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Fragen über Fragen

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Wer sich diesen Fragen ernsthaft stellt und Erfahrungsdimensionen, die widersprüchlich sind, als menschliche Lebenswelten zulässt, wird wahrscheinlich zunächst in Verwirrung geraten. Betrachten wir nur einmal die letzte Frage: Wie kann es sein, dass wir uns einerseits so deutlich im Alltag als Individuum wahrnehmen und dieses sogar uneingeschränkt als das Zentrum unserer Welt behandeln? Ist es nicht sogar so, dass wir es verteidigen, falls es bedroht ist? Und was bedeutet es dann, dass wir andererseits in tiefer Meditation erfahren können, dass es kein Ich gibt? Ist das nicht zutiefst widersprüchlich?

Mein eigener Weg führte mich zunächst als noch junger Erwachsener in Selbsterfahrungsgruppen, in denen es viel um Gefühle und Bedürfnisse ging. Wahrhaftige Begegnung mit anderen schien mir damals ein Lebenselixier zu sein, das auf mich zutiefst sinnstiftend wirkte. Obwohl ich bereits zu diesem Zeitpunkt meditierte, war mir die Dimension des Gewahrseins mit seiner unbedingten Präsenz, seiner Freiheit und Verbundenheit noch nicht zugänglich. Entsprechend suchte ich die Erfüllung in tiefen Gefühlen und intensiven Begegnungen.

Doch dann vertiefte sich mein spiritueller Weg, und die Meditation führte mich in die Stille des Bewusstseins, in dem alle Gefühle und Bedürfnisse verstummten. In manchen Momenten verschwanden das Ich und die äußere Welt vollständig. Es blieb nur noch SEIN. Gefühle, Bedürfnisse und auch Begegnungen, die zuvor für mich so wichtig gewesen waren, waren zwar weiterhin da, verloren aber in der Folge dieser Erfahrungen für eine ganze Zeit an Bedeutung (obwohl ich weiterhin als Psychotherapeut arbeitete). Die Erfüllung suchte ich im Lauschen auf das SEIN.

Doch nach ein paar Jahren musste ich in einer Krise mit meiner damaligen Frau feststellen, dass die Gefühle und seelischen Welten und die Beziehungen sehr wohl eine Bedeutung hatten und mich wieder einholten. Dies war für mich eine andere Art des Erwachens. Das Erwachen aus der Leugnung von seelischen Kräften, denen ich mehrere Jahre keine große Bedeutung mehr gab und entsprechend kaum mehr Beachtung schenkte. Jetzt, in der Beziehungskrise, kamen die Gefühle mit Macht in mein Leben zurück und es war nicht zu leugnen, dass es in mir seelische Kräfte gab, die ich vernachlässigt hatte und die jetzt ihr Recht forderten und mein Leben bestimmten. Es kam zu einer Trennung von meiner damaligen Frau.

Mit der äußeren Krise ging auch ein innerer Umbruch einher. Jahrelang erschien mir das Heilbringendste und Erfüllendste das Lauschen auf das SEIN. Hier eröffnete sich mir eine Dimension, die frei von inneren und äußeren Bedingtheiten war. Hier erfuhr ich mich als zutiefst heil und konnte einen zeitlosen Frieden schmecken. Jetzt stand dies alles infrage. Wie konnte es sein, dass ich mich so getäuscht hatte und unbeachtet meines inneren Friedens starke seelische Schattenanteile in mir schlummerten, die bei nächster Gelegenheit dämonengleich ausbrachen und über mich herfielen? War der innere Friede, den ich jahrelang erfuhr, eine Illusion? War vielleicht sogar mein Meditationsweg ein einziger Irrweg? Eine Flucht vor dem Leben und den Gefühlen?

Aber nein. Das konnte auch nicht stimmen. Denn in der Lebenskrise, in all den aufwühlenden Gefühlen und mitten in der schwierigen äußeren Situation, hatte ich weiterhin einen Zugang zur Stille. Es gab weiterhin Momente von großer Freiheit und tiefem Frieden. Momente, in denen alles zutiefst in Ordnung war, obwohl mein Leben äußerlich wie innerlich offensichtlich in tiefster Unordnung war.

Mit der Zeit erkannte ich zunehmend, dass sich der Widerspruch zwischen meiner aufgewühlten Gefühlswelt und der Dimension des Friedens dadurch ergab, dass es sich um zwei verschiedene Lebenswelten handelte, die nebeneinander in meinem Menschsein existierten. Wenn ich den Gefühlen und der äußeren schwierigen Situation meine Aufmerksamkeit schenkte, hatte ich mit starken Emotionen und offensichtlichen Problemen zu tun. Wenn ich aber den Fokus meiner Aufmerksamkeit auf die Stille lenkte und in den offenen Raum des Gewahrseins eintauchte, war alles friedlich und weiterhin in bester Ordnung.

Wie ein Schwimmer sich entscheiden kann, an der Oberfläche des Ozeans zu bleiben und dabei vielleicht mit starkem Wellengang zu kämpfen hat, oder aber hinabzutauchen, um dort in der Tiefe vollkommene Ruhe zu erfahren, so können wir kraft unserer Aufmerksamkeit die Ebene wechseln. Das bedeutet nicht, dass die andere Ebene nicht existiert, aber sie hat in dem Moment keine Wirkkraft auf uns. Beide Ebenen, die Oberfläche mit ihren Wellen und die Tiefendimension des Meeres, existieren parallel. Über kurz oder lang wird die Ebene aber, der wir gerade keine Aufmerksamkeit schenken und die wir damit ausblenden, uns wieder rufen und unweigerlich unsere Aufmerksamkeit fordern.

Diese Dynamik, die mir mit meiner Gefühlswelt widerfahren war, konnte ich auf eine andere Art bei manchen Meditierenden beobachten, die ausschließlich die Zurückgezogenheit der Meditation suchten und dabei der alltäglichen Welt mit ihren Verantwortlichkeiten immer weniger Bedeutung beimaßen. Am liebsten hätten sie die äußere Welt ganz abgestreift. Doch auch sie wurden über kurz oder lang von dieser wieder eingeholt und mussten sich ums Geldverdienen oder um andere äußere Belange kümmern. So wie ich von meiner Gefühlswelt gerufen wurde, wurden sie von der Alltagswelt mit ihren Notwendigkeiten gerufen und wachgerüttelt.

Was ist nun aber mit den Menschen, die keinen unmittelbaren Zugang zur Dimension der Stille haben? Oder den Menschen, die so stark in den Pflichten und Oberflächlichkeiten der Alltagswelt und im Funktionieren aufgehen, dass sie sogar ihre Gefühle als unvernünftige Störenfriede ansehen und im Grunde nichts damit zu tun haben wollen? Werden diese Menschen auch von den anderen Ebenen unseres Menschseins gerufen?

Wenn man sieht, wie häufig auch äußerlich höchst erfolgreiche Menschen, bei denen oberflächlich alles glatt läuft, in ihrem Leben irgendwann von einer Sinnkrise oder einem Burn-out heimgesucht werden, dann muss man diese Frage mit Ja beantworten. Immer wenn wir einer Realitätsebene (oder sogar mehreren) keine Aufmerksamkeit schenken oder sie übergehen, wird diese über kurz oder lang sich melden und mit Macht unsere Aufmerksamkeit einfordern.

Zwischen Zeit und Ewigkeit

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