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Die Schlüsselrolle des Bewusstseins

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Wenn wir uns jetzt noch vor Augen führen, dass auch der einzelne Mensch in verschiedenen Bewusstseinszuständen und damit inneren Welten zu Hause ist, dann zerfällt die gängige Idee einer einzigen Welt, die unsere Wirklichkeit ausmacht, vollständig. So kann ich mir gut vorstellen, dass manche Leserin oder mancher Leser bei der Lektüre dieses Kapitels das Gefühl hat, schwindelig und zunehmend unsichererer und verwirrter zu werden. Diese Reaktion wäre durchaus berechtigt und sehr natürlich. Schließlich ist es in diesem Kapitel meine Absicht, den Schleier der gewohnten und allgemeingültigen Wirklichkeit, die uns eine kohärente, äußere Welt vorgaukelt, zu lüften. Ja, sogar die gängige Vorstellung, dass wir selbst eine einheitliche Person sind, wird hinterfragt. Damit rüttle ich an dem Grundgerüst, auf dem das persönliche und gesellschaftliche Leben aufgebaut ist.

Wenn uns daher diese Betrachtungen verwirren oder verunsichern, können wir sicher sein, dass wir über den Schleier einer gewohnten einheitlichen Wirklichkeit hinausgetreten sind und dort einer neuen, vielschichtigen und vor allem lebendigen Wirklichkeit begegnen. Hier sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, nämlich als in sich bestehende, unabhängige Entitäten. Vielmehr wird uns zunehmend bewusst, dass die äußere Welt nicht unabhängig von der betrachtenden Person existiert und es damit keine allgemeingültige Erfahrung einer äußeren Welt gibt, sondern nur unendlich viele Betrachtungsperspektiven.

Wenn wir uns jetzt im nächsten Schritt bewusst machen, dass auch der sogenannte Betrachter keine unabhängige Gegebenheit ist, sondern wiederum von der Betrachtungsperspektive, also dem jeweiligen Bewusstseinszustand, abhängt, verlassen wir endgültig die Vorstellung einer verlässlichen äußeren und inneren Welt. Was bleibt, ist eine vielschichtige Realität der totalen Bezogenheit und vor allem eine Wirklichkeit, die sich in jedem Augenblick verändern kann. Oder anders gesagt, die nicht feststeht. Es genügt, dass die betrachtende Person einen anderen Bewusstseinszustand einnimmt und damit eine andere ­Perspektive, schon gerät die Welt in Bewegung und zeigt neue Facetten. Wie beim Blick durch ein Kaleidoskop, bei dem die geringste Bewegung des Betrachters neue Farbspiele erzeugt, so kann uns eine neue Betrachtungsweise die Welt, einschließlich unserer selbst, in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen.

Ist das nicht gespenstisch und ein wenig verrückt? Ja, im eigentlichen Wortsinn ist es »ver-rückt«, denn unsere übliche Sicht einer äußeren statischen Welt, in der eine klare Ordnung herrscht, wird hier erschüttert. Das bedeutet aber nicht, dass wir im psychiatrischen Sinne verrückt werden und damit nicht mehr alltagstauglich leben können, sondern dass wir die Möglichkeit bekommen, durch den Schleier der gewohnten Wirklichkeitsperspektive hindurchzuschauen und uns damit befassen können, wie Wirklichkeit – oder besser Wirklichkeitsperspektiven – entstehen.

Unser Blick geht dabei vom äußeren Schein der Dinge weg und wendet sich immer mehr nach innen. Wir fragen uns, was in unserem Geist geschieht, dass bestimmte äußere Erfahrungen zutage treten. Was ist der Grund dafür, dass sich innere Perspektiven und damit einhergehend die äußere Weltsicht verändern? Welche Bedeutung haben dabei Bewusstseinszustände und können wir diese für unser Leben nutzbar machen?

All diese Fragen führen uns von der Oberfläche des Lebens zum Hintergrund des Bewusstseins, aus dem heraus sich unsere Erfahrungen bilden. Denn zuinnerst und zuerst steht hinter allen äußeren und inneren Erfahrungen das Bewusstsein als der Erfahrungsraum, in dem sich unterschiedlichste Erfahrungsdimensionen abbilden. Das Bewusstsein ist das Subjekt, in dem sich alle Phänomene spiegeln. Sogar die Erfahrung der eigenen Person, die in einem Körper erscheint, ist nichts weiter als ein Objekt im Spiegel des Bewusstseins.

Kein Objekt, keine Erfahrung, kann unabhängig vom Subjekt in Erscheinung treten, da es ein Objekt ohne Subjekt nicht gibt. Daher ist für das jeweilige Zustandekommen einer Erfahrung entscheidend, welche Perspektive das Subjekt einnimmt und welche Beschaffenheit es hat. Oder anders gesagt: Auf was richtet sich unser Bewusstsein und wie ist es gerade beschaffen? Diese Frage steht am Anfang aller Erfahrungen und entscheidet letztlich darüber, wie wir das Leben konstruieren.

Um die Bedeutung dieser Frage anschaulich zu machen, kann es helfen, sich mit Fotografie zu befassen. Fotografieren ist die Technik, Objekte in der äußeren Welt abzulichten. Jede Fotografin weiß aber, dass das jeweilige Bild in Abhängigkeit zum Subjekt der Fotografin und zur Beschaffenheit der Linse ihres Fotoapparats entsteht. Was bewegt die Fotografin gerade? Was sieht sie? Welchen Fokus auf das Objekt nimmt sie dadurch ein? Welchen Bildausschnitt wählt sie? Wie stellt sie die Brennweite und die Schärfe der Linse ein? Wenn wir den Fotoapparat als Verlängerung des Bewusstseins und der Wahrnehmungsorgane einer Fotografin betrachten, dann ist das jeweilige Bild eben nicht nur ein Produkt des Blickwinkels, den die Fotografin einnimmt, sondern auch der Beschaffenheit ihres Bewusstseins.

Jedes Foto weist uns damit auf das im Hintergrund stehende Bewusstsein der Fotografin hin, aus dessen Beschaffenheit heraus das Bild entstanden ist. Sichtbar ist aber zunächst nur das Foto, nicht das Subjekt, das es geschaffen hat. Genauso wenig, wie wir unser eigenes Bewusstsein wahrnehmen, wenn wir ein Foto anschauen. Und doch gibt es die Erfahrung des Fotos ohne unser Bewusstsein und ohne das Bewusstsein der Fotografin nicht.

Wenn wir diese Welt und unser menschliches Leben tiefer begreifen wollen, dann ist es unumgänglich, dass wir in den Blick nehmen, was hinter allen Dingen steht: das Bewusstsein und seine Beschaffenheit. Es ist der Kristallisationspunkt, aus dem heraus verschiedene Welten nebeneinander und ineinander in Erscheinung treten. Nur wenn wir diese grundlegende Dynamik und ihre Gesetzmäßigkeiten tiefer begreifen, werden wir das Wunder der Schöpfung nochmals neu erfassen und lernen, kreativ als Mensch darin zu leben.

In den nun folgenden Kapiteln werde ich die drei grundlegenden Bewusstseinszustände und ihre Gesetzmäßigkeiten darstellen – die äußere Welt der Alltagsrealität, die innere Welt der Seelischen Realität und unser Innerstes, die Absolute Realität.

Zwischen Zeit und Ewigkeit

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