was sie sagte. Als Barthel sich nach dieser Aussage zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal genauer erkundigen wollte, meinte Frau Wise, sie habe auf etwas geantwortet, was Jesus ihr über Rita Francis erzählt habe. Als Barthel in den Achtzigerjahren gefragt wurde, was dieses „Etwas“ gewesen sein könnte, konnte sie keine Auskunft darüber geben. Besucher im Haus von Rhoda Wise erinnerten sich daran, dass die Mystikerin prophezeit hatte, „Rita würde einmal Großes für die Kirche tun“. Mutter Angelica selbst erfuhr ebenfalls von dieser Prophezeiung. Obwohl sich diese Aussagen heute natürlich nicht mehr überprüfen lassen, sind sie letztlich auch nicht so bedeutsam wie der Einfluss von Rhoda Wise, durch den Rita Rizzo geprägt wurde.

Von Frau Wise selbst lernte Rita, dass Leiden ein Geschenk Gottes sein kann. Diese Lektion sollte ihr religiöses Leben und das zahlreicher anderer Menschen stark formen. Obwohl von den meisten Menschen eine direkte Kommunikation mit dem Göttlichen skeptisch betrachtet und auch abgelehnt wurde, war dies für Rita etwas ganz Natürliches, ja sogar etwas Selbstverständliches, nachdem sie Rhoda geistlich so nahegekommen war. Für die junge Rita durften mystische Erfahrungen mit den Heiligen oder Christus selbst nicht einfach abgetan oder infrage gestellt, sondern mussten beherzigt und befolgt werden.

Im August 1944 besuchte Rita das Haus von Rhoda Wise, wie sie vermutete, zum letzten Mal. Jahrzehnte später sollte sie es erben und dort eine Pilgerstätte errichten. Obwohl diese heute kaum mehr besucht wird, stehen das Haus und die Frau, die es einst besaß, dem Herzen von Rita Rizzo noch immer sehr nahe.

Im Haus der Gianfrancescos genoss Rita ihre letzten Augenblicke und nahm heimlich Bilder von ihrer Familie auf, die ein Leben lang vorhalten mussten. Rita konnte ihren Entschluss, dem Ordensleben beizutreten, zwar Freunden und Fremden mitteilen, brachte es aber nicht fertig, es Mae zu sagen. Sie konnte die Reaktion ihrer Mutter nicht einschätzen. Deshalb sagte sie gar nichts, als sie wie gewöhnlich am 15. August 1944 das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen. Peter Poss fuhr sie zur Bushaltestelle und bezahlte wieder ihre Fahrt nach Cleveland. Er versprach, einen an Mae Francis geschriebenen Brief per Eilboten abzuschicken. Für Rita war dies die einzige Möglichkeit, ihre Entscheidung zu verwirklichen.

Als sich die Bustüren hinter ihrer schwierigen Kindheit, der zerbrochenen Familie und der schweren Belastung durch Mae schlossen, blickte Rita auf eine heitere Zukunft, die sie zusammen mit ihrem Geliebten, mit Jesus, verbringen würde. Im Gebet und in der Stille kämpfte sie in Gedanken mit den Schuldgefühlen, ihre beste Freundin auf Erden verlassen zu haben. Aber sie musste ihren eigen Weg gehen. Das wollte Gott. Bald schon würde sie ganz von dieser Welt abgeschlossen sein. Rita erwartete, von all ihren Sorgen befreit zu werden. Als sie die sechzig Meilen weite Reise zu ihrer neuen Heimat hinter sich gebracht hatte, verblasste Canton in ihrem Gedächtnis. Sie stellte sich vor, die Stadt niemals wiederzusehen und glaubte, sanft in ein neues Leben der Demut und der Anonymität hinüberzugleiten.

Mutter Angelica

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