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Viele Rollen und die Frage nach der Identität

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Was wir bei ungewöhnlichen Bewusstseinszuständen wie dem Schock oder dem Rauschzustand beobachten können, nämlich dass die Person sich vollkommen verändert und mal kürzer, mal länger zu einer anderen Person mutiert, lässt sich genauso in weniger »extremen« Lebensumständen beobachten. Da verhält sich eine selbstsicher auftretende Geschäftsfrau in ihrer Partnerschaft unsicher und abhängig. Da wird öffentlich bekannt, dass ein angesehener Stadtrat, der sich jahrelang für die Belange von anderen Menschen in der Gemeinde eingesetzt hat, gleichzeitig, gierig nur auf den eigenen Vorteil bedacht, den Staat um große Summen Steuern betrogen hat. Wenn diese Menschen äußerlich nicht in den verschiedenen Situationen den gleichen Körper hätten, würde niemand auf die Idee kommen, dass es sich um die gleiche Person handeln könnte.

Kennen wir nicht alle Beispiele von Menschen, die plötzlich eine Verhaltensweise an den Tag legen, die wir ihnen nie zugetraut hätten? Und wie oft hat uns bereits schockiert, wenn menschliche Abgründe bei scheinbar »normalen« und gut integrierten Menschen nach außen hin sichtbar wurden? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass es diese Widersprüche auch in unserem eigenen Leben gibt. Verhalten wir uns nicht immer wieder in verschiedenen Umgebungen sehr unterschiedlich? Und müssen wir nicht manchmal verschämt zugeben, dass wir nicht wissen, was uns gerade »geritten« hat?

Meistens nehmen wir diese Widersprüche zwar wahr und sind davon irritiert oder empören uns sogar darüber, wenn es andere Menschen betrifft, aber wir betrachten sie nicht genauer. Dann würden wir nämlich sehen, dass es nicht die Ausnahme ist, dass Menschen sich wie unterschiedliche Personen verhalten, sondern die Regel. Natürlich sind die Widersprüche oft nicht so krass wie bei extremen Bewusstseinszuständen durch Schock oder Alkohol. Aber im Kleinen sind sie im Alltag deutlich wahrnehmbar.

Die Wirkung auf uns ist in jedem Fall die gleiche: Der jeweilige Bewusstseinszustand – ob extrem oder nicht – färbt unsere Sinne, unsere Selbstwahrnehmung, unsere Gedanken, unsere Gefühle und unser Verhalten ein. Bewusstseinszustände wirken damit wie hypnotische Trancen, die unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte innere Erlebenswelt fixieren und gleichzeitig Potenziale, die uns in anderen Zuständen zugänglich sind, ausklammern.

Das Irritierende dabei ist, dass wir vordergründig nicht die Bewusstseinszustände sehen, in denen sich eine Person befindet, sondern weiterhin ihre äußere gewohnte Erscheinung. Nach außen scheint es immer die gleiche Person zu sein, die sich so unterschiedlich verhält. Doch das, was sie von innen her ausmacht – der jeweilige Bewusstseinszustand –, wirkt unsichtbar im Hintergrund. Könnten wir den Bewusstseinszustand sehen, der eine Person gerade bestimmt, und könnten wir sehen, wie Menschen Bewusstseinszustände wechseln, dann würde es uns nicht überraschen, dass sie sich nach außen plötzlich anders verhalten.

An dieser Stelle kann man sich natürlich fragen, was nun eine Person definiert: Ist es die äußere Erscheinung des Körpers, durch den das Lebendige einer Person wirkt? Oder ist es das lebendige Wirken eines Menschen, das durch den jeweiligen Bewusstseinszustand geprägt wird? Aus der gängigen Perspektive unserer Gesellschaft definieren wir den Menschen durch seine äußere Form und sind dann verwundert, wenn er sich plötzlich stark verändert oder sich widersprüchlich verhält. Wir könnten jedoch auch einen anderen Blickwinkel einnehmen und auf das Lebendige schauen, das durch einen Menschen zum Ausdruck kommt. Nicht der Körper definiert dann die Person, sondern das lebendige Geschehen und damit die jeweilige innere Welt – der Bewusstseinszustand, der durch die Person wirkt.

Diese zweite Betrachtungsweise findet sich auch in der Ursprungsbedeutung des Begriffes »Person« wieder. »Person« stammt vom griechischen Wort »prosopon« bzw. dem lateinischen »persona« ab, was sich auf die Maske einer Schauspielerin im antiken Theater bezieht, durch welche sie »hindurchtönt«. Es bezeichnet also die jeweilige Rolle, die die Schauspielerin gerade spielt. Diese Rolle wird durch die äußere Maske – also das Gesicht im Sinne von sicht-bar – durch das, was hindurchtönt, definiert.

Wie wir wissen, kann eine gute Schauspielerin sogar in einem einzigen Theaterstück verschiedene Rollen einnehmen und selbst beide Geschlechter glaubhaft verkörpern. Da wir als Zuschauende uns von der jeweiligen Rolle verzaubern lassen und nicht darauf achten, dass es immer der gleiche Körper ist, der die verschiedenen Rollen spielt, entsteht auch kein Widerspruch und keine Irritation. Für uns Zuschauende ist der lebendige Prozess, der durch die Schauspielerin in der jeweiligen Rolle zum Ausdruck kommt, das Wesentliche, welcher sie definiert, und nicht ihr Körper.

Spielen nicht alle Menschen unterschiedliche Rollen in dem einen Theaterstück ihres Lebens? Natürlich sind die alltäglichen Rollen, die wir einnehmen, meist nicht so markant und dramatisch wie im antiken Theater, sondern viel gewöhnlicher. Aber die Dynamik bleibt die gleiche. Wie eine gute Schauspielerin schlüpfen wir in verschiedene Bewusstseinszustände, die dann unser Erleben und unser Verhalten bestimmen, allerdings meist ohne uns dessen bewusst zu sein.

Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zum Schauspielberuf. Eine Schauspielerin stellt sich bewusst in den Dienst einer Rolle. Will sie überzeugend spielen, muss sie sich dabei vollkommen in die Rolle hineinversetzen und sich mit dieser Welt zeitweise identifizieren. Sprich, sie muss in der Rolle des Bösewichts zu einem Bösewicht oder in der Rolle des Opfers zu einem Opfer werden. Anders ausgedrückt, muss sie in den jeweiligen Bewusstseinszustand hineinwechseln, bis sie in eine Art Trance fällt, in der sie das authentische Erleben einer bestimmten Rolle selbst erfährt und lebendig zum Ausdruck bringt.

Schauspielerinnen nutzen damit bewusst die hintergründige Dynamik von Bewusstseinszuständen, die menschliches Leben ausmacht, und spielen damit. Das macht der gewöhnliche Mensch im Alltag meistens nicht. Auch wir nehmen verschiedene Bewusstseinszustände ein und wechseln sie, aber wir müssen uns nicht bewusst extra in den jeweiligen Zustand hineinversetzen. Im Gegenteil. Die verschiedenen Rollen greifen meist mit Macht nach uns, sodass wir keine Wahl haben und sie uns vollkommen gefangen nehmen. Wir sind mit ihnen so stark identifiziert, dass wir uns meist nicht einmal bewusst sind, dass wir eine bestimmte Rolle spielen, und auch nicht, welche Potenziale wir dabei ausblenden. Die machtvolle Dynamik der Bewusstseinszustände und ihre Bedeutung für uns läuft hinter dem nach außen hin sichtbaren Geschehen an der Oberfläche unseres Lebens permanent im Verborgenen und damit meist unbewusst ab.

Wenn wir betrachten, wie Menschen immer wieder Bewusstseinszustände wechseln und dabei unterschiedliche, wenn nicht sogar ­widersprüchliche »Rollen« spielen, kommt früher oder später die Frage nach unserer Identität auf: Wer sind wir, wenn wir uns in unterschiedlichen Bewusstseinszuständen vollkommen anders verhalten? Wer sind wir, wenn wir als Mensch in so unterschiedliche Erlebniswelten eintauchen können? Das reicht von Zuständen, in denen wir hocheffektiv funktionieren, aber vollkommen abgetrennt von unseren Gefühlsbereichen sind, bis hin zu Zuständen, in denen uns schöne oder schmerzhafte Gefühle so stark ausfüllen, dass sie vollkommen unser Denken und Handeln bestimmen.

Offensichtlich sind wir nicht eine kohärente Einheit, so wie es die äußere Erscheinung unseres Körpers vielleicht vermuten lässt. Nach außen treten wir als eine Person in Erscheinung, aber die inneren Welten, in die wir eintauchen und aus denen wir leben und handeln, sind höchst unterschiedlich. Wenn wir uns auf das tatsächliche lebendige Geschehen beziehen, das sich durch unseren Körper ausdrückt, dann verschwindet das Bild einer einheitlichen Identität und wir können nur noch fragen: »Wer bin ich jetzt – in diesem Augenblick?« Oder anders ausgedrückt: »Welcher Bewusstseinszustand drückt sich jetzt durch mich aus?« Mit dieser Frage verschiebt sich die Sicht auf uns selbst, da wir uns immer weniger als eine feststehende einheitliche Person mit klar definierbaren Eigenschaften sehen.

Zwischen Zeit und Ewigkeit

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