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Wie die Dinge lebendig werden

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Doch nicht nur unser Identitätsbegriff, sondern auch unsere grundlegende Sicht auf die Welt verschiebt sich: Sogenannte Dinge wie ein Baum oder ein Stuhl fangen plötzlich an, lebendig zu werden und ihre Eigenschaften zu verändern. Hört sich das nicht verrückt oder esoterisch an? Kann ein Ding wie ein Stuhl wirklich lebendig werden? Ein Baum ist zumindest noch eine Pflanze, also ein lebendiges Wesen, obwohl wir ihn meist genauso als ein Ding behandeln. Aber ein Stuhl? Dieser ist doch wirklich ein feststehendes totes Objekt, oder?

Natürlich hat ein Stuhl kein Eigenleben wie eine Pflanze oder ein Mensch, aber aus der Perspektive unserer lebendigen Erfahrung gibt es keinen unabhängigen Stuhl. Daher kann sich unser Erleben des Stuhles, je nachdem in welchem Bewusstseinszustand wir uns gerade befinden, sehr unterschiedlich gestalten. Er kann für uns ein Gebrauchsgegenstand sein, den wir zwar nutzen, aber kaum wahrnehmen. Er kann sich für uns jedoch auch in einem Moment der Muße zu einer tiefen sinnlichen Erfahrung des Niederlassens und Getragen-Werdens verwandeln.

Machen wir nicht alle die Erfahrung, dass der »gleiche« Blick aus dem Küchenfenster unserer Wohnung, je nachdem in welchem Zustand wir uns befinden, eine sehr unterschiedliche Landschaft offenbaren kann? Manchmal rührt sie uns an und wir empfinden Vertrautheit, Schönheit und Dankbarkeit. Vielleicht sehen wir sogar eine vollkommen neue Landschaft. Manchmal sehen wir sie jedoch wie durch den Schleier der Gewohnheit und können nichts dabei empfinden.

Wenn wir die lebendige Erfahrung ernst nehmen und die Wirklichkeit nicht nur durch die äußere Erscheinungsform von Menschen oder Dingen definiert wird, dann bekommt der Wirklichkeitsbegriff eine völlig neue Dimension. Er wird vielschichtig und regelrecht lebendig. Plötzlich ist ein Ding nicht mehr nur ein Ding, sondern eine lebendige, sich verändernde Erfahrung. Da ist ein Nachbar kein von uns unabhängiges Objekt, sondern wir erfahren hier ein lebendiges Beziehungsgeschehen, welches immer die Chance bietet, neue und überraschende Facetten hervorzubringen.

Wenn wir also denken, dass die Wirklichkeit feststehend ist – oder anders ausgedrückt: dass ein Nachbar immer gleich ist und gleich bleibt –, liegt dies nur daran, dass wir uns gedanklich auf eine bestimmte Wirklichkeitsperspektive festgelegt haben und unserer lebendigen Erfahrung keinen Wert beimessen. Der Begriff »Wirklichkeit« wird hier auf eine materielle, objekthafte Beschreibung der Welt verengt. In dieser Beschreibung der Welt spiegeln sich wiederum grundlegende gesellschaftliche Übereinkünfte. In der westlichen Kultur ist die Sichtweise, Menschen und Dinge als voneinander unabhängige Objekte zu betrachten, tief verwurzelt. Die lebendige Erfahrung des Einzelnen wird grundsätzlich der objekthaften Beschreibung der Welt untergeordnet, wenn nicht sogar negiert.

Das hat weitreichende Auswirkungen auf die innere Erfahrung des Menschen. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, die uns ständig suggeriert, dass unsere lebendige Erfahrung unbedeutend ist oder keine Wirklichkeit besitzt, sondern nur die äußeren, materiellen Erscheinungen zählen, dann nehmen wir automatisch unsere inneren Erfahrungen nicht mehr so ernst. Sie verschwinden mehr und mehr aus dem Vordergrund unseres Bewusstseins, und das Denken, dessen Domäne die Beschreibung und Benennung von Objekten ist, gewinnt mehr und mehr an Bedeutung.

Leben wir nicht in einer Gesellschaft, in der Gefühle als unbedeutend und subjektiv betrachtet und vernachlässigt werden? In der die Seele der Effektivität und Produktivität untergeordnet wird und entsprechend nicht selten als Störenfried erscheint? Wir geben Unsummen für die psychotherapeutische Behandlung von »seelischen Störungen« aus, aber fördern in unseren Schulen hauptsächlich kognitive Fähigkeiten. Ist es da ein Wunder, dass Menschen emotional verarmen, zu Suchtmechanismen neigen und irgendwann in der Psychotherapie als gesellschaftlich anerkanntem Zufluchtsort der Seele landen?

Ein typisches Beispiel dafür, welche Auswirkungen verschiedene Realitätsbegriffe haben können, findet sich in der Medizin. Das vorherrschende Modell der modernen westlichen Medizin hat sich aus der Sichtweise einer materiellen Welt von unabhängigen Objekten heraus entwickelt. Hier werden menschliche Organe meist unabhängig vom übrigen Körper und auch relativ unabhängig vom energetischen System, den seelischen Einflüssen und den Lebensumständen betrachtet und behandelt. Der Medizin des Ostens, wie zum Beispiel der Akupunktur, liegt eine ganz andere Weltsicht zugrunde: Hier wird Körper und Seele als ein ganzheitliches, lebendiges Geschehen gesehen. So haben sich die Methoden der östlichen Medizin nicht aus dem Sezieren und dem Studium von Organen entwickelt, die toten Menschen entnommen wurden, sondern aus der Beobachtung des lebendigen Menschen.

Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, eine Bewertung verschiedener medizinischer Sichtweisen und Methoden vorzunehmen. Wie wir wissen, können beide medizinische Systeme wertvolle Beiträge zur Gesundheit des Menschen beisteuern. Es geht mir im Moment lediglich darum, aufzuzeigen, wie stark sich ein bestimmter Wirklichkeitsbegriff als kollektive Hypnose auf eine Gesellschaft stülpt und welch drastische Auswirkungen dies auf die Entwicklung der Gesellschaft und auf die Erfahrung des einzelnen Menschen hat.

Bei diesen Betrachtungen wird deutlich, dass der Wirklichkeitsbegriff sich nicht auf eine feststehende und allgemeingültige Entität bezieht, da es diese in ihrer Absolutheit und Allgemeingültigkeit gar nicht gibt. Sowohl subjektive Bewusstseinszustände als auch kollektive Beschreibungen der Wirklichkeit können völlig unterschiedliche Welten hervorbringen. Insofern muss man den Wirklichkeitsbegriff auf seine ursprüngliche Wortbedeutung zurückführen: Wirklichkeit ist das, was wirkt und damit unsere Welt bestimmt. Dieser Wortsinn weist auf eine Vielschichtigkeit von Realität hin und lässt zu, dass sich Wirklichkeiten ändern können.

Zwischen Zeit und Ewigkeit

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