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Einleitung

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Die Leute rund um Hanceville in Alabama nannten es „dieses Nonnengeschäft“, „den Palast“ oder auch „den Wallfahrtsort“, je nachdem, mit wem man darüber sprach. Dieser Ort sollte an den meisten kommenden Samstagvormittagen mein Ziel sein. Nachdem ich die Autobahn I 65 verlassen hatte, ging es weiter an den Rinderherden vorbei, die hier in der Hitze Alabamas vor sich hindösten. Bei Pitts Lebensmittelgeschäft bog ich rechts ab, fuhr schnell an einer Reihe neu erbauter Häuser vorbei, aus deren gepflegten Vorgärten mich Heiligenstatuen aus Gips anstarrten. Im Gegensatz zu den Menschen, die mit Wohnmobilen und klimatisierten Reisebussen hierher gekommen waren, interessierte mich weniger das Kloster Unsere Liebe Frau von den Engeln, sondern vielmehr die Frau, die es gebaut hatte.

Während ich auf mein Ziel zufuhr, auf einem riesigen Gebäude, dessen Fassade mit Sandsteinen verkleidet war, das Mutter Angelica ihr Zuhause nannte, überdachte ich noch einmal im Stillen die Fragen, die ich ihr stellen wollte. Dies war die letzte Chance, mich auf das fünfstündige Treffen mit ihr vorzubereiten: ein Gespräch unter vier Augen mit der freimütigsten kontemplativen Ordensfrau der Welt. Da Ordensschwestern, die in Klausur leben, ein direkter Kontakt mit der Außenwelt nicht erlaubt ist, waren unsere Treffen auf das Sprechzimmer der Gemeinschaft beschränkt, einen schlichten Raum, in dem ein Eisengitter die Nonne vom Besucher trennt.

Eigentlich erschien es mir ungünstig, ganz vertrauliche Details eines Lebens durch Gitterstäbe hindurch zu besprechen. Doch in unserem Fall verlieh diese Ausgestaltung dem Ablauf unseres Zwiegesprächs eine beichtähnliche Atmosphäre. Es war, als ob gerade das schwarze Eisengeflecht zwischen uns die neunundsiebzigjährige Äbtissin befreit hätte. Sie konnte dadurch ihre Vergangenheit mit einer Aufrichtigkeit und Offenheit lebendig werden lassen, die sie sich sonst hätte nicht erlauben können.

Sie kam, bereit zum Gespräch.

„Hey, Landsmann!“, krächzte Mutter Angelica, als sie das Sprechzimmer auf der anderen Seite des Gitters betrat. Sie blieb an der Türschwelle mit ausgebreiteten Armen stehen, geradeso, als würde sie eine Bühne betreten. Sofort durchflutete Herzlichkeit und Wärme das spärlich rosa gekachelte Zimmer.

In ihrem schokoladenbraunen franziskanischen Ordensgewand schien sie heute mit ihren knappen 165 cm noch erstaunlich jung und geschmeidig zu sein. Ihre runden Wangen quollen an beiden Seiten über den Schleier heraus wie ein in eine Schuhschachtel gezwängtes rosarotes Kissen. Durch ihr Lächeln, geschätzt und geliebt von Millionen Menschen, wurden ihre Augen zu durchdringenden grauen Schlitzen zusammengepresst.

Obwohl sie über vierzig Minuten zu spät gekommen war, gab es keine entschuldigende Erklärung. Mutter Angelica lebte einfach im gegenwärtigen Augenblick.

„Na gut, dann fangen wir an“, verkündete sie, als ob ich der verspätete Gesprächsteilnehmer gewesen wäre. Als sie sich den Gitterstäben näherte und ihre Hände durch das Gitter streckte, tänzelte ein Schimmer von Zuneigung und Schalk hinter ihrer Brille. Sobald sie meine Hand ergriff, kam sie auf etwas Wichtiges zu sprechen: „Wie wäre es mit einem Mittagessen? Was haben wir da, Schwester?“, fragte Mutter Angelica über ihre Schulter hinweg. Die stets dienstbereite Schwester Antoinette eilte in die Küche, um sich nach dem klösterlichen Speiseplan zu erkundigen.

Später, bei halbgegessenen Keksen und Tee mit Milch sowie einer unter ihrem Kinn eingesteckten Serviette, legte Mutter Angelica ihre sorgfältig zusammengestellten persönlichen Anekdoten beiseite, die sie im Laufe ihrer zwanzigjährigen Fernsehlaufbahn ganz ohne Manuskripte perfektioniert hatte, und fing an, Dinge aus ihrer Vergangenheit zu erzählen, die zuvor noch niemand, auch nicht ihre Mitschwestern aus dem Kloster, gehört hatte. Ob es nun Fügung oder einfach gerade die richtige Zeit war, jedenfalls traf ich Mutter Angelica zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereit war, Rückschau auf ihr Leben zu halten. Soeben hatte sie ein lang ersehntes Ziel erreicht, die Fertigstellung eines mehrere Millionen Dollar teuren neuen Klosters. Sie schien wirklich zufrieden zu sein und war schließlich auch bereit, auf all das zurückzublicken, was sie überstanden und erreicht hatte. Da saß sie nun in einem dick gepolsterten Ledersessel, rang mit ihrem Gedächtnis und der Zeit, um die Wahrheit ans Licht zu fördern.

„Spüren Sie einen Zwiespalt in Ihrem Innern – in Ihrer Persönlichkeit?“, fragte ich sie heute. Immer wenn sie einen langen, fast schon gequälten Seufzer ausstieß und ihren Körper im Sessel in eine andere Position verlagerte – wie sie es auch jetzt tat – wusste ich, dass uns ein aufschlussreicher Moment bevorstand. Sie schob ihren Finger unter den steifen weißen Schleier, der ihr Gesicht umgab und rieb an ihrer Schläfe, als ob sie leibhaftig versuchte, die Vergangenheit aus ihrem Gedächtnis herauszuschürfen. Wie oft sollte ich noch hier sitzen und warten, an den Metallblümchen, mit denen das Gitter übersät war, vorbeistarren und gleichzeitig daran denken, wie sehr sie doch Mutter Angelica selbst ähnelten: Sie waren eisern und doch feminin, zurückhaltend und doch offenherzig, im Feuer gehärtet und unverwüstlich. Doch die Antworten sollten schon noch kommen.

„Habe ich Ihnen schon davon erzählt, wie ich einmal ein Messer nach meinem Onkel geworfen habe? Ich möchte, dass Sie mein wahres Ich kennenlernen, denn weder in dem, was ich mache, noch in dem, was ich habe, findet sich mein wirkliches Ich. Es ist eine Frau von der Straße, die erkrankte und der vieles geschenkt wurde.“ Bedächtig präzisierte sie: „Mein wahres Ich ist nicht das, was Sie hier sehen.“

So habe ich fast drei Jahre lang in dem vergitterten Sprechzimmer ihres Klosters verbracht, um die „wirkliche“ Mutter Angelica aufzuspüren. Von 1999 bis Ende 2001 traf sich der „Superstar des religiösen Fernsehens“, wie Mutter Angelica vom TIME-Magazin genannt wurde, die sicher auch zu den mächtigsten und einflussreichsten Menschen in der römisch-katholischen Kirche zählt, einmal wöchentlich zum verabredeten Termin mit mir. Bei diesen Gesprächen sollte die Vergangenheit wieder lebendig und ein prüfender Blick auf ihr Leben geworfen werden.

Für Mutter Angelica waren diese Besuche Tapferkeitsübungen. Es ist schon eine große Sache, einem Neuling die Erlaubnis zu geben, die eigene Lebensgeschichte zu durchstöbern. Er ist von Anfang an im Nachteil und weiß nur, was das geschriebene Wort ihm vermittelt. Als ich die Gesprächsserie begann, kannte ich Mutter Angelica jedoch bereits persönlich, da ich schon seit fünf Jahren bei ihr angestellt war. Ich war ihr nahe gewesen in guten und in schlechten Zeiten, in der Öffentlichkeit, aber auch im privaten Umfeld. Seit zwei Jahren begleitete ich ab und zu ihre beliebte Fernsehsendung Mother Angelica Live und fungierte als Direktor der Nachrichtenabteilung des von ihr gegründeten Senders. In gewisser Weise war sie wie eine Großmutter für mich – eine Großmutter, bei der ich mich ungewöhnlich wohl und mit ihr verwandt fühlte. Unsere gemeinsame italienische Herkunft hat sicher dazu beigetragen. Wir konnten über alles reden und gingen auch gelegentlichen Reibereien nicht aus dem Weg.

„Wir hatten einmal Streit miteinander“, vertraute Mutter Angelica einem Freund in meiner Gegenwart an, „Raymond hat aber keinen Gebrauch davon gemacht“. Trotz mancher Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten standen wir uns doch nahe. Aus meiner besonderen Stellung heraus konnte ich Mutter Angelica sehen, wie sie wirklich war: eine einfache Frau mit tiefer Spiritualität, die sich bemühte, Gottes Willen zu erfüllen und ihre persönlichen Schwächen zu überwinden.

Allmählich erkannte ich jetzt die andere Mutter Angelica, die sich jenseits des Eisengitters hinter dem engelsgleichen Gesicht verbarg. Rita Rizzo, das kränkliche Mädchen, das lediglich einen Abschluss an der High School geschafft, sich ihren Weg aus der Armut herausgekämpft und EWTN (Eternal Word Television Network), den weltweit größten religiösen Fernsehsender, im Alleingang aufgebaut hatte – ihr war es geglückt, während die gesamten Bischöfe der Vereinigten Staaten (und auch etliche Millionäre) daran gescheitert waren. Dies hier war eine moderne Teresa von Avila, ein brennendes Feuer, die freimütig redete, einen tiefgreifenden Glauben und eine absolute Entschlossenheit besaß, um Hindernisse zu überwinden, die die meisten Menschen lahmgelegt hätten. Sie hatte die Diskriminierung als Frau, Bankrott und Übernahmeversuche von Unternehmen und von kirchlicher Seite abgewehrt, um „den Menschen“ eine moralische Wegweisung zu geben. In körperlicher Hinsicht hatte diese leidgeplagte Dienerin einen mystischen Tanz von Schmerzen und göttlicher Vorsehung durchgestanden. Es war ein ungeheuer hoher Preis, der verblüffende und erstaunliche Belohnungen einbrachte. Diese Frau, die Papst Johannes Paul II. einmal als „schwach im Körper, aber stark im Geist“ bezeichnete, hat um des wahren Glaubens willen Kardinäle und Bischöfe öffentlich herausgefordert und in der nachkonziliaren Phase ein traditionelles und allgemein verständliches Bild der Kirche über den Sender verbreitet. So wurde sie zu einem ökumenischen geistigen Leuchtturm für Millionen.

Und doch bleibt sie selbst für ihre unzähligen Bewunderer ein Rätsel. Wie konnte dieses vernachlässigte, zurückgezogene Kind geschiedener Eltern zu einer der meistverehrten und meistgefürchteten Frauen in der katholischen Welt aufsteigen? Wie konnte eine in Klausur lebende Nonne den Äther erobern, obwohl sie keine Erfahrung auf diesem Gebiet hatte? Wie konnten denn Magenbeschwerden, beschädigte Rückenwirbel, ein vergrößertes Herz, chronisches Asthma, Lähmungen und verbogene Gliedmaßen ihre Mission voranbringen? Woher nahm sie die Kraft für ihre wohlbekannten öffentlichen Kämpfe mit der kirchlichen Hierarchie über Glaubenspraxis und Frömmigkeit? Wie konnten ihr Fernsehsender und ihr Orden so wachsen, während andere zusammenbrachen? Und, am wichtigsten, wie wird ihre Botschaft heute in der katholischen Kirche aufgenommen und welche Auswirkungen wird sie auf die Zukunft haben?

Solche bohrenden Fragen sowie meine Kenntnis von Teilen ihrer noch im Verborgenen liegenden Geschichte brachten mich zu der Überzeugung, dass eine vollständige Biografie über Mutter Angelica notwendig und die Zeit dafür reif war. Voll ängstlicher Erwartung näherte ich mich dieser Frau selbst, weil mir vollkommen klar war, dass ihre Beteiligung an diesem Projekt angesichts der ständigen Anforderungen ihres Senders sowie ihrer Verpflichtungen als Leiterin einer religiösen Gemeinschaft vermutlich nur minimal sein würde. Angelicas Reaktion war typisch für sie und kam unverzüglich: „Warum fangen wir nicht einfach an und sehen, was passiert?“ Da sie schon immer in ihrem Leben jede bedeutende Initiative mit Vertrauen auf die göttliche Vorsehung begonnen hatte, ließ sie sich auch auf dieses Vorhaben, das in ihr Innerstes eindringen sollte, mit totalem Einsatz ein.

Wir beschlossen, dass dies keine autorisierte Biografie werden sollte, und dass ich allein für die redaktionelle Bearbeitung und Interpretation verantwortlich sei. Erwartungsgemäß gewährte mir Mutter Angelica komplette journalistische Freiheit. Sie wollte mir mehrere Stunden lang an den Wochenenden oder nach der Direktübertragung ihrer eigenen Sendung für ausführliche Gespräche zur Verfügung stehen, wenn es ihre Zeit erlaubte. Es sollte keine Frage tabu und kein Thema zu heikel sein. Sie unterstützte mich uneingeschränkt bei meinen Nachforschungen, gewährte mir einen ungehinderten Zugang zum Archiv ihrer Gemeinschaft, zu ihrem persönlichen Briefwechsel, zu ihren Freunden, Ärzten und den Schwestern des Klosters Unsere Liebe Frau von den Engeln. Die Chronistin der Klostergemeinschaft, Schwester Mary Antoinette, wurde meine stärkste Verbündete. Sie beantwortete geduldig meine Fragen, gab mir entscheidende Informationen und erduldete meine Anrufe zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Und dann, nur wenige Wochen nach dem letzten Gesprächstermin für diese Biografie und nach der letzten Direktübertragung ihrer Sendung, erlitt Mutter Angelica einen schweren Schlaganfall. Er beraubte sie ihrer Sprache und versiegelte ihr Gedächtnis, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass sie jemals wieder ein Interview wird geben können. Keinesfalls werden Gespräche mit einer solchen Tiefgründigkeit und Intimität möglich sein, wie wir sie in der Vergangenheit geführt hatten. Ohne es zu wissen, hatte ich Mutter Angelicas letztes Testament aufgenommen, das letzte Wort über ihr ungewöhnliches Leben.

Eines Abends, kurz vor der Direktübertragung ihrer Sendung, gab sie mir nur eine einzige Instruktion mit auf den Weg, die mir bis auf den heutigen Tag nachgeht: „Achten Sie darauf, dass Sie mich so darstellen, wie ich wirklich bin. Es gibt nichts Schlimmeres als ein Buch, das die Wahrheit über eine Person mit einem Zuckerguss überzieht und den wirklichen Menschen verdeckt. Wenn Sie das machen, wünsche ich Ihnen vierzig Jahre im Fegefeuer!“

In der Hoffnung, von diesem schändlichen Ende verschont zu bleiben, habe ich ein Buch geschrieben, das Strittiges oder auch die scheinbaren Widersprüche nicht vermeidet, die zu Mutter Angelicas Charakter dazugehören: die kontemplative, in Klausur lebende Nonne, die zur Welt spricht; die eigenständige Frau, die Regeln bricht und die als „sture Konservative“ verspottet wird; die treffsichere Komikerin, die fast ständig unter Schmerzen leidet; die Klarissin, die ein Multi-Millionen-Unternehmen betreibt.

Dies sind die Erinnerungen von Freund und Feind gleichermaßen, von allen, die ich ausfindig machen konnte und die jemals ihren Weg gekreuzt hatten. Kritische Bemerkungen über Mutter Angelica werden hier ebenso ohne Zögern dargestellt wie ihre erstaunlichen Fernsehproduktionen und deren Weiterentwicklung.

Um einem solchen Leben wie dem von Mutter Angelica gerecht zu werden, ist es notwendig, Rückblicke einzublenden. Nur so kann man die Verflechtungen von Schicksal und Gnade erkennen, die dieses höchst ungewöhnliche Leben formten. Wie bei uns allen geschah auch im Leben von Mutter Angelica nichts in einem Moment. Ihre Geschichte zeigt die äußerst schmerzhaften, verworrenen und für den Außenstehenden verrückten Schritte, die schließlich zu einem glücklichen Ende führten. Der innere Antrieb zu ihrer Lebensgeschichte liegt jedoch im Kämpfen – ein Kämpfen, das zum größten Teil verborgen blieb oder im Laufe der Zeit untergegangen ist.

Während der vergangenen fünf Jahre bin ich ihrem geistlichen und weltlichen Leben von Canton in Ohio bis nach Hanceville in Alabama nachgegangen. Dabei habe ich Menschen und Geschichten zutage gefördert, die Mutter Angelica schon längst vergessen hatte. Ich wog ihre Stärken und ihre Schwächen ab und entdeckte einen Glauben, der heutzutage selten geworden ist. Ich glaube, dass dieses Mosaik das vollständigste Bild von Mutter Angelica abzeichnet – sowohl von innen als auch von außen.

Im April 2001 begann Mutter Angelica, sich nach einem besonders strapaziösen Gesprächstermin sanft in die Ruhe ihres Klosters zurückzuziehen. Damals drehte sie sich auf der Türschwelle wie ein kokettes junges Mädchen noch herum und schlug mit einer Hand auf den runden Türrahmen. „Sie wissen jetzt genauso viel über mich wie der liebe Gott“, sagte sie mit einem spitzbübischen Lächeln. „Aber es gibt noch einige Dinge, die sogar Sie nie erfahren werden.“

„Sie haben aber nichts dagegen, wenn ich weiterhin versuche, sie herauszufinden?“, fragte ich.

Sie kicherte fröhlich und verschwand im Flur.

Hier folgen nun ihre freimütigen Erinnerungen, das Ergebnis meiner Nachforschungen und noch einige Dinge, von denen weder Mutter Angelica noch ich annahmen, sie jemals ans Tageslicht zu bringen.

Raymond Arroyo New Orleans, 2005

Mutter Angelica

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