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Die Befreiung der Gefangenen

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Im Herbst 1953 hatten elf Novizinnen St. Klara verlassen, um dem strengen Regiment von Schwester Mary Immaculata, der Novizenmeisterin, zu entkommen. Die Nonnen, die in dieser „extrem strengen“ Umgebung zurückgeblieben waren, litten an Darmerkrankungen, Weinkrämpfen und Gefühlen des Unwürdigseins. Die dauernden Verweise und das unnötige Hervorheben von kleinen Schwächen führte bei einer der Schwestern zu einem Nervenzusammenbruch und ebnete den Weg für einen weiteren. „Es war so eine Art Sklaverei“, wie es Schwester Raphael nannte.

Als Schwester Mary Immaculata zu achttägigen Exerzitien fuhr, bat die Äbtissin Schwester Angelica, ihre Stelle einzunehmen.

Im November 1953 schritt Angelica mit einem frohen Optimismus in das Noviziat, der genau das Gegenteil der gedrückten Stimmung war, die normalerweise auf der zweiten Etage in St. Klara herrschte. Acht Tage lang war Schwester Angelica für die religiöse Unterweisung und Ausbildung sowie für den Tagesablauf der Novizinnen verantwortlich. Sie betonte Gottes Liebe für die Schwestern und ermutigte jede Einzelne, sich Ihm ganz hinzugeben.

Schwester Raphael, die damals Novizin war, „war sehr erbittert“ darüber, dass Angelica die Novizenmeisterin ersetzte. Nachdem sie versucht hatte, sich an die starre Struktur des Ordenslebens anzupassen, wie diese von Mutter Mary Immaculata aufgebaut wurde, hatte man es nun mit der Außenseiterin der Gemeinschaft zu tun, die etwas völlig anderes einführte. Schwester Raphael wollte nichts damit zu tun haben, und sie benahm sich „unmanierlich, um es gelinde auszudrücken“.

In dieser ersten Woche ließ Angelica nichts unversucht, um das Vertrauen der Novizin zu gewinnen, jedoch hatte dieses Bemühen wenig Erfolg. „Lassen Sie mich in Ruhe“, konnte Schwester Raphael sagen. „Ich will Ihre Hilfe nicht.“ Wenn die Anforderungen des Klosterlebens zu anstrengend wurden, zog sich Raphael in ihr Schneckenhaus zurück und verbarg sich in ihrer Zelle. Schwester Angelica hatte das schon vorher einmal gesehen. Um die junge Frau herauszuholen, schob sie eines Tages einen Zettel unter Raphaels Tür. Als sie keine Antwort erhielt, griff sie zur Selbsthilfe und betrat das Zimmer der Novizin. Raphael lag zusammengerollt unter ihrer Zudecke und weinte vor Selbstmitleid. „Sie kommen jetzt hier raus“, sagte Angelica, riss ihr die Betttücher weg und zog auch noch die Matratze unter ihr heraus. Raphael, hingestreckt auf dem Fußboden, fing an zu lachen – und damit war der Funke für eine lebenslange Freundschaft entzündet.

Angelica führte Raphael und die anderen Novizinnen in die Welt der geistlichen Klassiker ein, mit denen sie sich in ihrem Ordensleben beschäftigt hatte. Einen besonderen Schwerpunkt legte sie auf den hl. Johannes vom Kreuz und seine „dunkle Nacht der Seele“ – eine Zeit der geistlichen Trockenheit auf dem Weg zu einer tieferen mystischen Vereinigung mit Gott. Ganz nach dem Geist von Bruder Lorenz von der Auferstehung wurden die Schwestern angeleitet, die „vollständige Hingabe an Gott“ zu praktizieren und „das Glück im Tun Seines Willens zu finden, ganz gleich, ob Er uns führt… durch Leiden oder durch Tröstung.“ Sie führte Beispiele aus dem Leben der Heiligen als Vorbilder für ein religiöses Leben an. Schwester Angelica lehrte, dass die Heiligen „nicht gegen die Regeln verstießen, sondern einfach über sie hinauswuchsen“. Joan Frank dachte darüber nach: „Und anscheinend sah sie sich auch selbst so: Sie ragte über die Norm hinaus.“

In den acht kurzen Tagen trat eine Veränderung im Noviziat ein. Ein befreiendes, mitreißendes Licht drang plötzlich in das verkrampfte Leben der jungen Nonnen ein. Mit ihren lebendigen Vorträgen über die Hingabe an die göttliche Vorsehung und über das tägliche und fortwährende Gespräch mit Gott schmiedete Schwester Angelica dauerhafte Freundschaftsbande mit Schwester Joseph, Schwester Raphael und den anderen.

Als die Exerzitien von Mutter Mary Immaculata zu Ende gingen und sie wieder ins Kloster zurückkehrte, gaben einige der Novizinnen an, sich mitten auf dem „Weg der Reinigung“ in ihrem Gebet zu befinden, während andere gerade die „dunkle Nacht der Seele“ durchlitten. Angelica hatte also ihre Spuren hinterlassen. Doch Mutter Mary Immaculata war nicht gerade begeistert.

Bei der Rückkehr von Mary Immaculata und der Wiedereinführung ihrer harten Methoden erlitt Schwester Raphael „einen kleinen Nervenzusammenbruch“, der im Krankenzimmer endete. Zu dieser Zeit war Angelica gerade für die Kranken zuständig. In dieser Zeit war den Schwestern nach der Ordensregel jeglicher Kontakt mit den Novizinnen untersagt. Doch wer kümmerte sich schon im Krankenzimmer darum? Dort überwachte Angelica auch weiterhin Schwester Raphaels geistliches Leben. Wie die Novizin selbst zugab, half Angelica ihr, den „Fallstricken, in denen sie gefangen war“ zu entkommen.

Da sie um die Probleme im Noviziat wusste, fing Schwester Angelica ruhig an, auch die anderen Novizinnen zu bemuttern. Wenn ihr eine junge Schwester deprimiert vorkam, flüsterte sie ihr beim Vorbeigehen im Gang zu: „Jesus liebt dich.“ Wenn eine Novizin von Mutter Mary Immaculata zurechtgewiesen wurde, bemerkte Schwester Angelica: „Mir passierte das andauernd, als ich Novizin war“, erinnerte sich Joan Frank.

Um das Elend der Novizinnen ein wenig zu lindern, erlaubte Mutter Clare insgeheim, dass Angelica die geistliche Führung einiger der jungen Schwestern übernahm. Da sie wusste, dass die älteren Nonnen eine solche Ausnahme von der Ordensregel infrage stellen würden, bestand sie auf einer diskreten Abwicklung.

Schwester Michael erinnerte sich daran, dass Mutter Clare sie 1953 persönlich gefragt hatte, ob sie eine geistliche Führung von Schwester Angelica wünschte. Die junge Nonne lehnte das Angebot ab und kehrte zu ihrem normalen Tagesablauf zurück.

Es war die freundliche Schneiderin, Schwester Joseph, die Angelicas erste geistliche Tochter werden sollte. Sie trafen sich heimlich hinter einer Gartenlaube, dort, wo der Rasen aufhörte. Auch der Holzschuppen auf dem Grundstück der O’Deas diente als Treffpunkt, denn Schwester Michael zufolge „kam normalerweise kaum eine der Schwestern dorthin“.

Selbst mit ihrem verletzten Rücken, der nun auch ihre Körperhaltung in Mitleidenschaft zog, rannte Schwester Angelica durch das Klostergebäude, um Termine mit ihren geistlichen Schützlingen einzuhalten. Schwester Raphael und Schwester Assumpta kamen von dem im oberen Stockwerk gelegenen Nähzimmer zu Unterweisungen in Angelicas Zelle. Schwester Joseph saß dann im Nähzimmer, ließ ruhig ihre Nadel durch den Stoff gleiten und hielt Ausschau. „Ich sollte der Wachhund sein, während sie geistliche Anleitung gab“, verriet Schwester Joseph.

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen bemerkte Mutter Mary Immaculata aufgrund eines Hinweises bald die geheimen Sitzungen. Sie hielt der Äbtissin vor, dass Angelica im Geheimen die geistliche Führung der Novizinnen übernommen hatte. Dies war ein Verstoß gegen die Ordensregel. Mutter Clare verschwieg die Wahrheit und leugnete, Angelica angewiesen zu haben, die Nonnen zu unterweisen und rief die Beschuldigte in ihr Büro.

Bei einem Gespräch, das jemand mitgehört hatte, erzählte Schwester Angelica Mutter Clare unter Tränen, dass die älteren Schwestern „über sie herfielen“ und sie sehr verletzt hatten. Die Äbtissin tröstete Angelica, forderte sie auf, sich die Tränen abzuwischen. Dabei gestand sie vertraulich, dass „Gott aus irgendeinem Grund die Gemeinschaft nicht segnete“. Wohl um die Situation zu retten und die Novizinnen zu schonen, erlaubte die Äbtissin Angelica, ihre geistliche Führung weiter auszuüben.

In aller Ruhe und trotz der Beschwerden bestimmte Mutter Clare Schwester Angelica für den Weg der Führungsrolle innerhalb der Gemeinschaft. Ihr Vorankommen wurde nur durch die zunehmende Verschlechterung ihres Rückenproblems und durch Rivalitäten innerhalb des Klosters behindert. Doch im Glauben sollten diese offenkundigen Hindernisse sie zu einem Lebenswerk und einem Ziel leiten, das so unergründlich war wie Gott selbst.

Mutter Angelica

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