Читать книгу Das schillernde Leben des O.K. - Reimer Loop - Страница 10
Im Kutscherhaus
ОглавлениеDas Kutscherhaus kam Ole so winzig vor, und auch das Schloss drüben hatte er viel größer in Erinnerung. Dann erst Wohnküche und Wohnstube, in diesen winzig kleinen Räumen hatte sich einst das ganze Leben abgespielt, und es spielte sich immer noch dort ab. Sogar zwei Generationen hatten hier zur gleichen Zeit gelebt. Auch wenn Besuch da war, empfand Ole es nie zu eng. Es hatte sich wenig geändert seit damals. In der Küche wurde der Herd noch immer mit Holz befeuert und auf der anderen Seite war noch immer die Eckbank von damals. Auch das Bild darüber mit den lustigen Zechern hatte die Zeiten überlebt. In der Wohnstube nebenan war das alte Sofa gegen ein modernes zum Klappen ausgetauscht worden, damit hier jetzt auch zwei Besucher schlafen konnten. Vom Stil her nicht so ganz passend, aber eben praktisch. In der Ecke neben dem kleinen Kachelofen stand auch noch der alte Lehnsessel mit dem ovalen Tisch und der Familienbildergalerie an der Wand, die jedoch um einige Exponate erweitert worden war. Auch das Klavier hatte noch seinen Platz in der Enge des kleinen Raums. Neu war der Farbfernseher gegenüber auf der alten Kommode. Ja, und andere Tapeten mit großen Blumenmustern, registrierte Ole.
„Du siehst, hier hat sich nicht allzu viel verändert. Aber ein richtig schönes Duschbad mit Waschbecken und WC haben wir bekommen.“
Felix führte Ole stolz durch das angrenzende Schlafzimmer zu einer gegenüberliegenden Tür, hinter der sich der wahre Luxus in Form eines kleinen gekachelten Duschbades offenbarte.
„Heute muss ich mich nicht mehr in der Küche waschen und auch nicht mehr nach draußen, wenn ich auf die Toilette will, besonders nachts ist es angenehm. Aber du kennst das sicherlich auch von Amerika.“
„Ja, ja, bei uns ist das auch so.“
Als Felix ihn ein wenig wichtig durch die Wohnung führte, war Ole still geworden. Er dachte dabei an den verschwenderischen Luxus, in dem er lebte. Er dachte an die Konferenzen und Besprechungen, denen er vorstand, in denen er alles in Frage stellte, in denen er ständig auf gewinnbringende Neuerungen setzte und seine Mitarbeiter immer wieder herausforderte. Und das hat er automatisch auch in sein Privatleben übertragen. Hier in Radow war die Zeit stehen geblieben, und die Menschen, das betraf zumindest Felix, schienen glücklich zu sein. So stellte Ole sich die Frage, was denn wohl leben bedeutete: War sein Luxusleben normal oder das hier im Kutscherhaus?
„Aber gemütlich ist es hier“, meinte er dann, und es klang ehrlich.
„Ich sagte dir ja schon, dass wir nicht wissen, was mit dem Schloss passiert und ich hier möglicherweise raus muss, wenn alles verkauft wird, nachdem wir es uns so schön eingerichtet und neu tapeziert haben, wäre ich natürlich traurig.“
„Ach Felix, dafür wird es sicherlich eine Lösung geben.“
„Und du, wo wohnst du denn hier?“
„In Berlin, im Hotel.“
„Das ist aber teuer. Du kannst doch auch hier bei mir schlafen.“
Ole lächelte.
„Ach, ich möchte dir nicht zur Last fallen, jedenfalls so plötzlich noch nicht. Außerdem bin ich ja auch nicht allein hier nach Deutschland gekommen, wir sind zu viert.“
„Du kannst mir gar nicht zur Last fallen, das weißt du auch. Na, überlegst dir. Möchtest du Kartoffelsuppe? Schöne Kartoffelsuppe? Elke hat etwas für mich mitgekocht.“
„Danke, gerne. - Was ist mit dem kleinen Mansardenzimmer oben?“ fragte Ole im Ton um Gleichgültigkeit bemüht.
„Das ist Elkes Reich. Geh man ruhig mal rauf, du kennst es ja noch. Ich mache inzwischen die Suppe warm“, schmunzelte Felix wobei er schon das Herdfeuer entfachte. Ole stieg die steile Treppe in der Küche über dem Kellerniedergang hinauf, an dem Zimmer vorbei, in dem früher Felix geschlafen hatte, dann über den Gerümpelboden hin zur Mansarde, die einst das Liebesnest von Elke und ihm gewesen war. Wieder klopfte sein Herz, als er sich anschickte, die Tür zu öffnen. Da hatte sich absolut nichts verändert war sein erster Eindruck. Auf dem Tisch vor dem winzigen runden Fenster standen ein kleines Foto, auf dem er mit Elke unten am See sitzt, das gleiche Foto übrigens, dass ihn bis nach Vietnam begleitet hatte, und daneben eine kleine Vase mit frischen Feldblumen. Die konnte nur Elke erst kürzlich da hin gestellt haben. Sonst war alles picobello sauber und genau so, wie einst an seinem letzten Tag in Radow. Da der alte Volksempfänger, der damals verbotenerweise auf einen Westsender eingestellt war, und mit dem sie regelmäßig den englischen Sprachunterricht im Schulfunk gehört hatten. Rechts unter der Schräge standen noch die Liege mit der glatt gezogenen, rosa Tagesdecke und das selbst gebastelte Bord, mit dem alten Koffergrammophon, auf dem die betagte Schellackplatte ‚La Traviata’ lag. Wie oft hatten sie die verkratze Platte damals gespielt, sich dabei eine Zukunft voller Leidenschaft vorgestellt und nichts und niemand sollte sie je trennen, das hatten sie sich geschworen. Ja, die Blumen konnte nur Elke vor kurzem hingestellt haben. Weil Marlen auf dem Sterbebett noch seine Heimkehr prophezeit hatte? Zum zweiten Mal stiegen ihm Tränen in die Augen und Ole setzte sich für einige Minuten auf die Liege und versank in Melancholie, bis er schnell wieder hinaus ging, um seine Beherrschung nicht abermals zu verlieren.
Dass Felix so nett zu ihm war, konnte er nicht begreifen, denn Ole hatte eine derartige Angst vor dem Wiedersehen und nun war alles eitel Sonnenschein! Hatte er sich denn so verändert?
„Sag mal, war Elke heute schon bei dir?“
„Nein, gestern nach der Beerdigung war sie eine ganze Zeit oben, und heute ist sie für ein paar Tage zu ihrer Cousine an die See gefahren. Wieso?“
„Ach, nur so.“
„Als wir gestern an Marlenes Grab standen bist du doch da vorbei gegangen in Schwarz mit zwei Männern? Elke und ich haben dich beobachtet und geglaubt, ein Gespenst zu sehen, denn deine Mutter Marlen hat doch immer gesagt, dass der Junge zurückkommt. Und ausgerechnet während der Beerdigung gehst du da so dunkel gekleidet vorbei. Wir haben mit niemandem weiter darüber gesprochen, damit sie uns nicht für verrückt halten.“
„Als wir da vorbei gingen, wusste ich nicht, dass Mutter gestorben war und auch nicht, dass sie krank war. Das haben mir erst später die Jungen unten am See gesagt. Ich wollte keine Unruhe in die Feier bringen, falls mich jemand erkannt hätte. Das kannst du mir glauben.“
„Ich glaub dir ja, aber Elke hat es ganz schön durcheinander gebracht, mich natürlich auch. Dann ist sie hier ins Kutscherhaus gekommen und nach oben gegangen, aber ich hab mich weiter nicht um sie gekümmert.“
„Ist Elke verheiratet oder so ähnlich?“
Auf diese Frage hatte Felix schon gewartet, denn umgekehrt wollte er Ole das nicht als erster fragen.
„Nein, einmal wollte sie unbedingt jemand einfangen, aber dann hat Marlen gesagt, dass du doch wieder kämst. Und du, bist du verheiratet oder so ähnlich?“
„Nein, weder noch.“
„Was waren denn das für Männer gestern bei dir?“
„Der Schwarze, das war Joe, mein Freund, und der andere war Walter, mein Mitarbeiter.“
„Du hast auch noch einen Mitarbeiter?“
„Ja“.
Felix schien aber gar nicht so recht zu registrieren, was Ole denn mit Mitarbeiter meinte. Er wolle Ole nicht weiter löchern und stellte zwei Suppenteller mit Goldrand, an die sich Ole auch noch gut erinnerte, und legte zwei Löffel auf die geblümte Wachsdecke des Küchentisches. Dann nahm er den Suppentopf vom Herdfeuer, rührte noch einmal mit der Kelle um und füllte Ole einen großen Schlag auf den Teller.
„Möchtest du noch ein Stück Brot dazu?“
„Vielen Dank, nein, so viel schaffe ich aber nicht.“
„Doch, das schaffst du schon.“
Diesen letzten Satz hatte all die Jahre nicht mehr gehört und es klang wie Musik in seinen Ohren: ‚Das schaffst du schon’. Die Suppe schmeckte ihm so lecker, dass er ruck zuck den Teller leer hatte. Wann hatte er seit damals je wieder einen so schmackhaften Eintopf gegessen?
„Siehst du, nun hast du es doch geschafft. Möchtest du noch etwas?“
„Aber nur ein ganz klein wenig.“
„Sag mal, Elke kann aber gut kochen.“
„Ja, Elke kann gut kochen.“
Die beidden gingen hinüber in die Wohnstube und Ole betrachtete Ole Bild von Elke.
„Sie ist aber eine fesche Lady geworden. Dass sie keinen Mann hat, verstehe ich nicht. Und wer ist das da neben ihr?“
„Sie wollte keine feste Beziehung. Aber, dass sie wie eine Nonne gelebt hat, das glaube ich auch nicht.“
Noch einmal zeigte Ole auf eine kesse Blondine mit Pferdeschwanz.
„Und wer ist das hier?“
„Das ist meine Enkeltochter“, erklärt Felix stolz und lachte Ole voll ins Gesicht. Der überlegte eine Weile, setzte sich auf das neue Sofa und:
„Du spinnst! Wieso überhaupt deine Enkeltochter? Hast du denn überhaupt Kinder?“
„Ja.“
Felix lachte noch immer, aber jetzt, weil Ole ein so verdutztes Gesicht machte und ihn so ungläubig ansah. Ob der Draufgänger denn auch mit seiner Elke etwas hatte?
„Was ist mit dir und Elke? Ich dachte immer, du wolltest was von ihr, weil du sie ständig bemuttert hast und mich nur ihretwegen akzeptiert hast“
Felix wurde ernst und sah Ole dabei in die Augen.
„Elke und ich, das ging nicht. Heute, wo dein Vater Heinz tot ist, kann ich es dir sagen. Elke ist meine Tochter. Es weiß aber niemand außer uns. Ich war damals siebzehn und deine Mutter eine erwachsene Frau.“
„Was, du und meine Mutter? Das kann doch nicht wahr sein!“
„Doch, warum soll ich dir hier Geschichten erzählen? Aber vielleicht ist es jetzt der richtige Zeitpunkt, dass du es erfährst.“
„Elke ein Kuckucksei. - Ist sie dein einziges Kind?“
„Ja. Ich glaube, ja“, und wieder war da sein bübisches Lächeln.
„Das bedeutet, dass Elke die Mutter deiner Enkeltochter ist? Aber wer ist denn der Vater deiner Enkeltochter?“
„Du hast aber eine lange Leitung! Junge überleg doch mal, sie hatte bis heute keinen Vater, weil alle glaubten er sei tot. Und jetzt?“
Ole verschlug es die Sprache. Er ließ sich zurück ins Sofa fallen, wobei Felix ihn erwartungsvoll ansah.
„Dann ist also damals doch etwas passiert?“
„Natürlich. Ihr beide konntet ja nie genug bekommen, und dann ist eben ein kleines Kerlchen vom ersten Schuss beim zweiten Angriff auf die Wanderschaft gegangen.“
„Heute bin ich auch schlauer“, sagte Ole nachdenklich, wobei die schönen Stunden mit Elke von damals kurz an seinen Augen vorbei zogen.
„Dann war sie also schwanger, als ich abgehauen bin? Das habe ich bestimmt nicht gewusst. Für euch war es sicherlich ein Drama?“
„Es hielt sich in Grenzen. Ich glaube, sie war schon im vierten Monat, als sie sich schließlich deiner Mutter anvertraut hat. Wir haben alle zusammen gehalten und die Kleine gemeinsam großgezogen“, antwortete Felix fast sachlich. Doch dann nahm Ole das Bild von der Wand und fiel seinem Freund um den Hals.
„Ich bin Vater! Ich habe eine Tochter! Das gib es nicht! Wie heißt meine Tochter?“
„Violetta.“
„Violetta?“
„Ja, nachdem du damals verschwunden warst, kam Elke ständig hier her, ging stumm nach oben in die Mansarde und spielte stundenlang die verkratzte La Traviata Platte und verschwand wieder, bis Marlen mir irgendwann anvertraute, dass die kleine Elke schwanger sei.“
Ole konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er zuletzt Tränen in den Augen gehabt hatte, und jetzt war er den ganzen Tag am Heulen. Ihm wurde bewusst, wie gefühlsarm er all die Jahre nur den Geschäften nachgejagt war. Gut, er hatte sich auch viel Zeit für Muße genommen und über alles Mögliche nachgedacht, vor allem, wenn er mit der Segelyacht unterwegs gewesen war, aber die Gefühlsregungen der letzten Tage waren ihm völlig fremd geworden. Plötzlich war er Papa, sein Freund Opa, und dazu war er sozusagen auch noch sein Schwiegervater. Am liebsten wäre er da allein, um mit sich ins Reine zu kommen, aber nein, das ging nicht und er bemühte sich, cool zu bleiben und sich abzulenken.
Ausgehend davon, dass er bei Felix keinen Espresso bekommen würde, fragte Ole nach einer Tasse Kaffee als Abschluss der vorzüglichen Suppe. Felix warf noch etwas Holz ins Herdfeuer, setzte den Wasserkessel auf und bereitete konventionell zwei Tassen guten Bohnenkaffee zu, denn der war für die Ossis jetzt nach der Wende immer noch etwas Besonderes. Nachdenklich saß Ole zurückgelehnt mit verschränkten Armen wieder am Küchentisch und beobachtete Felix, wie scheinbar zufrieden der alte Mann so einfache Dinge verrichtete und ertappte sich dabei, wie er im Gedanken schon wieder alles umkrempeln und modernisieren wollte. Schließlich stellte Felix die beiden Kaffeebecher, Ole schwarz, Felix mit viel Milch, auf den Tisch.
„Wollen wir uns bei dem schönen Wetter nicht draußen auf die Bank setzen?“
„Natürlich“, stimmte Felix zu.
Die Bank hinter dem Kutscherhaus mit Blick nach Westen über den See, war damals schlechthin das kleine Kommunikationszentrum für die Leute im und um das Kutscherhaus. Hier wurde auch schon ausgesprochen, was weder im tausendjährigen Deutschen Reich noch in der Deutschen Demokratischen Republik nicht einmal gedacht werden durfte. Hier wurde philosophiert, geträumt und gehofft, geliebt und geweint. Hier saß auch schon die jüdische Familie, die die Jodelts im Keller versteckt hatten, bevor man ihnen zur Flucht über Schweden nach Amerika verhalf. Immer wieder hatten die damals bei Sonnenuntergang sehnsuchtsvoll in die Abenddämmerung rezitiert: „Da, wo die Sonne unter geht, da ist Amerika.“
Da wollten sie hin. Fortan sollte dieser Satz Ausdruck sein für das vergebliche Verlangen aus dem staatlichen Getto in die Welt zu fliegen. Auch bei Elke und Ole hatte Felix die Sehnsucht geweckt, waren hier dem Fernweh verfallen und paukten Englisch mit Felix, ohne ihm zu sagen, dass sie es sich fest vorgenommen hatten, sobald sie volljährig wären, wollten sie ihre Reisepläne realisieren und abhauen. Doch dann kam die Mauer.
„Ich habe nicht geglaubt, dass ich hier noch einmal mit dir sitzen würde“, sagt Felix, als er das Tablett mit den Kaffeebechern auf den roh gezimmerten Tisch stellte.
„Ich auch nicht“, kam es von Ole zurück, wobei er erleichtert daran dachte, dass ihm heute doch eine alte Last vom Herzen genommen worden war und nur gut, dass er mit niemandem über seine albern ängstlichen Gedanken zuvor gesprochen hatte. Felix machte ihm die Rückkehr wider erwarten so leicht und schenkte ihm darüber hinaus noch eine Tochter, dazu noch eine so hübsche. Wie Elke und Violetta wohl auf seine Heimkehr reagieren würden, doch Ole lenkte sich ab:
„Woran ist eigentlich Mutter gestorben?“ fragt er nach einer Weile.
„Sie hatte Krebs.“
„Und mein Vater?“
„Dein Vater hatte einen Unfall mit dem Fahrrad unten im Dorf und ist mit seinem Kopf so unglücklich auf einen Stein geschlagen, dass er sofort tot war. Er war ziemlich betrunken.“
„Ja, ja, er war häufig blau, und dann konnte er ein unberechenbarer Tyrann sein“, antwortete Ole ruhig.
„Wir alle haben ihn aber doch ein wenig verkannt. Deine Mutter hat nach seinem Tod seinen Nachlass studiert, denn er hatte sehr viel, auch Vertrauliches, aufgeschrieben und in den Sockeln seines Schreibtisches versteckt. Er war zunächst wegen seiner Nazivergangenheit, und dann nachdem du rüber gemacht hast, gezwungen worden, als Informant für die Stasi zu arbeiten. Das wusste natürlich keiner. – Aber letztlich wirklich verraten hat scheinbar auch niemanden.“