Читать книгу Mutter Angelica - Raymond Arroyo - Страница 8

Prolog

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Im Jahre 2001 ließ sich die zusammengekrümmte Äbtissin am Morgen des Heiligen Abends in dem bereitstehenden Rollstuhl nieder und versuchte, ihre Töchter zu beruhigen. Schon seit Wochen hatten die Schwestern jede einzelne ihrer Bewegungen gespannt verfolgt und immer gehofft, ihre Wachsamkeit könnte die nächste Erkrankung oder einen Rückschlag irgendwie abwehren oder aufschieben. Angefangen von den Blicken der Verzweiflung, die sich die Nonnen gegenseitig zuwarfen, bis hin zu der Fürsorge, die sie ihr zuwandten, wenn sie stolperte oder auch nur zögerte: In all dem konnte sie die Sorge der Schwestern spüren. „Heute kommt Jesus“, verkündete sie an diesem Morgen mit ruhiger und entschiedener Stimme. Sie deutete auf den Gang und wies die Schwester an, sie aus der Zelle zu schieben. „Ich werde in die Kirche gehen, um dort auf Ihn zu warten.“

Lange musste sie dort nicht warten.

Als sie an den verschlossenen Türen des langen Klosterganges vorbeifuhr, in dem man nur das Rascheln der Ordenstrachten der Schwestern vernahm, sah die alte Nonne aus, als ob sie gerade von einem Fronteinsatz aus einer ausgedehnten Schlacht heimgekehrt wäre. Und vielleicht war es ja auch so. Öffentlich ausgetragene Kämpfe mit einem Kardinal und ihrem Ortsbischof, eine Überprüfung vonseiten des Vatikans, der Tod einer neunundvierzigjährigen Freundin aus dem Kloster sowie anhaltende gesundheitliche Probleme hatten Ende 2001 ihren Tribut von Mutter Mary Angelica gefordert. Selbst die Millionen Menschen, die sie jede Woche mit dem Fernsehen in ihre Wohnungen einluden, hätten sie nicht mehr erkannt. Eine Schlinge hielt Mutter Angelicas zerschmetterten rechten Arm. Sie war einige Tage zuvor gestürzt. Eine Augenklappe bedeckte ihr herunterhängendes linkes Auge, das sie seit einem Schlaganfall im vergangenen September nicht mehr schließen konnte. Und ihr Mund, der einmal selbst Bischöfe erbeben ließ und der den Verirrten auf den sieben Kontinenten das Heil brachte, hing traurig herab und entstellte das einst so vergnügte Antlitz. Angelica war nunmehr zu einer lebendig gewordenen Ikone des „heilbringenden Leidens“ geworden, von dem sie ihren Schwestern so oft gepredigt hatte.

Eine der jungen Schwestern, die schon ihre Gelübde abgelegt hatte, schob Mutters Rollstuhl in der Klosterkapelle vorsichtig über den polierten Fußboden aus grünem Marmor und Jaspis. Der vertraute Duft von honigsüßem Weihrauch umfing sie jetzt. Von den bunt verglasten Kirchenfenstern der Kirche schauten die dort abgebildeten Engel auf sie herab und entboten ihren Gruß, als die Sonne von der Ostseite hereinstrahlte. Die Äbtissin war in die sich ständig verändernden Farben dieser Engel getaucht, und so rollte sie ihrem Bräutigam entgegen. An diesem Morgen war sie zu schwach gewesen, um ihre Ordenstracht anzulegen. Deshalb erschien sie pflichtbewusst in einem cremefarbenen Gewand und einer passenden Skimütze, um Ihm zu huldigen. Sie trug die Zeichen, die Er zugelassen hatte.

Trotz ihrer körperlichen Verfassung war keine Bitterkeit bei ihr zu erkennen, als sie sich der fast zweieinhalb Meter hohen Monstranz näherte, in der die konsekrierte Hostie ausgestellt war. Dort war ihr Herr und Erlöser, der hoch über dem Zentrum der Kirche thronte, die sie für mehrere Millionen Dollar für Ihn hatte erbauen lassen. Für ihren Herrn war nichts zu viel. Die jetzigen Wunden waren lediglich neue Opfergaben, die sie Ihm darbrachte. Lange hatten sie miteinander unter Schmerzen kommuniziert, sie und ihr Bräutigam. Sie spürte, wie Er sie berührte, und ließ es zu. Sie hatte ja gelernt, dass sich im Schmerz – durch den Schmerz – Wunder ereigneten, wenn sie es nur fertigbrachte, Ihm vollkommen zu vertrauen und sich den Fügungen Seiner Vorsehung zu unterwerfen.

Nach der Messe und dem Rosenkranzgebet verließen die Schwestern nach und nach die Kirche. Einsam bewegte sie schwach ihren Kopf nach oben, richtete ihr gesundes Auge auf Christus im Allerheiligsten Altarsakrament, wie sie es schon siebenundfünfzig Jahre lang in ihrem Ordensleben getan hatte. Dann kam Er ganz zu ihr.

Ihr Kopf kippte plötzlich zur Seite, als wäre er aus Beton gegossen. Erschöpft und verwirrt wanderten Angelicas Augen zur Decke.

„Mutter Angelica, ist alles in Ordnung?“, fragte Schwester Faustina. „Mutter Angelica?“

Mutter Angelica antwortete nicht. Schwester Faustina fragte sich, warum sie einen solch verstörten Gesichtsausdruck hatte. War ihr Blutzucker abgefallen? Spielte ihr Diabetes verrückt? Warum konnte sie nicht mehr klar schauen? Die Schwestern standen um sie herum, riefen ihren Namen und versuchten, irgendeine Reaktion zu erhalten. Ein großes Glas Orangensaft wurde herbeigebracht, um ihren Blutzucker zu stabilisieren. Sie trank es ganz aus. Aber es half nicht. Die Nonnen brachten Mutter Angelica eilig in ihre Zelle zurück, um ihre lebenswichtigen Funktionen zu überprüfen.

Auf dem Gang trafen sie, noch im Nachtgewand, Schwester Margaret Mary. Sie war zeitweise Mutter Angelicas Krankenpflegerin, da sie für die Ausgabe der Medikamente verantwortlich war und der Neunundsiebzigjährigen mit allgemeinen gesundheitlichen Ratschlägen beistand. Als sie die verwirrte Äbtissin erblickte, brachte sie ihre schlimmsten Befürchtungen zum Ausdruck: „Sie hatte einen Schlaganfall“, sagte Margaret Mary wie benommen.

Zurück in ihrer Zelle, hatte Mutter zwar einen ganz normalen Blutdruck, sie schafften es jedoch nicht, sie durch eine Sauerstoffmaske wiederzubeleben. Schwester Mary Catherine, Mutters Stellvertreterin und damit die Zweite in der Rangfolge hinter Mutter Angelica, entschied, sie in das nahe Cullman-Bezirkskrankenhaus bringen zu lassen. Die einstündige Fahrt nach Birmingham wäre zu lang gewesen. Man lud die Äbtissin in einen Krankenwagen und fuhr schnell zum Krankenhaus.

Außer dem andauernden Nach-Luft-Schnappen und dem unkontrollierten Augenrollen war sie völlig teilnahmslos.

Im Krankenhaus wurden eine ganze Reihe von Tests vorgenommen, während die Schwestern beteten. Endlich betrat Dr. L. James Hoover mit verlegenem Ausdruck den Warteraum. Er trug einen festlich aussehenden roten Pullover, der bei diesem Anlass fast lächerlich wirkte. Mit den Händen in seinen Hosentaschen wirkte er irgendwie hoffnungslos.

„Wir können nichts für sie tun“, sagte Hoover gedehnt, als wollte er sich entschuldigen. „Sie hatte einen Schlaganfall und eine Gehirnblutung.“

„Und was wird jetzt geschehen?“, fragte Schwester Margaret Mary.

Der Arzt wich dem Blick der Nonne aus. „Sie wird einfach hinüberdämmern. Einer von hundert Patienten sind Kandidaten für eine Operation, doch in ihrem Alter und Zustand…“

Die Nonnen begriffen sofort, welche schreckliche Entscheidung sie treffen mussten, entweder nichts zu tun und mit anschauen zu müssen, wie ihre Oberin ihnen entglitt, oder die Fahrt nach Birmingham zu riskieren, um dort eine gefährliche Hirnoperation durchführen zu lassen, die sie womöglich nicht überleben würde. Während die schwerwiegende Entscheidung getroffen wurde, lag die Frau, die das weltweit größte religiöse Medienimperium aufgebaut hatte, im Koma in der Notaufnahme des Krankenhauses. In der Vergangenheit war sie schon so oft durch viele Wunder gerettet worden. Jetzt stand sie selbst an der Schwelle zur Ewigkeit, zu der sie anderen seit Langem den Weg gewiesen hatte.

Irgendwo in den Tiefen ihres angeschlagenen Bewusstseins fasste Mutter Angelica wohl unbewusst den Entschluss, den Kampf aufzunehmen. Wie schon immer wollte sie sich jetzt in der Verzweiflung in die Hände Gottes fallen lassen. Für Mutter Angelica gab es keinen anderen Weg.

Mutter Angelica

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