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Wie wir eine äußere Wirklichkeit erschaffen

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Ist uns das bewusst? Meistens nicht. Wir beziehen uns im Alltag auf Beschreibungen wie »Mann« oder »Frau« und glauben, uns damit ganz nah an der »Wirklichkeit« zu bewegen, ohne dass wir uns darüber im Klaren sind, wie wir mit diesen Begriffen »Wirklichkeit« kreieren. Meistens sind wir davon überzeugt, dass wir die Dinge korrekt und neutral – also objektiv – sehen und merken nicht, dass wir uns in der Regel nur auf bestimmte Zuschreibungen beziehen. Die unmittelbare Erfahrung von Objekten wird dabei typischerweise ausgeblendet oder tritt in den Hintergrund.

Wenn wir zum Beispiel im Alltagsbewusstsein auf eine Vase schauen, erfahren wir sie normalerweise aus dem Blickwinkel ihrer Funktion oder ihrer Gefälligkeit. Beide Kategorien – die Funktionalität und die ästhetische Bewertung – sind gedankliche Zuschreibungen, die uns die unmittelbare Sicht verstellen. Daher sehen wir im Alltagsbewusstsein nicht die Dinge, so wie sie in unserer unmittelbaren Erfahrung auftauchen, sondern wir sehen die Dinge aus der Perspektive der Funktionalität und überlagern sie mit Zuschreibungen und Bedeutungen, die wir ihnen unbewusst geben.

Das macht für das alltägliche Leben einen großen Sinn, da die Dinge für uns dann handhabbar werden. Wir wissen um die Funktion einer Vase und können sie benützen. Wir erkennen in einem Menschen eine »Kollegin« und können uns entsprechend im Kontakt angemessen verhalten. So begegnen wir nicht den Dingen selbst, sondern betrachten jeden Gegenstand, jede Erfahrung und jedes lebendige Wesen in ihrem Kontext, ihrer Funktionalität und der Bedeutung, die sich daraus ergibt. Aus diesem Grund wird die Alltagsrealität auch als »äußere Wirklichkeit« bezeichnet. Sie ist eine Perspektive, bei der wir von außen auf die Dinge schauen und diese Abstraktion eine gewisse Objektivierung erlaubt. Aus diesem Abstand heraus lassen sich die Dinge und Situationen handhaben und entsprechend ihrer Funktion sinnvoll gestalten.

Doch ist es wirklich objektiv, wenn wir eine Vase als Gefäß für Blumen erkennen? Ist es »real«, wenn wir einen Menschen als »von uns unabhängiges Wesen« behandeln? Oder sind dies nur geistige Reflexionen bestimmter Sichtweisen, die tief in uns verankert sind und uns helfen, uns in der Welt zurechtzufinden?

Dabei sind diese Zuschreibungen, die wir den Situationen und Objekten überstülpen, weit mehr als persönliche Wertungen und Vorstellungen. Tatsächlich sind viele davon kollektive Deutungsmuster, durch die wir die Welt wie durch eine generalisierte Brille sehen. Eine Vase wird in dieser Kultur von allen Menschen als Gefäß für Blumen erkannt und benützt, und die kollektive Vorstellung eines Menschen beruht immer auf der Idee eines unabhängigen Wesens. Auf diese Weise werden die Deutungsmuster der Alltagsrealität zu einer kollektiven Hypnose. In der Transpersonalen Psychologie spricht man daher von der Alltagsrealität als »Konsensustrance«.

Dadurch, dass die meisten Zuschreibungen der Alltagsrealität kollektive Deutungsmuster sind, werden sie durch jede normale Handlung und jede alltägliche Konversation bestätigt. Die Vielschichtigkeit der inneren unmittelbaren Erfahrungen weicht dem Diktat einer oberflächlichen allgemeingültigen Zuschreibung, die uns eine Wirklichkeit vermittelt, die für alle gleich erscheint, da sie von den meisten Menschen auf die gleiche Weise gedeutet wird. So entsteht das Gefühl einer verlässlichen, objektiven Welt, in der wir alle leben und welche wir kollektiv auf die gleiche Weise wahrnehmen.

Doch erfahren wir wirklich eine Vase oder einen Menschen auf die gleiche Weise wie andere Personen, die diese Vase anfassen oder diesem Menschen begegnen? Oder schauen wir in der Regel nur gemeinsam durch die kollektive Brille bestimmter Interpretationsmuster, die uns die Illusion einer beständigen, äußeren Welt mit eindeutig definierten Objekten vorgaukelt? Je genauer wir die Erfahrung von einzelnen Menschen betrachten, desto vielschichtiger und individueller wird sie. Doch solange wir uns auf der Oberfläche einer kollektiven Alltagsdeutung bewegen, scheinen wir alle in der gleichen Welt zu leben.

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