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Die Flucht

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Die beiden Freunde stiegen ins Auto und fuhren Richtung Berlin, und als Felix nach einigen bewunderten Worten über das Gefährt wieder fragte, wie es tatsächlich damals war, begann Ole ein wenig zögerlich mit seiner Geschichte:

„An dem Abend, als ich damals abgehauen bin, war ich mit Elke im meinem Zimmer zusammen. Wie üblich war sie recht laut dabei. Wo Mutter war, weiß ich nicht, scheinbar war sie nicht zu Hause, jedenfalls glaubten wir es. Vater Heinz kam mal wieder betrunken heim, was wir im Eifer des Gefechts nicht bemerkt hatten und stand plötzlich bei uns im Zimmer und wollte sich mit irgendetwas in der Hand auf mich stürzen, doch ich war schneller, und er fiel, besoffen wie er war, auf mein leeres Bett, denn Elke hatte sich auch schon an ihm vorbei in ihr Zimmer verkrümelt und eingeschlossen. Als er nun im ganzen Haus nach mir suchte, schlich ich zurück in mein Zimmer, zog mich rasch an und schnappte die Tasche mit meiner ‚Ausrüstung’, die ich schon lange für unsere Flucht vorbereitet hatte, den alten Gasmaskenbehälter, in dem mein Ausweis und alle Papiere waren, Karten und auch das alte Empfehlungsschreiben, das ihr damals von Fritz bekommen hattet, und dann verschwand ich durch das Fenster.“

„Denn hattest du das alles ja schon lange geplant“, unterbrach ihn Felix.

„Genau, das hatten Elke und ich gemeinsam geplant und uns geschworen, niemandem etwas davon zu erzählen. Du warst damals so happy, dass wir immer so aktiv beim Sprachunterricht des Schulfunks teilgenommen haben. Nun kennst du den Grund.“

„Elke hat aber nachher auch nie darüber gesprochen.“

„Wie sollte sie auch? Einerseits hätte sie gegen unseren Schwur verstoßen, und andererseits hätte sie dich möglicherweise verletzt oder sogar mit reingezogen.“

Felix blickte eine Weile nachdenklich durch die Seitenscheibe in die vorbeiziehende Natur.

„Elke hat viel geweint, sehr viel, besonders, als sie merkte, dass sie schwanger war. Und als sie es schließlich Marlen anvertraute, da haben wir gemeinsam einen Weg gesucht, und sie ist dann trotzdem weiter zur Schule gegangen, und nach der Geburt hat sie noch ihr Abi gemacht. Marlen hat sich dann um das Kind gekümmert, damit Elke ihre Ausbildung machen konnte. Sie hat sich in der Zeit sehr verändert und war nicht mehr so ein verrücktes Huhn wie sonst. Aber mit der Zeit fing sie sich wieder. Am Meisten hat sie wohl darunter gelitten, dass du nicht mehr da warst“, meinte Felix schließlich und es klang fast etwas vorwurfsvoll.

„Das tut mir leid. Ich habe aber wirklich nichts geahnt“, entschuldigte sich Ole und „wen hat sie denn als Vater angegeben?“

„Das war auch noch so eine Geschichte. Da du ja offiziell ein Blutsverwandter warst, hätte man sicherlich auch noch deine Eltern wegen Aufsichtsverletzung zur Rechenschaft gezogen, auch wegen Kuppelei. So hat sie dann angegeben, dass sie häufiger als einziges Mädchen mit mehreren Jungen aus dem Heim gleichzeitig zusammen war. Als man die Jungen dann befragen wollte, hat sie gesagt, dass es im Ferienlager an der Ostsee genau so mit mehreren abgegangen sei. Und wie sie nun als absolut haltloses Mädchen da stand, hat man an dich, ihren Bruder überhaupt nicht mehr gedacht. Wir konnten gerade noch verhindern, dass sie nicht in ein Heim gesteckt wurde, wo man ihre sexuelle Triebhaftigkeit besser unter Kontrolle hätte.“

Ole war verstummt, darum begann Felix wieder:

„Na ja, du bist also zu Hause abgehauen und dann?“

„Dann bin ich mit dem Rad an die Stelle gefahren, die Elke und ich schon vorher ausgekundschaftet hatten, denn nach dem Mauerbau sind wir viel herumgefahren und haben nach einer günstigen Stelle gesucht. Wir haben verschiedentlich auch mit den Grenzern gesprochen und mit denen ein bisschen rumgeblödelt, denn die waren ja doch auch nicht viel älter als wir. Aber ständig wurde alles noch sicherer gemacht, und wenn wir erneut zu bestimmten Stellen kamen, die wir als Fluchtweg in Erwägung gezogen hatten, sah wieder alles ganz anders aus, bis wir schließlich nur noch eine Möglichkeit sahen, wir müssten durchs Wasser. Deshalb hatte ich auch den alten Gasmaskenbehälter für die Papiere genommen.“

Oles Stimme klang jetzt, als wolle die ganze Kühnheit von damals vermitteln. Noch nie hatte er jemandem seine Geschichte so erzählt. Doch seinem alten Freund Felix, der ihm fast noch den Hintern als Baby abgewischt hatte, dem mochte er sich offenbaren, wohl auch, dass ihm auch nach der Rückkehr in die alte Heimat jetzt ein Stein vom Herzen gefallen war, und so plauderte er weiter:

„Ungefähr einen Kilometer vorher habe ich, wie geplant, mein Rad im Kanal versenkt und bin dann zu der Stelle geschlichen, wo ich glaubte, unbemerkt ins Wasser zu gelangen, wo auch kein Scheinwerfer hinleuchten konnte. Bis hier her hatte ich fast keine Angst, denn bis hier her empfand ich es noch als Sport, die Grenzer zu überlisten, ohne mir darüber klar zu sein, was gewesen wäre, wenn die mich erwischt hätten. Da zog ich mir die Schwimmflossen an, ließ mich also ganz langsam ins kalte Wasser gleiten und ging ein paar Meter unentschlossen am Ufer entlang. Noch könntest du zurück, dachte ich mir, aber das wäre unter Umständen genau so gefährlich. Und wo sollte ich auch hin? Auch Amerika war mir plötzlich völlig egal, denn ich hatte unerwartet fürchterliche Angst. Ich wollte ja auch immer abtauchen, wenn der Scheinwerfer über das Wasser lief, aber das ging nun nicht, weil der scheiß Gasmaskenbehälter mich doch wieder nach oben ziehen würde. Fluten wollte ich ihn aber auch nicht, denn schließlich wären meine ganzen Unterlagen dann zum Teufel gewesen. Instinktiv schob ich ihn schließlich vorn unter meinen Pullover, weil ich irrtümlich glaubte, ihn dann auch mit absenken zu können, besser als auf dem Rücken. Und so bin ich ganz langsam losgeschwommen, nachdem ich von der Uferbefestigung noch ein paar Steine zum Beschweren in meine Hosentaschen gewürgt hatte. Zwei Mal ging der Scheinwerfer über mich hinweg, doch beim dritten Mal, ich war schon ein schönes Stück geschwommen und wohl auch nicht mehr so ganz vorsichtig, weil ich glaubte, schon bald drüben zu sein, da hörte ich plötzlich jemanden brüllen. Ich versuchte zu tauchen, was wegen des Gasmaskenbehälters nicht ging. Doch dann krachte es, die ersten Schüsse fielen. Ich begann wie ein Wilder im Scheinwerferlicht zu schwimmen. Aber dann gab es Dauerfeuer. Als ob mir jemand mit einem Hammer auf die Schulter drischt, bekam ich hier einen Treffer und hier einen Streifschuss am Kopf. Von da an wusste ich nichts mehr und bin erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Der Gasmaskenbehälter hatte sich unter meinem Pullover nach oben geschoben und so meinen Kopf über Wasser gehalten bis mich eine ganze Zeit später jemand auf der Westberliner Seite aus dem Wasser gefischt hat.“

„Mein lieber Mann, das ist ja eine Horrorgeschichte. Da hast Du aber Schwein gehabt!“

„Ja, ja, das magst du wohl sagen. Richtig klar ist mir mein Abendteuer erst ein paar Tage später geworden, denn der Frühstart war ja so nicht vorgesehen.“

„Wie du ins Krankenhaus gekommen bist, weißt du nicht?“

„Ich war doch besinnungslos und anschließend haben sie mich wohl gleich operiert. Am nächsten Nachmittag bin ich erst wieder aufgewacht und bekam einen fürchterlichen Schreck, weil ich nicht wusste, wo ich war – Ost oder West? Schließlich habe ich eine junge Krankenschwester vorsichtig gefragt, wie das Krankenhaus heißt. Ich war im Westen! Da wollte ich ihr um den Hals fallen, aber mir tat ja alles so weh. Sie hielt mich zurück und ich habe geweint, vor Freude habe ich geweint, das kannst du dir nicht vorstellen.“

„Was hast du bloß für einen Schutzengel gehabt, Ole! Mir wird ja ganz seltsam, wenn ich mir das jetzt vorstelle. Wie lange warst du anschließend noch im Krankenhaus?“

„Ich glaube zwei Wochen, ja zwei Wochen. Die Verletzung war glücklicherweise nicht kompliziert.“

„Und was hast Du dann gemacht?“

„Erst einmal kamen am nächsten Morgen zwei Männer, um mich zu verhören und gegen Mittag ein Amerikaner, ein Offizier in Uniform. An dem Morgen war ich schon wieder richtig munter und aufgekratzt. Also der Amerikaner kam rein, sah mich ruhig an und sagte monoton: ’Hello.’ Und ich gleich überschwänglich in gutem Englisch:

‚Good morning, Sir, I am glad to see you. I feel honoured to be welcomed by an American major at the first day in freedom.’ Peng, das saß, denn auf eine derartige Begrüßung von einem Flüchtling aus der DDR war er nicht gefasst. So verschiedene Sätze hatte ich mir nämlich schon früher in Gedanken zurecht gelegt. Als der Amerikaner jedoch merkte, dass die weitere Konversation in Englisch von meiner Seite etwas holprig wurde, sprachen wir deutsch weiter. Ich habe ihm dann meine Lebensgeschichte erzählt, wobei ich allerdings hier und da ein wenig geflunkert habe.“

„Das ist dir ja nicht schwer gefallen, das Flunkern“, meinte Felix spöttisch.

Dann berichtete Ole, weshalb der Amerikaner ihn überhaupt aufgesucht hatte, nämlich wegen dem Inhalt des Gasmaskenbehälters. Da war doch alles mögliche Amerika betreffend drin gewesen, Karten und so weiter, unter anderem auch das Empfehlungsschreiben von Fritz, der Anfang des Krieges mit seiner Familie von Felix Großvater versteckt und dann von ihm außer Landes geschmuggelt worden war. Als Fritz nun nach der Kapitulation seine Retter von einst wieder besuchte, hatte er das Empfehlungsschreiben verfasst. Das wäre sein Großvater gewesen, hatte Ole behauptet. Der amerikanische Major war auch Jude und kannte Fritz, der allerdings schon länger wieder in die USA zurückgekehrt war. Jedenfalls freundeten Ole und der Major sich an. Als seine Mission in Deutschland beendet war, verbürgte er sich für den Jungen und nahm ihn wenig später mit in seine Heimat nach Austin in Texas.

Das schillernde Leben des O.K.

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