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Mit den Augen einer Libelle schauen

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Bei aller Vielschichtigkeit von Bewusstseinszuständen, die unser Erleben einfärben, gibt es nicht doch eine feststehende, materielle Welt um uns herum? Ist ein Tisch nicht ein Tisch und ein Baum nicht ein Baum, unabhängig davon, aus welchem Bewusstseinszustand wir ihn gerade betrachten? Sieht nicht jeder Mensch den gleichen blauen Himmel über sich und die gleiche bunte Blumenwiese, auf der er steht?

Ja, es gibt eine gewisse kollektive Verlässlichkeit unserer Erfahrung, wenn wir als Menschen unsere sinnliche Wahrnehmung vergleichen. Wahrscheinlich sieht eine Gruppe von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen den Himmel tatsächlich in der Farbe Blau und die Blumenwiese dagegen bunt. Natürlich gibt es hier bereits Abweichungen, da manche Menschen nur schwer Braun- und Grüntöne differenzieren können. Aber diese Abweichungen werden kollektiv als Fehlentwicklung ihrer Wahrnehmungsorgane abgetan, sodass sie die kollektive Sichtweise einer feststehenden materiellen Welt nicht infrage stellen.

Wenn wir uns aber jetzt vergegenwärtigen, dass das menschliche Auge nur einen sehr kleinen Bereich der elektromagnetischen Wellen – wir nennen ihn »Licht« – aufnehmen und ans Gehirn weiterleiten kann, das wiederum aus den Sinnesreizen eine farbige Welt konstruiert, dann wird deutlich, dass die Art, wie wir die Welt sehend erfahren, eine menschliche Konstruktion von Auge und Gehirn ist. Infrarotstrahlungen, UV-Strahlen, Röntgenstrahlen und viele andere niedere oder hohe Wellenbereiche des Lichts werden nicht dargestellt. Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn wir diese Strahlungsbereiche auch sehen könnten?

Wie sieht beispielsweise eine Libelle mit ihren Facettenaugen die Welt? Ein Facettenauge einer Libelle besteht aus bis zu 30.000 Einzelaugen. Sie sieht also gar nicht eine einzige Welt, sondern unzählig viele. Wir können eine Ahnung davon bekommen, wie die Libelle die Welt sieht, wenn wir einen Blick in ein Kaleidoskop werfen. Hier fächert sich das Sehfeld durch eine Anordnung von mehreren Spiegeln auf und es entsteht eine vielschichtige, aufgelöste und faszinierende »Spektralwelt«. Allerdings besteht diese nur aus wenigen Spiegelfeldern und nicht aus 30.000.

Oder betrachten wir die Sinnesorgane einer Fledermaus. Hört sie nicht den Ultraschallbereich, der unseren Ohren verschlossen bleibt? Auf der anderen Seite können ihre Augen nur Schwarz-Weiß sehen, aber wiederum die UV-Strahlen erkennen. Sie verfügt sogar über einen Magnetsinn, der ihr hilft, ähnlich wie bei Zugvögeln die Orientierung zu behalten.

Man kann sich kaum vorstellen, wie eine Libelle oder eine Fledermaus die Welt konstruiert und damit erfährt, aber wir können sicher sein, dass Menschen und Tiere die Welt, in der sie leben, so unterschiedlich beschreiben würden, dass wir nicht auf die Idee kämen, dass sie den gleichen Planeten bewohnen. Das bedeutet nicht weniger, als dass es keine äußere feststehende Welt gibt, sondern nur innere Konstrukte der Welt, abhängig vom jeweiligen Lebewesen und seinen Wahrnehmungsorganen und seiner Art, die Wahrnehmungsreize zu verarbeiten.

Doch die Unterschiedlichkeit der Welten, in denen Lebewesen leben, endet nicht mit der Wahrnehmung, also der inneren Konstruktion einer äußeren Welt. Sie geht weit über die Wahrnehmung hinaus, da das Lebewesen mit seiner Art zu leben diese Welt, in der es lebt, mitgestaltet. So ist ein lebendiges Geschöpf nicht nur »Empfänger« einer äußeren Welt, sondern erschafft diese auf zweifache Weise: zum einen durch seine individuelle Art der sinnlichen Konstruktion, zum anderen aber durch sein Handeln, also seine Art, sich aktiv auf die von ihm konstruierte Welt zu beziehen.

Nehmen wir zum Beispiel einen Frosch, der als Amphibie perfekt an das Leben im Teich angepasst ist. Seine Sinne helfen ihm, das Leben im Teich zu meistern, Feinde durch kleinste Erschütterungen wahrzunehmen und Beute, wie zum Beispiel Fliegen, im Flug zu erkennen. Der Frosch ist aber nicht nur Wahrnehmender, sondern gleichzeitig auch »Gestalter«. Er prägt durch sein Leben das Milieu im Froschteich mit und wird so auch der Mitschöpfer der Welt, in der er lebt.

Beim Menschen können wir besonders deutlich erkennen, wie stark er seine Welt, in der er lebt, miterschafft. Nehmen wir zum Beispiel seine Fähigkeit, ein bestimmtes Spektrum an Schallwellen zu hören. Innerhalb dieses Spektrums kann er Töne in seinem Erleben konstruieren und damit auf seine spezifisch menschliche Weise erfahren, sprich hören. Dabei bleibt es aber nicht. Er hört diese Töne nicht nur als empfangendes Wesen, er erschafft sie auch. Durch seine Fähigkeit, zu hören, konnte er die sprachliche Kommunikation entwickeln und perfektionieren. Und, was vielleicht noch erstaunlicher ist, er hat Musikinstrumente erschaffen, mit denen er in diesem Hörspektrum Töne und sogar komplexe Symphonien erzeugen kann, die es vorher auf dieser Erde nicht gab. So erschafft der Mensch durch seine Art der Wahrnehmung und seine Art zu leben eine ganz eigene Welt, von der ein Tier, das nicht hören kann, ausgeschlossen ist.

Wie stark der Mensch seine Welt selbst erschafft, können wir daran ermessen, dass Geologen inzwischen davon ausgehen, dass wir erdgeschichtlich in ein neues Zeitalter eingetreten sind, in dem der Mensch das Antlitz der Erde, also die natürliche Beschaffenheit der Oberfläche der Erde, unwiederbringlich verändert hat. Diese Tatsache ist natürlich erschreckend, da sich der Mensch mit seiner ungeheuer mächtigen Gestaltkraft von allen anderen Lebewesen auf der Erde unterscheidet und wir nicht wissen, ob sich der Mensch nicht dadurch langfristig seiner eigenen Lebensgrundlage beraubt. Nichtsdestotrotz ist die grundsätzliche Dynamik, dass jedes Lebewesen die Welt, die es mit seinen Sinnen erfährt, schöpferisch mitgestaltet, dagegen ein natürlicher Prozess.

Zwischen Zeit und Ewigkeit

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