Читать книгу Mutter Angelica - Raymond Arroyo - Страница 19

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Jeden Freitag wurden die Botschaften, die Rhoda Wise bei ihren schmerzhaften Ekstasen empfing, von ihren Anhängern gierig verschlungen. Wie menschliche Telegrafen verbreiteten ihre Verehrer die wöchentlichen Botschaften weit über die Grenzen Cantons hinaus. Für Gläubige waren es Mitteilungen des Allmächtigen. Mutter Agnes, die Äbtissin des Klosters St. Paul, hielt sich selbst auch für eine solche Gläubige.

Eines Nachmittags, als Schwester Rita noch Postulantin war, wurde sie ins Büro der Äbtissin gebeten.

„Beleidigt dich hier jemand?“, fragte Mutter Agnes besorgt und schaute dabei prüfend durch ihre mit Draht eingefasste Brille.

„Nein, Mutter Oberin.“

„Denk nach“, hakte die Äbtissin mit ihrem abgehackten deutschen Akzent nach. „Beleidigt dich hier irgendjemand?“

„Nein“, erwiderte Schwester Rita. Es klang, als würde sie eines Verbrechens angeklagt, das sie nicht begangen hatte.

„Bist du ganz sicher?“

„Ja, Mutter Oberin.“

„Nun, dann weiß ich auch nicht weiter.“ Mutter Agnes zeigte einen besorgten Gesichtsausdruck.

„Schwester Agnes hatte Frau Wise besucht, als diese die Todesqualen der Passion Christi erlitt, und der Herr sagte zu ihr: ‚Sag‘ Rita, jeder kleinste Kummer wird aus ihrem Herzen getilgt werden. Für jede Beleidigung, jeden Herzenskummer gibt es mehr Sterne.‘“ Weder Schwester Rita noch Mutter Agnes konnten zu dieser Zeit die Botschaft entschlüsseln, doch die Sterne tauchten auf.

Im Frühling 1945, an Ritas zweiundzwanzigstem Geburtstag, besuchte Mae Francis ihre Tochter endlich und konnte mit ihr durch das Fenstergitter im Empfangszimmer sprechen. Sie erzählte von zu Hause, sprach von den Kämpfen, die sie beide überstanden hatten und über das Leben, das Rita gewählt hatte. Mae vermisste ihre Tochter, doch sie erkannte die Sinnlosigkeit, gegen Ritas Berufung anzukämpfen. In einem Tagebucheintrag, den sie noch am selben Abend verfasste, gab sie ihre Tochter frei:

20. April 1945

An den König der Könige im Allerheiligsten Altarsakrament Eure Majestät,

heute übergebe ich Dir meine geliebte Tochter an ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Ich gebe Dir frohgemut, was Du wolltest und was Du in meine Obhut gegeben hast. Ich habe versucht, mein Bestes zu geben, als ich sie großzog, so gut ich es konnte. Vergib mir, lieber Herr, heute all die Beleidigungen, die ich Dir angetan habe. Ich danke Dir auch für die tiefe Wunde, die Du in mein Herz gesenkt hast. Ich bitte Dich, schütte an allen Tagen ihres Lebens viele Gnaden und viel Segen über sie aus und segne auch all jene, die Du als ihre Vorgesetzten ausgewählt hast. Ich segne sie auch, denn ich bitte Dich demütig nur um die Brosamen, denn ich weiß, dass Du mich liebst. Ich bitte Dich heute demütig um die Gnade, Dich immer mehr zu lieben und um die Gnade, viele Seelen für Dich zu gewinnen.

Deine Neue Mutter

Nachdem Rita Maes Segen bekommen hatte, sehnte sie sich nach ihrem Hochzeitstag. Monate vergingen, doch die Erlaubnis kam einfach nicht. Mutter Angelica glaubt, sie wäre zumindest bei zwei Anlässen fast aus dem Kloster hinausgeworfen worden. Jeden Monat stellten die Schwestern ihre Hingabe zum klösterlichen Leben wieder infrage. Und jeden Monat war Rita fest entschlossen, ihre Absicht, im Kloster zu bleiben, durchzusetzen und zu verfechten.

Als der erste Jahrestag ihres Eintritts in den Konvent immer näherrückte und ihre Knie wie Melonen angeschwollen waren, beschloss Mutter Agnes, dass der Ortsbischof über ihr Schicksal entscheiden sollte. Normalerweise hätten die Professschwestern bei einer Kapitelwahl entscheiden müssen, ob Rita für das Noviziat geeignet war. Doch in diesem Fall wusste Mutter Agnes wohl, dass Rita die erforderliche Dreiviertelmehrheit nicht bekommen würde, damit sie Novizin werden konnte. Deshalb schritt sie persönlich ein und verschob die Kapitelwahl, indem sie eine Stimme von außerhalb hinzuzog.

Pfarrer Floyd Begin, Beauftragter des Bischofs und späterer Weihbischof von Cleveland, traf Schwester Rita im Sprechzimmer. Er fragte sie, weshalb sie im Kloster bleiben wollte. Rita betonte, dass sie ihrer Berufung folgen wolle und dass sich ihre angeschwollenen Knie zu gegebener Zeit schon bessern würden. Offensichtlich war Pfarrer Begin von ihrer Ernsthaftigkeit beeindruckt. So erlaubte der Bischof Schwester Rita, weitere sechs Monate im Kloster zu bleiben. Während dieser Zeit sollte sie von den Nonnen genauer geprüft werden.

Um ihre Knie zu schonen, benützte Rita sie so wenig wie möglich und ging ihren Verpflichtungen nach. Aber einige der Professschwestern bemerkten doch, dass sich nichts verbesserte.

In dieser sechsmonatigen Probezeit rief Mutter Luka einmal Rita zu sich ins Krankenzimmer. Sie war eine kleine Frau mit einer bedauernden Miene, die vor ihrem Ordensleben Apothekerin gewesen war und nun die Krankenstation betreute. Sie war gebildeter als die anderen Professschwestern, sprach aber Englisch mit demselben deutsch gefärbten starken Akzent.

Mutter Luka warnte sie: „Schwester Rita, Sie müssen sich hinknien, sonst werden Sie nach Hause geschickt.“

„Aber schauen Sie sich doch nur meine Knie an!“, flehte Rita.

„Sie sehen furchtbar aus, aber da kann ich wirklich nichts tun.“ Die alte Nonne hatte Mitleid, blieb aber hart. „Bitte, knien Sie hin!“

Schwester Rita befolgte den Rat. Indem sie ihr Gewicht auf ihre Schienbeine verlagerte, schaffte sie es, während der täglichen Gebetszeiten und auch sonst immer wieder zu knien. Ohne Rücksicht auf die Schmerzen, die sie als Preis ertragen musste, war sie entschlossen, ihren Platz in der Gemeinschaft zu halten.

Ihre Strategie ging auf. Im Oktober 1945 stimmten mehr als drei Viertel der Professschwestern für Schwester Rita, sodass sie den Schleier nehmen und ins Noviziat eintreten konnte.

Später mutmaßte Mutter Angelica: „In meinem Herzen glaube ich, dass Mutter Agnes so handelte, weil sie Frau Wise vertraute und sie gerne mochte. Sie hatte diese Worte ‚je mehr Beleidigungen, desto mehr Sterne‘ gehört. Ich glaube, das war der einzige Grund, warum das Kapitel für mich stimmte und ich die Ordenstracht bekommen konnte.“

Die Hochzeit begann am 8. November 1945. Mae Francis traf früh ein und brachte eine Torte und Blumen mit. Ihre Schwägerin Rose hatte für diesen Anlass ein Hochzeitskleid genäht. Als besondere Würdigung verzichtete Mutter Agnes auf ihr Recht, Ritas Ordensnamen auszusuchen und gewährte Mae diese Ehre. Mae wählte den Namen Angelica, weil Rita nach ihren Worten eine „engelhafte und gehorsame Tochter“ gewesen war.

Bischof Joseph Schrembs war der Zelebrant bei der Einkleidung. Dies verlieh der Feier einen entsprechenden Glanz. Im vorletzten Augenblick erhob sich die Äbtissin mit einer Schere in der Hand, um Ritas letzte Verbindung mit der Welt zu zerschneiden. Ihre braunen Locken fielen auf den Boden der Kapelle. Die Nonnen streiften nun Ritas Hochzeitskleid ab und ersetzten es durch eine braune Kutte, ein Skapulier und einen weißen Schleier. Das heilige Gewand hüllte jeden einzelnen Teil von Rita Rizzo ein, ebenso die Liebe, die sie für ihren Bräutigam empfand. Für Rita war dies keine bloße verstandesmäßige Verbindung, sondern der Beginn eines lebenslangen Bundes – einer innigen persönlichen Erfahrung der Vereinigung mit Jesus Christus. Ihre Mutter, ihr Onkel und die Freunde saßen auf der Seite der Kapelle, die für die Öffentlichkeit zugänglich war. Als eine Art Zeichen der Zustimmung schluchzten sie alle. Wie sie nun hinter dem Gitter stand, sah sie bis auf ihr strahlendes Antlitz aus wie alle anderen.

Rita Rizzo gab es nun nicht mehr. An ihrer Stelle stand jetzt Schwester Mary Angelica von der Verkündigung.

Um dies zu feiern, verbrachte Schwester Angelica den Nachmittag mit ihrer Mutter im Sprechzimmer. Dieses Treffen gab den Anstoß zu dem nachstehenden Brief, der in der darauffolgenden Nacht geschrieben wurde:

An die Mutter der Braut Jesu, meine eigene liebe Mutter,

heute wurde Dir und mir die größtmögliche Ehre zuteil. Es wäre schon eine Ehre, mich mit einem irdischen König zu verheiraten, doch mit dem König der Könige vermählt zu werden, ist eine Ehre, die nicht einmal die Engel erfassen können. Wir werden bis zu dem Tag warten müssen, an dem die Ewigkeit für uns beide anbricht, um zu erkennen, was das bedeutet. Er hätte so viele andere Seelen auf der Welt erwählen können, die weitaus besser sind als ich, doch Seine Augen hat Er auf Dich und auf mich gerichtet. Es ist so, als wäre Er durch eine Wiese mit wunderschönen Blumen gegangen und hätte sich im Vorübergehen viele schöne Blumen angesehen und dann plötzlich innegehalten und ein Blümchen gepflückt, das so schwach war und kaum sein Köpfchen hochhalten konnte. Und dann ging Er weiter, denn Er hatte Seine Wahl getroffen. Es muss so sein, denn niemand auf Erden braucht Ihn jeden Augenblick des Tages mehr, als wir Ihn brauchen. Lass uns daher den Rest unseres Lebens damit zubringen, Ihm zu danken, Ihn zu loben und Ihn zu lieben. Kann irgendein Opfer jemals für uns, da Er uns immer in Seinen Armen hält, zu schwer sein?

Sollten wir nicht mit geistlicher Freude erfüllt sein, wenn wir wissen, dass die liebenden Augen Gottes auf uns ruhen?

Möge mein süßer Bräutigam Dich ganz nahe an Seinem Heiligsten Herzen halten. Es gibt keine Einsamkeit für Dich, wenn Du Seiner süßen Gegenwart und der Deines Engels gewahr wirst.

Noch einmal möchte ich Dir Dank sagen, dass Du mich auf die Welt gebracht hast, dass Du so gut für mich gesorgt hast, für Deine vielen Opfer, für all Deine Liebe und Hingabe, danke für alles. Möge ich mich einer solchen Mutter würdig erweisen. An diesem Tage der Tage bitte ich um Deinen Segen, dass ich zu dem werden möge, wozu Jesus mich bestimmt hat.

Dein Dich liebendes Kind und Braut Jesu,

Schwester Mary Angelica

Das auf das Kloster beschränkte Leben brachte die Unzulänglichkeiten der dort Eingeschlossenen zutage. Die einzelnen Temperamente, der familiäre Hintergrund, die Bildung und die Begabungen unterschieden sich von Schwester zu Schwester so sehr, dass es immer wieder zu Auseinandersetzungen kam. Es wurden Gefühle verletzt und Missgunst gesät. In diesem Mikrokosmos des Lebens bemühten sich die Nonnen, ihre persönlichen Schwächen zum Wohl der Gemeinschaft zu bekämpfen. Schwester Angelica bildete da keine Ausnahme. Um ihren Zorn und ihre schnelle Zunge unter Kontrolle zu halten, war sie zu Bußübungen bereit. Es war jedoch eine strengere Disziplin erforderlich, um ihre Ungeduld zu zügeln, vor allem, wenn sie bestimmten Schwestern begegnete.

„Einmal sagte ich zum Herrn: ‚Egal, was heute passiert, ich werde auf Biegen und Brechen meine Geduld nicht verlieren‘“, erinnerte sich Mutter Angelica. „Und um 9 Uhr kam es dann zum Biegen und Brechen. Ich habe es nicht geschafft. Ich versagte!“

Im Herbst 1945, als bereits Pläne gemacht wurden für ein neues Kloster in New Orleans, rief der Bischof der Diözese Youngstown, James McFadden, Mutter Agnes zu sich. Er hatte einen anderen Vorschlag.

John O’Dea, der im Ruhestand lebende Eigentümer eines Stahlwerks in Canton, wollte sein Haus und seinen Besitz an einen kontemplativen Orden verschenken. John und Ida O’Dea stellten nur eine Bedingung: Im Haus sollte die ewige Anbetung des Allerheiligsten Altarsakramentes gehalten werden. Nach reiflicher Überlegung nahm Mutter Agnes das Angebot an, ließ die Pläne für das Kloster in New Orleans fallen und machte sich daran, sechs Nonnen auszuwählen, die sie mit der Neugründung in Canton betrauten wollte. Mutter Mary Clare, die Vizeoberin in Cleveland, sollte Äbtissin des Klosters in Canton und Mutter Luka ihre Stellvertreterin werden.

Die Äbtissin rief Schwester Angelica „von den geschwollenen Knien“ in ihr Büro. Mutter Agnes wandte sich mit ernster Miene an die Nonne und sagte: „Mutter Clare und ich haben eine Entscheidung getroffen.“ Schwester Angelica stellte sich schon die schrecklichsten Dinge vor, wie zum Beispiel: Sie müssen nach Hause zurückkehren. Sie haben keine Berufung. Ihre Gesundheit ist ein Punkt… Die Äbtissin fuhr fort: „Mutter Clare glaubt, dass die Treppen der fünf Stockwerke hier im Haus Ihre Knieprobleme verursachen, sodass wir entschieden haben, Sie in unsere Neugründung nach Canton zu schicken.“

Unter normalen Umständen kamen nur Professschwestern für eine Neugründung infrage, und eine Schwester in ihre Heimatstadt zu versetzen, war streng verboten. Doch dies waren eben keine normalen Umstände. Entweder verbesserte sich Angelicas Zustand, oder sie würde aus dem Ordensleben ausgeschlossen.

Canton sollte demnach ihre letzte Chance sein: die Arena, in der ihre Berufung auf die Probe gestellt und ein abschließendes Urteil gefällt werden würde. Mit Befürchtungen, jedoch im Gehorsam nahm Schwester Angelica die Versetzung an.

Mutter Angelica

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