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Heimkehr des Republikflüchtlings

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Der Thrombosebomber brachte uns von Martinique, wo wir unsere Charteryacht zurückgeben mussten, wieder nach Europa. Obwohl in meiner Abwesenheit recht viel Arbeit angefallen war, erfüllte ich Oles Wunsch, schon aus eigener Neugierde, und sah mich in Radow um. Auf den ersten Blick ein unscheinbares Bauerndörfchen in sozialistischem Grau aber wunderschön am See gelegen mit einer kleinen, recht reparaturbedürftige Kirche und einem romantischen Schloss auf einem herrlichen Seegrundstück. Hier und da verschandelte, für meinen Geschmack, DDR-Flickarchitektur die ländliche Idylle. Wenn man sich Derartiges weg dachte, so wäre es ein schönes Fleckchen Erde. Die Personen, nach denen ich mich erkundigen sollte, wohnten noch dort, so erfuhr ich, bis auf den Lehrer Heinz Kosche, der sei gestorben, ein Unfall. Und Ole Kosche? Warum ich danach fragte, der sei schon lange tot, und ich, wer ich denn überhaupt wäre. Die Frage machte mich ein wenig stutzig, ein entfernter Verwandter sei ich, ein Cousin zweiten Grades aus dem Westen. Seltsam das Verhalten, dachte ich – und wieso war er tot? Mochte sein, dass derartige Fragerei wegen der Stasischnüffelei in der Vergangenheit bei den Ossis noch immer Misstrauen verursachte.

Ich kabelte Ole meine knappe Recherche, und schon einige Tage später meldete er sich frühmorgens erneut:

„Da bin ich nun. Ich habe dir versprochen, dich in Berlin

zu besuchen.“

„Du bist in Berlin, seit wann?“

„Wir sind gestern Abend gelandet. Sehen wir uns heute Abend?“

„Tut mir leid, aber heute habe ich ein volles Programm. Das kann spät werden. Und morgen?“

Spontan wollte ich mich ein wenig interessant machen wegen angeblich wichtiger Termine.

„O.K., morgen Abend sieben Uhr im Hotel Adler.“

„Im Grandhotel Adler? Schön, ich freue mich, bis morgen“.

Dann kamen noch ein paar knappe Sätze und tschüß. Eigentlich war ich doch ein wenig überrascht, dass er Wort gehalten hatte und tatsächlich gekommen war. Zu häufig waren derartige Versprechen nur freundliche Gesten. Dass er im teuren Adler abgestiegen war, machte mich etwas stutzig. Hatte er damals auf Antigua mein Angebot doch nicht abgelehnt, in meinem Büroapartment zu schlafen.

Offiziell wollte Ole sich informieren, was an Volkseigentum der DDR durch die Treuhandgesellschaft versilbert und privatisiert werden sollte. Deshalb waren seine Sekretärin Ann und seine rechte Hand Walter mit gekommen und auch sein Freund Joe. Ole wollte sich dann mit mir absetzen und nach Radow fahren. Da ich aber keine Zeit hatte, musste er umdisponieren, und so beschlossen die vier, sich erst einmal einen Tag zu akklimatisieren. Eine Limousine mit Fahrer hatten sie schon von drüben gechartert, die sie durch die ehemalige DDR chauffieren sollte, um einen allgemeinen Eindruck zu bekommen. Ann zog es allerdings vor, einen Stadtbummel zu machen.

Ole saß vorn neben dem Chauffeur, ein mittelgroßer Mittfünfziger mit Teilglatze, die er unter seiner Schirmmütze verbarg. Man spürte, dass ihm die Dienerhaltung eines Profikutschers schwer abging. Mag auch sein, dass er aus dem Osten kam und in der alten Republik einen angenehmeren Posten bekleidet hatte. Er sprach kein Englisch und glaubte, amerikanische Touristen oder Geschäftsleute zu kutschieren, denn die drei Herren trugen dunkle Anzüge mit Krawatte. Sie sprachen Englisch, denn Ole wollte nicht, dass der Fahrer ihm möglicherweise die Ohren voll schwatzt. Hier und da brachte Ole ein paar deutsche Worte mit amerikanischem Akzent heraus, die der Fahrer entsprechend beantwortete wie ‚russisch Frau’ oder ‚Schwarzhändler Zigarretts’, wobei der auf irgendwelche Asylanten wies, die an bestimmten Stellen ihre Schmuggelware anboten. Joe und Walter im Fond kommentieren die schmalen, gewölbten Straßen, die hüpfenden, stinkenden Trabbis und die grauen Fassaden.

„Wir sollten hier Farbe verkaufen. Es ist alles so schrecklich grau in grau“, versuchte Walter Stimmung zu machen.

„Das verstehst du nicht Walter, Grau ist hier die ausgesprochene Modefarbe“, hielt ihm Joe lachend entgegen. Ole war nicht sehr gesprächig. Ihm schienen die Straßen unverändert seit damals zu sein und registrierte es kommentarlos.

Die Ränder des Kopfsteinpflasters waren ausgewaschen und von wunderschönen Alleebäumen gesäumt, keine Fahrbahnmarkierungen, wenige Verkehrsschilder, jedoch malerisch, wie die Kulisse in einem uralten Heimatfilm. Für Ole war es noch wie damals, als sie mit ihren Fahrrädern Ausflüge machten. Es hatte sich wirklich nichts verändert. Ihm war seltsam zu Mute und er versuchte seine Gefühle zu verbergen, denn dies alles hatte er einmal von Herzen geliebt. Nur heute gab es mehr Autos, meist Trabis, teilweise mit kleinen Anhängern, die ‚Klaufix’ genannt wurden, und Wartburgs mit ihren knatternden, stinkenden Zweitaktmotoren. Putzig anzusehen, wie sie jede Straßenunebenheit durchhüpften, wobei alle Autos die Mitte benutzten wegen der rund gewölbten Fahrbahn eben und den noch schlechteren Rändern. Kam ihnen ein Fahrzeug entgegen, flitzten sie schnell nach rechts, um wenige Sekunden später wieder auf der Fahrbahnmitte weiter zu sausen. Sicherlich würden all diese lustigen Vehikel bald ausgestorben sein, denn gelegentlich begegneten sie schon einem komfortableren ‚Westwagen’ mit neuem Ost-Kennzeichen und leuchtender roter, gelber, grüner oder blauer Lackierung, denn die Ostwagen waren in der Regel alle in Grautönen lackiert, eben in der DDR Modefarbe. In den Westländern gab es ja auch in der Landschaft und in den Orten etliche Bereiche, die weniger gepflegt waren, aber hier? Hier machte ja alles irgendwie einen schmuddeligen Eindruck. Es gab nirgends elegante Highlights, die dem Betrachter aus dem Westen Bewunderung abverlangte. Auch erhaltenswerte alte Bausubstanz bot sich ihnen durchweg in beklagenswert heruntergekommenem Zustand, wenn sie nicht schon einfach abgerissen worden war, wie die Baulücken zeigten, weil mit den geringen Mieterträgen keine Reparaturen möglich waren. In Amerika war ja auch nicht alles Glanz und Gloria, aber hier erzeugte die Fahrt bei den Besuchern nach kurzer Zeit schon etwas Deprimierendes, vielleicht auch weil man automatisch an die Bewohner dachte, die hier die ganze Zeit leben mussten, da sie in ihrer Republik eingesperrt waren.

In gemächlichem Tempo rollten die Amerikaner mit ihrem schweren Wagen durch die schöne Landschaft, wobei die wuchtigen Reifen auf das Kopfsteinpflaster trommelten und Ole bewusst wurde, wie viel von alle dem er damals als Junge gar nicht wahrgenommen hatte, weil es früher einfach so normal war. Heute mutete ihn alles winzig und peinlich schäbig an, deshalb mochte er gar nicht betonen, dass dieses einmal seine Heimat war. Und immer wieder kamen sie an Russenkasernen vorbei. Schäbige, heruntergekommene Einrichtungen mit zerbrochenen Fensterscheiben und von ewig langen, grauen hohen Mauern uneinsehbar umgeben, hinter denen man kein menschliches Leben vermutete. Vor den Einfahrten waren große Blechtore mit einem roten Stern darauf. Unterwegs stand hier und da ein schmächtiger Sowjetsoldat und schien zu winken, doch der Fahrer klärte seine Fahrgäste auf, das seien Streckenposten, die die Straßen zu sperren hätten, wenn eine Militärkolonne käme, aber die Kameraden mit der anderen Feldpostnummer hätten sie nicht zu fürchten – nicht mehr. Arme Schweine seien es und die winkten auch nicht, die bettelten um Zigaretten, meinte der Fahrer. Walter übersetzte, sonst würde Joe von all dem nichts verstehen. Ole besann sich auf sein bisschen Schulrussisch und verspürte das Bedürfnis, einen kleinen Soldaten anzusprechen. Er ließ halten, fuhr die Scheibe herunter und sagte freundlich auf russisch zu dem schüchternen Jungen:

„Guten Tag, wie geht’s?“

„Zigaretten?“ kam es zurück.

„Darfst du denn schon rauchen?“

Der Russe lachte nicht und wiederholte monoton:

„Zigaretten.“

Ole griff in seine Jackentaschen und holte eine Aluminiumkartusche mit einer seiner guten Zigarren heraus.

„Nicht doch“, meinte der Fahrer, „damit wisse der doch nichts anzufangen.“ Er reichte Ole mit den Worten, er habe noch mehr, eine DDR Zigarettenschachtel ‚f6’, und Ole gab sie dann dem Soldaten, der sich mit einem verlegenen Lächeln bedankte. Noch erstaunt darüber, dass sein amerikanischer Gast russisch sprach, reichte Walter von hinten dem Fahrer über die Schulter sogleich ein Fünfmarkstück für die Schachtel. Ole freute sich, als hätte er gerade ein paar Enten am Teich gefüttert. Seine beiden Begleiter beobachteten stumm, staunend den Vorgang aus dem Fond.

„Die Russen behandeln doch noch immer ihre Soldaten wie den letzten Dreck, wie Vieh, auch heute noch. Das müsstet ihr mal sehen, wie die hausen, nicht nur die Soldaten in den Kasernen auch die Familien in den schon seit Kriegsende besetzten Häusern. Da hat sich mit Sicherheit seit damals nichts geändert. Und wie die saufen! Und beim Militär wird auch noch geprügelt“, erklärte Ole seinen staunenden Begleitern und weiter: “Dabei fällt mir ein, in der Schule hing ein Transparent ’Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen’. Seht ihr, und so sehen nun die Sieger aus.“

Ja, es hatte sich in all den Jahren wirklich nichts geändert. Den Amerikanern erschien alles so unwirklich, jetzt nach dieser stillen, historisch einzigartigen, Revolution in Ostdeutschland, sich mit dem ehemaligen Feind so auf Tuchfühlung zu bewegen. Es war für sie jedenfalls ein seltsames Gefühl, einfach hier seien zu können, so zu sagen im einstigen Feindesland.

„Das alles hier kann einen schon ein wenig depressiv machen“, meinte Walter schließlich nachdenklich, „so habe ich es mir nicht vorgestellt.“

Ole navigierte den Fahrer auf Umwegen nach Radow, ohne seinen Begleitern zu sagen, dass es einmal sein Heimatdorf gewesen war, und ließ ihn unten am See halten.

„Lasst uns ein wenig die Füße vertreten“, meinte er. Es war für ihn ein unbeschreibliches Gefühl, als freier Mensch diesen Boden wieder zu betreten. Er war überglücklich und fühlte sich als Feigling und zerrissen zugleich. Wie würde er reagieren, wenn er jetzt jemandem von früher gegenüber stünde. Unwillkürlich setzte er sich zur Tarnung Baseballkappe und Sonnenbrille auf. Es war ihm, als wäre er der Junge von damals, der zu spät nach Hause gekommen war, und eine Moralpredigt oder Prügel zu erwarten hatte. Nein, dieses Wiedersehen hätte er wohl doch besser alleine, ohne Begleitung planen sollen, denn er befürchtete, seine Gefühle nicht in den Griff zu bekommen.

Der kleine Ort schien wie ausgestorben, als die drei auf dem Kopfsteinpflaster hinauf zu seinem Elterhaus am Ende der Dorfstraße spazierten, wo sie kurz verweilten, und Ole unauffällig mit Herzklopfen nach irgendeinem Lebenszeichen im Bereich des Hauses suchte. Nein, da war nichts. Und auch auf den Nachbarsgrundstücken konnte er niemanden entdecken. Doch auf dem Rückweg sahen sie, wie auf dem kleinen Friedhof gerade jemand zur letzten Ruhe gebettet wurde. Deshalb also waren im Dorf keine Leute anzutreffen. Die drei änderten ihren Kurs und steuern geradeswegs auf die kleine HO-Gaststätte zu, die ganz früher mal privat gewesen war, um dort einen kleinen Imbiss zu einzunehmen oder wenigstens eine Tasse Kaffee zu trinken.

An der Tür hing ein Schild: ‚Vorübergehend geöffnet’. Ole registrierte auch hier fast keine Veränderung in all den Jahren, im Gegenteil, er empfand es jetzt nur noch viel schlampiger, und so war es auch. Auf der Terrasse standen einige Stühle und Tische angeschmuddelt kreuz und quer herum, in der Ecke ein vergammelter Sonnenschirm, der dort sicherlich schon überwintert hatte, und die Bodenplatten waren uneben und grün bemoost.

Der Gastraum mit seinen faden Neonleuchten an der Decke kam Walter vor, wie ein Lagerschuppen in dem man nur ein paar Tische und Stühle lieblos abgestellt hatte. Nein, da hatte die billigste Fernfahrerbude im mittleren Westen mehr Charme. Die Parolen an den Wänden aus der DDR Zeit, die Ole damals so albern empfunden hatte, waren allerdings nicht mehr da, nur an den hellen Stellen und den dunklen Rändern konnte man erkennen, dass sie all die Jahre überlebt haben mussten. Aber der Mief war geblieben. Ja, der Geruch war es, der Ole seine Erinnerungen gleich wieder lebendig werden ließen. Hier hat damals sein Vater in seiner Eigenschaft als kommunistischer Vorturner und Aktivist im Arbeiter- und Bauernstaat die politischen Phrasen gedroschen von Planerfüllung, dem sowjetischen Brudervolk, von Imperialisten und Kriegstreibern. Ja, das konnte sein Vater – aber saufen, das konnte er auch. Hier haben sie die sozialistische Internationale und ‚Auferstanden aus Ruinen’ gebrüllt – und das besonders, wenn sie besoffen waren. Demnächst allerdings sollte Ole erfahren, dass das von seinem Vater alles nur Show gewesen war, aber im Augenblick empfand er es wie damals als äußerst primitiv.

Eine mollige Bedienung mittleren Alters mit blank gescheuertem Dress und fettem Hinterteil, die strähnigen Haare zu einer Art Pferdeschwanz zusammengeschnürt, nahm die elegant dunkel gekleideten Herren in Empfang:

„Wenn sie zur Beerdigung wollen, die ist da drüben“, und zeigte dabei in Richtung Kirche. Verdutzt über diesen unfreundlichen Ton blickten die drei die Frau wortlos an.

„Wenn sie essen wollen, wir haben heute kein Essen. Wir haben nur Beerdigungskaffee.“

Die Gäste schüttelten die Köpfe und murmelten so etwas wie einen Gruß, während die Frau ihnen den Platz anwies:

„Sie sind sicher von drüben?“

Dann sah sie Ole unvermindert an.

„Irgendwie kenne ich sie. Waren Sie schon einmal hier?

Ich vergesse kein Gesicht.“

Ole tat so, als verstünde er kein Wort und verzog auch keine Miene, weil er die Frau wieder erkannte, denn sie waren einmal gemeinsam in einer Grundschulklasse gewesen, kam aber nicht auf ihren Namen. War ja auch unwichtig. Als die drei sich setzten, kommandierte sie:

„Hier wird aber nicht geraucht!“

Walter staunte über den rüden Ton, Ole und Joe sahen sich belustigt an. Dieser Empfang war natürlich etwas für Oles Verfassung.

„Three coffee, please“, sagte er lässig, als könnte er kein Deutsch. „Drei Kaffee“, kam es zurück und sie wackelte davon. Ole griff in seine Brusttasche, holte in aller Ruhe zwei Zigarren heraus, reichte Joe eine, um dann gemeinsam mit ihm dieselben in hoffähiger Zeremonie in Brand zu setzen, wobei sie genüsslich, provozierend den blauen Dunst in die leere Halle bliesen, in der sie die einzigen Gäste waren. Die Bedienung brachte den Kaffee mit dem nachdrücklichen Befehl:

„Hier wird nicht geraucht! Nix schmoking!“ wiederholte sie. Ole sah die Frau freundlich an und drehte die Zigarre ruhig zwischen den Lippen hin und her, während Joe mit seiner Zigarre auf Walter zeigte und lachend erwiderte: „No smoking – this man“, und sich lächelnd für den Service bedankte.

„Seht ihr“, sagt Ole, als die Frau sich kopfschüttelnd davon machte, „mit dieser Situation ist sie überfordert. So etwas kennt sie nicht. Hier werden Gäste von der Bedienung noch immer nur geduldet, eben weil Service für sie Arbeit bedeutet, und solche Flegeleien sind nach wie vor untersagt.“

Es waren Oles Erinnerungen, die hier rebellierten. Die Umgebung, der Geruch, der Ton der Bedienung und diese absolut billige Atmosphäre hatten all die Jahre gut überlebt. Es war für Ole eine innere Genugtuung, eine Art Befreiung, sich hier und heute nicht zu ducken.

„Lasst uns gehen, ich ersticke hier in der Bude“, sagte er kurz darauf, wobei er einen 10 DM-Schein auf den Tisch legte und mit Joe und Walter aus dem ungastlichen Haus floh.

Um zu ihrem Wagen zu kommen, mussten sie den Weg entlang der kleinen, maroden Natursteinmauer am Friedhof gehen, wo auf der anderen Seite mittlerweile die Trauergemeinde um ein Grab versammelt stand. Joe und Walter sahen kurz und interessiert hinüber, Ole blickte ein wenig peinlich berührt gerade aus, weil er befürchtete, es könne ihn doch jemand erkennen, und er sich dann in der Pflicht fühlte, irgendwie zu reagieren.

Dort, wo der Wagen parkte, unten am See, waren zwei Jungen am Angeln. Ole ging zu ihnen:

„Hallo Jungs, beißen sie?“

„Nee, ist nicht so doll“, kam die Antwort, wobei einer der

beiden den Beuteeimer ein wenig schräg hielt.

„Wer ist denn da gestorben?“ fragte Ole, wobei er in Richtung Friedhof nickte.

„Die Frau von dem Lehrer.“

„Von welchem Lehrer?“

„Von Kosche.“

„Marlen Kosche?“

Ole blieben fast die Worte im Hals stecken.

„Ja“, antworteten die Jungen zugleich gelangweilt mit Blick auf ihre Angelposen. Wie Blitz und Donner zugleich traf es Ole, und er stand da, wie zur Salzsäule erstarrt. Er wollte einen lauten Schrei auf den See hinausbrüllen, aber er hatte keine Stimme. Er empfand plötzlich das Rauschen der Zitterpappel über ihm als ein ohrenbetäubendes Getöse, bis es allmählich in ein grandioses Vogelkonzert überging, das er zuvor nicht wirklich registriert hatte. Und dann setzte der Kuckuck noch einen drauf, indem der seinem Ruf ein „Chra-Chra-Chra“ folgen ließ, als wollte er Ole auslachen. Wie häufig hatte sein Vater Heinz ihm vorgehalten, dass er doch ein Kuckucksei sei und es sich im gemachten Nest gut gehen ließ. Als Kind hatte er es anfangs nicht begriffen, aber irgendwann wurde ihm die Bedeutung klar, obwohl doch keine Geschwister da gewesen waren, die er aus dem Nest hätte werfen können. Joe spürte, dass mit Ole etwas nicht stimmte, ging zu ihm, legte ihm die rechte Hand auf die Schulter, wartete einen Moment und sagte ruhig, ohne nach dem Grund zu fragen:

„Komm, Ole, komm.“

„Das war meine Mutter, die sie da beerdigt haben“, antwortet er leise monoton, „auch ihretwegen bin zurück gekommen.“

Ole und Joe waren in Vietnam unzertrennliche Freunde geworden. Niemand kannte Ole so gut wie Joe. Heute sah er zum ersten Mal wieder den Ausdruck im Gesicht seines Freundes, dass dieser jetzt bereit gewesen wäre, durch das Sperrfeuer eines Maschinengewehrs zu laufen. Doch dann zog Ole sein Gesicht gerade, drehte sich um und marschierte mit Joe wortlos zum Wagen.

Sie fuhren den direkten Weg zurück nach Berlin.

Glaubte Ole vor wenigen Stunden noch, seine Kindheit wieder finden zu können, so empfand er es jetzt, als ob sie gerade für immer zu Grabe getragen worden war. Er war zurückgekehrt, um seine geliebte Mutter ganz fest in die Arme zu nehmen. Er wollte ihr doch noch so vieles erklären, sich dafür entschuldigen, dass er damals so ohne Abschied auf und davon gelaufen war. Er hatte sich alles dies vorgenommen, nachdem er sich zur Rückkehr durchgerungen hatte, und nun musste er erfahren, dass sie gerade gestorben war.

Das schillernde Leben des O.K.

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