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Tränen der Freunde

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Den Morgen begannen alle vier mit Joggen, Schwimmen im Hotelpool und dem gemeinsamen Frühstück in Oles Suite. Ann und Walter wollten, wie schon vereinbart, sich mit der Treuhand Gesellschaft in Verbindung setzen und sich mit verschiedenen Projekten befassen. Joe nahm sich die Stadt vor und wollte Kirchen und andere Kultureinrichtungen besichtigen, wozu er sich von Frau Seidel an der Rezeption einen englischsprachigen Guide mit Auto bestellt hatte.

„Heute Abend zum Dinner werden wir ja noch einen deutschen Gast dabei haben, den Reimer, den Joe und ich auf Antigua kennen gelernt hatten. Also, dann wieder um sieben Uhr.“

Ole vergrub sich wieder hinter der Morgenpresse, worauf die anderen drei die Suite verließen.

In legerer Freizeitkleidung, kariertem Hemd, Jeans und Windjacke, lenkte Ole zwei Stunden später seinen Golf in Richtung Radow. Schon lange nicht mehr war er so ganz alleine unterwegs. Zu seinem persönlichen Schutz begleitete ihn ständig jemand, aber das war nicht der Grund an jenem Morgen, weshalb er sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut fühlte. Es war auch nicht sein Reiseziel, sondern es war was ihn dort erwarten könnte. Aber Ole fuhr einfach weiter zum Grab seiner Mutter, egal er wollte kein Feigling sein. Da ihm das Frühstück am Morgen nicht so recht geschmeckte hatte, hielt er unterwegs an einer Würstchenbude, eine von vielen, durch die sich die BRD-Neubürger nach der Wende eine goldene Nase erwirtschaften wollten. Einsilbig bestellte Ole und schweigend vertilgte er eine Bratwurst. Wenn er sonst für einen Smallunch mal einen Imbiss ansteuerte, dann suchte er auch meist den Kontakt zu den anderen Gästen, wie beispielsweise zu den Truckern, die ihm dabei erzählten, wo der Schuh drückte, wie die Arbeit sei, wie ihre Chefs, was sie transportierten und, und, und. Auch bei anderen Gelegenheiten wie in Hotels suchte er häufig ein kurzes Gespräch mit den Pagen oder Zimmermädchen und erfuhr dabei nicht selten mehr, als manchem Vorgesetzten lieb sein konnte, denn er hatte ein besonderes Talent entwickelt, unaufdringlich die Menschen auszufragen. Besonders gern praktizierte er es auch in seinem eigenen Unternehmen, denn nur wenige kannten den Chef persönlich.

An dem Morgen jedoch war ihm nicht danach, er war still, nachdenklich, in sich gekehrt. Nach dem Erlebnis vom Vortag mit dem Chauffeur an der ehemaligen Grenze nahm Ole die vorübergehenden Menschen anders wahr. Er sah bewusst in ihre Gesichter. Gehörten die zu den Peinigern oder zu den Gepeinigten? Was die wohl in den letzten Jahren für einen Job gemacht hatten? Waren sie Spitzel oder nur kommunistische Opportunisten? – Doch schließlich fragte er die hagere Imbissfrau nach einem Blumengeschäft. Ja, nicht weit gäbe es ein ganz ordentliches, meinte sie. Im Laden angekommen erklärte die Verkäuferin, dass die roten Rosen ganz frisch aus Holland seien.

„Die nehme ich.“

„Wie viele?“

„Alle, und die Vase.“

Die Verkäuferin zögerte, doch Ole machte einem guten Preis und fuhr mit dem Gesamtangebot davon.

Als Radow in Sicht kam hielt er oben auf dem Mühlenberg, stieg aus und setzte sich auf die überwachsenen Trümmer der alten Windmühle, auf die die Russen bei Kriegsende Übungsschießen veranstaltet hatten, und sah vergeistigt hinunter auf das verträumte Dorf, auf den See und auf das Schloss. Wie sehr liebte er doch noch immer dieses Fleckchen Erde, wie glücklich war er hier einst gewesen, und wie viele liebevolle Erinnerungen hatte er hier einst zurück gelassen. Und jetzt an diesem herrlichen Frühlingstag wirkte das alles noch anheimelnder, noch rosiger. Wenn er nun umdrehte, könnte er dieses Bild und seine schönen Erinnerungen ungetrübt in seinem Herzen behalten. Wenn er aber dort hinunter führe, wenn er alte Wunden aufrisse, wenn man ihn wegen seines Verhaltens zum Teufel jagte, ja was wäre dann? Ole ärgerte sich im Stillen, dass er so sentimental sein konnte, seit er wieder in seine alte Heimat zurück gekehrt war. Wieso, wer sollte ihn denn überhaupt zum Teufel jagen, ihn, den großen Ole Kosche?

Er rollte hinunter und versuchte sich mit dem Auto über das holprige Kopfsteinpflaster durch das Dorf hin zum Friedhof zu schleichen. Dort parkte er den Wagen unauffällig ein Stückchen vom Eingang weg im Schatten unter den alten Eichen. Auf dem Weg zum Friedhof wurde ihm plötzlich wieder klar, wie albern und feige er sich benahm, denn was sollte denn überhaupt passieren? Konnte man ihn denn hier und heute noch belangen wegen irgendwelcher Vergehen von damals? Er hatte sich doch im Grunde überhaupt nichts zu Schulden kommen lassen, außer dass er damals einfach davon gelaufen war. Das Regime und die Partei waren schließlich gestorben. Wieso sein Unbehagen? Aber seine Leute von damals? Oder konnte es eine unterschwellige Reaktion darauf sein, dass er als Baby schon einmal von seinem Geburtsort fliehen musste? Dass er damals hier in seiner neuen und schließlich einzigen Heimat so liebevoll aufgenommen worden war, und dass er sich am Ende ohne ein Wort des Dankes so einfach bei Nacht und Nebel feige aus dem Staub gemacht hatte? Hatte er jetzt Angst, seine Kindheit ein weiteres und vielleicht letztes Mal zu verlieren, weil jene, die er damals enttäuschte ihm ihre Gefühle verweigern könnten? Obwohl er merkte, wie unsinnig seine Gedanken waren, so konnte er doch nicht gegen sein Gefühl ankämpfen.

Auf dem Friedhof war zu der mittäglichen Stunde ruhig und niemand zu sehen, nur eine Amsel verzauberte harmonisch die Gräberidylle mit ihrem Flötenkonzert. Wie in Trance geisterte Ole weiter, wobei er unbewusst die Inschriften auf den Steinen las, ohne sie wirklich zu registrieren. Vor dem Grab seiner Mutter blieb er stehen und starrte auf den frischen Blumenschmuck. Seine Vase mit den Rosen hielt er wie erstarrt in den Händen, bis er nach einigen Minuten plötzlich fürchterlich an zu heulen begann.

„Warum hast du nicht auf mich gewartet?“ stammelte er nur und setzte sich gegenüber auf die Bank unter der kleinen Trauerbirke. „Warum?“

Er weinte wie ein kleiner Junge und dachte nicht darüber nach, ob er sich seiner Tränen schämen sollte, er, der mittlerweile doch ein Hardliner geworden war. Dann ließ Ole die Vase mit den Rosen vor sich auf den Boden gleiten, stützte seinen Kopf nach vorn gebeugt in die Hände und ließ, immer noch weinend, Episoden seiner Kindheit Revue passieren. Was würde er dafür geben, wenn er noch einmal mit seiner Mutter reden könnte, doch alles Geld der Welt konnte nun mal die Zeit nicht anhalten oder zurück drehen. War er doch sonst stets rastlos, so vergaß er hier die Zeit und wie ein Karussell wieder und wieder kreisten die Erinnerungen durch seinen Kopf.

Auf dem schmalen Pfad, der hinten am Friedhof hin zur Landstraße führte, vorbei an den an den Gärten der Siedlungshäuser, kam ein älterer Herr in einem unaufdringlichen Grauoutfit mit Schlapphut herüber, die linke Hand auf dem Rücken, in der anderen einen hölzernen Handstock, in Gedanken versunken den Blick auf den Boden gerichtet. Als er die kleine, schmiedeeiserne Seitentür zum Friedhof quietschend öffnete, entdeckte er, dass jemand am Grab seiner geliebten Marlen saß. Der Alte kam näher, blieb stehen, musterte von weitem den Besucher und ging wieder weiter. Ohne aufzusehen erkannte Ole den Schritt des Ankömmlings, der schließlich wenige Schritte andächtig vor ihm am Grab halt machte. Das konnte nur Felix sein. Einen Spalt breit öffnete Ole die Finger vor seinen Augen und sah die rechte Fußprothese. Ja, das war sein alter Freund Felix! Wie versteinert blieb er sitzen, noch immer mit den Händen vor dem Gesicht, als hatte er nichts gehört. Andächtig stand Felix eine Weile an dem Grab, drehte darauf ein wenig neugierig seinen Kopf zur Seite dem auf der Bank mit dem großen Rosenstrauß zu und räusperte sich mit einem leisen „Guten Tag“.

„Guten Tag“, antwortete Ole und hob langsam seinen Kopf aus den Händen, wobei er sich die Tränen abwischte. Ungläubig starrte Felix eine Weile in das verweinte Gesicht und dann:

„Ole? Mein Gott! Das kann doch nicht wahr sein! – Ole bist Du es? – Ja, Ole du lebst?“

Felix stand da, wie versteinert, und Ole nickte stumm mit einem Ausdruck im Gesicht, als habe er sich gerade in die Hose gemacht.

„Ole, mein Gott, Ole – kneif mich mal, dass ich nicht träume!“

Ole stand schluchzend auf.

„Felix“, jammerte er und fiel seinem alten Freund weinend um den Hals.

„Mensch Ole, wo kommst du denn her?“

Ole konnte jetzt nicht sprechen und wusste auch nicht, was er sagen sollte.

„Marlen, deine Mutter hat immer gesagt, der Ole kommt wieder. Bis zum Schluss hat sie das gesagt. Ihr müsst nur ganz fest daran glauben, hat sie gesagt. Und jetzt bist du da.“

Ole sagte nichts.

„Ja, sag mal, wo kommst du denn her? Ich glaub’ es nicht.“

Ole war noch immer stumm und hielt den alten Mann umklammert, der schließlich ablenkte:

„Sollten wir die Blumen nicht in die Vase tun?“

Ole ließ ihn los und Felix packte die Blumen aus.

„Das ist ja ein Riesenstrauß.“

„Mehr hatten sie nicht“ brach Ole monoton sein Schweigen, wobei er sich wieder die Tränen aus dem Gesicht wischte und sich anschickte, mit der großen Vase hinüber zur Pumpe zu gehen. Noch immer fassungslos setzte sich Felix mit den Rosen im Arm auf die Bank und sah seinem jungen Freund weiterhin ungläubig nach.

„Wir stellen sie in die Mitte, wo sie ihrem Herzen am nächsten sind, denn sie hatte dich ja so sehr in ihr Herz geschlossen“, schlug Felix vor.

„Sie hatte alle in ihr Herz geschlossen“, antwortet Ole leise, ohne hier jetzt eine Diskussion beginnen zu wollen, wo die Blumen nun stehen sollten und begann wieder zu weinen.

„Marlen hat immer wieder gesagt, dass der Ole wieder kommt, bis zuletzt hat sie das gesagt, der Junge kommt wieder, hat sie gesagt. Keiner hat daran geglaubt, keiner.“

Felix wiederholte sich wobei seine Augen auch feucht wurden und die beiden sich erneut weinend in den Armen lagen bis Ole seinem Freund nach einer Weile auf die Schulter klopfte und ihn mit dem Wort „Komm“ zum Gehen in Richtung Ausgang anstieß. Beiden Freunden war es ein wenig peinlich, dass sie ihre Fassung verloren hatten und sich nicht beherrschen konnten, doch nach einigen Schritten am Ausgang des Friedhofs fingen sie sich wieder.

„Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du wieder da bist. Wir dachten, sie hätten dich an der Grenze erschossen.“

„Das hätten sie damals auch fast geschafft. Aber wie du siehst, eben auch nur fast und nicht ganz.“

„Das musst du mir nachher alles ganz genau erzählen. Sag mal, und wo hast du dann überhaupt die ganze Zeit gesteckt?“

Als müsste er sich eine Antwort überlegen, sagte Ole nichts.

„Nun, wo warst du so lange?“

„In den USA. Ich wohne in Amerika.“

„In Amerika? Und wie ist es in Amerika? Als Junge hast du ja immer davon geträumt, du wolltest nach Amerika und Kapitalist werden. Bist du denn nun Kapitalist geworden?“

Ole wich aus.

„Das wolltest du auch werden und hast es mir eingeredet. Ach Felix, da reden wir später noch drüber.“

„Gut. Du hast doch sicherlich auch noch nichts gegessen. Komm, ich mach uns eine Kleinigkeit“, schlug Felix vor, als die beiden Freunde sich von dem Wiedersehenstaumel etwas gefangen hatten.

„Gut, dann können wir weiter reden. Wohnst du immer noch im Kutscherhaus?“

„Ja, wo sollte ich denn anders hin. Opa und Mutter sind nicht mehr, und jetzt wohne ich alleine dort. Allerdings ist das Kinderheim im Schloss vor kurzem geschlossen worden weil angeblich kein Geld mehr da ist, oder man wollte die Kinder woanders unterbringen – ich weiß nicht. Nach der Wende ist schon einiges anders geworden. Vielleicht muss ich jetzt auch aus dem Kutscherhaus raus. Ich weiß nämlich nicht, was mit dem Schloss künftig passiert. – Ist das dein Auto?“

„Ja, es ist ein Mietwagen. Wir nehmen ihn mit zu dir.“

Felix ging um das Auto herum und strich fast ein wenig liebevoll mit der Hand über das Dach und dann beim Einsteigen:

„Da sind ja nur zwei Pedale“.

„Der hat Automatik. So etwas wäre auch was für dich. Dann hast du keine Probleme mit der Prothese.“

Felix war begeistert von dem tollen VW Golf.

„Wir, das heißt Elke hat einen Trabi und ich habe mich am Kaufpreis damals beteiligt, deshalb meine ich, unser Trabi. Vielleicht schaffen wir uns auch einmal einen so schicken Golf an, weil man jetzt nach der Wende ja so tolle Westwagen kaufen kann. Der Trabi hatte damals sechzehn Jahre Lieferzeit“.

Zu gern hätte Ole gewusst was aus Elke geworden war, aber aus Angst vor einem erneuten Katzenjammer hielt er sich zurück. Ob Felix Elke möglicherweise geheiratet hatte? Jedenfalls war er damals immer so lieb und großzügig zu ihr gewesen. Er war ja auch gerade mal sechzehn oder siebzehn Jahre älter als sie. Das könnte doch sein aber nein, er wohnte ja alleine, hatte er gerade gesagt. Felix hatte sich nicht verändert, gut, er war zwar etwas älter geworden und hatte jetzt einen kurz geschorenen grauen Vollbart, aber sonst schien er immer noch der alte zu sein.

Das schillernde Leben des O.K.

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