Читать книгу Das schillernde Leben des O.K. - Reimer Loop - Страница 7
Aufgestaute Wut
ОглавлениеEs war still im Wagen auf der Rückfahrt zum Hotel, denn die Erinnerungen hielten Oles Gedanken gefangen. Diesen Weg hatte er damals auf seiner Flucht in der Nacht mit dem Fahrrad genommen, und heute ließ er sich hier auf derselben Straße in einer Luxuskarosse chauffieren. Tausend Dinge gingen ihm wieder und wieder durch den Kopf, doch er bemühte sich, seine Gefühle zu beherrschen.
Sie kamen an die Stelle, wo er sich damals als Siebzehnjähriger in die Spree gleiten ließ, um nach Westberlin zu flüchten und ließ den Fahrer halten.
„Halt hier Grenze“, sagte der spontan, ein wenig scherzhaft, ironisch. Ole schwieg eine Weile, wobei er stumm durch die Windschutzscheibe aufs andere Ufer starrte. Wieder sah er im Geiste die Scheinwerfer über das Wasser gleiten, und wieder spürte er, wie sie ihn ins Visier nahmen. Hatte man ihn damals überhaupt angerufen, oder hörte er gleich die Maschinengewehre und wie die Geschosse um ihn herum einschlugen bis eins seine Schulter traf und gleich darauf eins seinen Kopf streifte? Und wieder war da der kurze Schmerz, denn gleich danach hatte er die Besinnung verloren. – Obwohl er es schon herausgefunden hatte, fragte Ole monoton:
„Ossi oder Wessi“, wobei er mit dem Finger auf den Fahrer zeigte, ohne ihn dabei anzusehen.
„Ossi“, antwortete er mit einem leichten Grinsen, weil sein amerikanischer Gast diese Bezeichnungen benutzte. Der war ein paar Jahre älter und könnte theoretisch damals auch ein Grenzschütze gewesen sein, überlegte Ole ruhig und fragte in reinem Deutsch:
„Hier sind die Flüchtlinge rüber nach Westen geflohen?“
Der Fahrer stutzte, war sein Gast gar kein Amerikaner?
„Ja, hier haben sie es auch versucht.“
„Was waren das für Leute and warum?“, versuchte Ole die Einstellung des Fahrers zu ergründen.
„Kriminelle, Deserteure, die wohl keine Lust zum Arbeiten hatten, Republikflüchtlinge eben.“
„Alle?“
„Na ja, warum sollten sie sonst die DDR verlassen.“
„Dann habt ihr auf sie einfach geschossen?“
„Ja, das waren ja Republikflüchtlinge, Staatsfeinde sozusagen“.
„Warum? Warum habt ihr die Staatsfeinde nicht einfach laufen lassen?“
Keine Antwort. Der Fahrer wusste es nicht. Wie sollte er heute die kommunistischen Argumente für Republikflucht erklären. Diese Form von Konversation wurde ihm äußerst unangenehm und dann:
„Weiß nicht.“
„Warum habt ihr sie einfach tot geschossen, warum? Komm, sag es!“
Ole kochte, weil er merkte, dass neben ihm einer von denen saß, die er zu tiefst hasste und bedrängte ihn weiter:
„Du hast auch geschossen, was?“
„Nein, ich nicht“.
„Nein, ich nicht, Nein, ich nicht, immer nur die anderen!“
Wieder keine Antwort. Dem Fahrer wurde diese Fragerei immer unangenehmer und überlegte, wie er diesen Dialog beenden könnte. Hätte er sich doch nur nicht diesen, anfangs so netten Amerikanern, geoutet. Oles ganze Wut richtete sich jetzt stellvertretend gegen diesen Mann für alles, was man ihm damals angetan hatte. Unterschwellig machte er ihn dafür verantwortlich, dass die Mutter gestorben war, bevor Ole sie noch einmal in den Arm nehmen konnte und ihr alles sagen konnte, was ihn die vielen Jahre bewegte. Nach einer Weile angespannter Ruhe im Wagen zischte Ole den Fahrer an:
„Komm, steig aus!“.
Der stieg aus, während Ole langsam seine Tür öffnete und vor den Wagen trat. Er zog seine Jacke aus, warf sie auf die Motorhaube, dann seine Krawatte. Er knöpfte sein Hemd auf, zog es aus und zeigte ihm die Narbe auf dem Rücken, wobei er in der anderen Hand das Hemd hielt und den Kutscher dabei anbrüllte:
„Hier, das wart ihr erbärmlichen Kommunistenschweine. Genau hier im Wasser wolltet ihr mich umbringen. Und du hättest mit Sicherheit auch geschossen oder hast es sogar getan. Ihr seid doch alles Arschlöcher und bleibt unverbesserliche, faule Kommunistenarschlöcher. Was habt ihr mit meiner Heimat und den Menschen hier gemacht?“
Oh, ein ehemaliger Landsmann! Der Fahrer war geschockt und wollte noch was sagen.
„Halts Maul!“ herrschte Ole ihn an und „zum Hotel“, wobei er sein Hemd wieder anzog und in die Hose steckte. Seine Krawatte knotete er während der Fahrt wieder zurecht. Funkstille. Dann drehte Ole sich zu den beiden im Fond um. Walter blickte wie erstarrt, Joe sah ihm in die Augen und schmunzelte. Er kannte Ole zu gut, er kannte auch seine Geschichte und wusste, dass er sich normalerweise nicht wirklich aufregte, aber heute? Ihm schienen der heutige Tag und der Tod seiner Mutter wirklich sehr nahe gegangen zu sein.
Zurück im Hotel sagte Ole an Walter gewandt:
„Den Kerl will ich nicht mehr sehen.“
„Das war mir schon klar“, kam es monoton zurück. Ann hatte die drei schon in der Halle erwartet. Ole und Joe setzten sich in eine ruhige Ecke, während Ann und Walter zur Rezeption gingen, um die eingegangene Korrespondenz zu holen. Ole griff in die Brusttasche und zog sein Zigarrenetui heraus.
„So, jetzt wollen wir aber erst einmal in Ruhe unsere Cohiba rauchen, die uns heute Morgen vergönnt war“.
Als Ann und Walter sich zu ihnen setzten meinte Joe:
„Zum Lunch ist es nun wohl zu spät. Sollen sie uns ein paar nette Häppchen machen.“
„Burger?“, fragte Ann schmunzelnd.
„Untersteh dich! Mit der Burgerproduktion werden sie hier wohl Schwierigkeiten haben“, warf Walter ein und bestellte zwei Whisky mit Eis zur Zigarre, zwei Milchkaffee und ein paar ‚nette Häppchen’.
Wohl nie hatte Ole anderen von sich erzählt, nur Joe kannte ein paar Begebenheiten und Anekdoten. Damals in Vietnam, als beide wochenlang am Boden zerstört und allein hinter den feindlichen Linien im Dreck gelegen hatten und jeden Tag glaubten, es sei ihr letzter. Ja, damals hatten die beiden sich gegenseitig vieles aus ihrem jungen Leben, das noch nicht einmal zwanzig Jahre alt war, anvertraut und sich gegenseitig das Versprechen abgenommen, irgendjemanden aus ihrem bisherigen Dasein, der ihnen nahe gestanden hatte, über die letzten gemeinsamen Stunden zu berichten. Was die beiden damals allerdings noch inniger verband war die Tatsache, dass beide eigentlich niemanden hatten, der sie vermissen würde, der um sie weinen würde, und dem sie gegebenenfalls hätten etwas mitteilen können. Wenn überhaupt, so hätten sie allenfalls damals nur noch in einer Gefallenenstatistik eine Rolle gespielt. Joe, der Neger aus dem schwarzen Ghetto in Chicago, dessen Vater als irgendein Freier seine Mutter geschwängert hatte, als sie noch minderjährig ihr Geld auf der Straße verdiente. Joe, der dann irgendwo bei der einen oder anderen Tante und zuletzt im Heim aufgewachsen war, für den würde keiner ein trauriges Gesicht aufsetzten. Ja vielleicht die Jungs aus der Kneipe, wo er in der Jazzband spielte, ja die würden ihren Freund vermisst haben. Und Ole, der Immigrant aus Deutschland, der doch überhaupt noch kein richtiger Amerikaner und der von vielen in die Nazischublade gepackt worden war, dessen Bürge es schon bereut hatte, ihn in die Staaten mitgenommen zu haben, nein, über Oles Ableben hätte auch keiner eine Träne vergossen. Doch schließlich hatten beide die Hölle überlebt und waren heil zurückgekehrt. Und heute war Ole wieder dort, wo er einst behütet aufgewachsen war, wo er hoffte, alles das wieder zu finden, wonach er sich im Unterbewusstsein all die Jahre gesehnt hatte.