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IV. Verweisung auf Einzelakte und Irrtumsproblematik

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Auch die Behandlung von Irrtumsfragen weist Unterschiede zu Blanketttatbeständen auf, die durch abstrakt-generelle Regelungen ausgefüllt werden. Setzt der Tatbestand eine behördliche oder justizielle Einzelanordnung voraus, so führt der Irrtum über die Existenz und den Inhalt dieser Anordnung völlig unstreitig zum vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum gem. § 16 Abs. 1 StGB (bzw. § 11 Abs. 1 OWiG)[160]. Die Privilegierung gegenüber dem Täter, der über abstrakt-generelle Normen irrt (Rn. 35), hat nichts mit einer generell größeren Verzeihlichkeit der Unkenntnis einer hoheitlichen Verfügung zu tun. Eher ist das Gegenteil der Fall: Ein Verkehrszeichen oder eine persönlich zugestellte Einzelverfügung dürfte in der Regel viel leichter wahrnehmbar sein und normalerweise auch weit stärker ins Bewusstsein des Bürgers dringen, als ein im Bundesgesetzblatt verkündetes Gesetz[161]. Der Unterschied zwischen bewusster und unbewusster Auflehnung gegen die Rechtsordnung ist hier deshalb mit Vorsatz und Nichtvorsatz gleichzusetzen, weil bei den maßgeblichen Tatbeständen, sei es § 327 StGB, § 1 Abs. 1 Nrn. 1–4 WiStG oder gar §§ 19 f. WehrStG, vom Bürger Loyalität und Gehorsam als solcher gefordert wird. Eine eigenständige Subsumtion des Lebenssachverhalts durch den Bürger unter die Ermächtigungsgrundlage findet nicht statt (vgl. Rn. 45). Von vorsätzlichem Ungehorsam kann nur dann die Rede sein, wenn der Bürger die Verfügung kennt.

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Soweit der Einzelakt selbst keine Regelung trifft und die Rechtsanwendung dem Bürger überlassen bleibt, liegt allerdings nur ein Verbotsirrtum gem. § 17 StGB (bzw. § 11 Abs. 2 OWiG) vor, unstreitig etwa dann, wenn sich der Bürger über seine Gehorsamspflicht als solche irrt. Denkbar wäre auch, dass der Adressat lediglich über die Verbindlichkeit im Einzelfall irrt: Er könnte z.B. glauben, seine Beschwerde gegen ein vorläufiges Berufsverbot gem. § 132a StPO habe (entgegen § 307 Abs. 1 StPO) aufschiebende Wirkung, oder ihm sind die Rechtsfolgen von § 80 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1–3 VwGO unbekannt. Entgegen der wohl h.M.[162] liegt auch hier nur ein Verbotsirrtum vor, denn der Bürger irrt in Kenntnis des Einzelaktes lediglich über dessen gesetzlich bestimmte Vollziehbarkeit[163]. Ist dem Bürger die Existenz des belastenden Hoheitsakts vollauf bewusst, hat er genügend Anlass, sich darüber zu informieren, inwieweit ihn zum maßgeblichen Zeitpunkt Gehorsamspflichten treffen. Auch verfügt er insofern regelmäßig über die für die Rechtsanwendung notwendigen Tatsachenkenntnisse. Hängt der Sofortvollzug allerdings von einer ausdrücklichen Anordnung ab, etwa bei § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO, greift bei Unkenntnis (z.B. durch unaufmerksames Lesen des Bescheids) wiederum § 16 Abs. 1 StGB (bzw. § 11 Abs. 1 OWiG)[164]. Die gleiche Abgrenzung sollte bei standardisierten Verwaltungsakten Anwendung finden: Wer ein Verkehrszeichen übersieht, handelt zwar fahrlässig, wer aber glaubt, ein optisch richtig wahrgenommenes Stoppschild gewähre Vorfahrt, befindet sich lediglich im (vermeidbaren) Verbotsirrtum[165]. Insoweit fordert der Gesetzgeber eben eine eigenverantwortliche Subsumtion durch den Verkehrsteilnehmer.

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Bei Genehmigungen und Hoheitsakten, die die Strafbarkeit ausschließen, kommen die eben aufgestellten Regeln entsprechend zur Anwendung[166]. Nimmt der Täter irrig an, er verfüge tatsächlich über die erforderliche behördliche Erlaubnis, die ihm auch nicht auf irgendeine Weise wieder entzogen wurde, oder glaubt er an eine einem Dritten erteilte Genehmigung, z.B. im Falle von § 404 Abs. 1 Nr. 1 SGB III an das Vorliegen eines Aufenthaltstitels oder im Falle von § 21 Abs. 1 Nr. 2 StVG an das Vorliegen einer Fahrerlaubnis, schließt dies gem. § 16 Abs. 1 StGB (bzw. § 11 Abs. 1 OWiG) den Vorsatz aus. Dabei sind allerdings Fahrlässigkeitsstrafbarkeiten zu beachten, etwa in § 21 Abs. 2 Nr. 1 StVG. Handelt der Täter rechtswidrig und glaubt dabei, über eine Erlaubnis zu verfügen, die so oder in dieser Reichweite gar nicht erteilt werden kann, liegen weder Tatbestands- noch Erlaubnistatbestandsirrtum vor, sondern ein Doppelirrtum, mit dem nach allgemeinen Grundsätzen gem. § 17 StGB zu verfahren ist. Bei Unkenntnis der öffentlich-rechtlichen Genehmigungspflicht sollte entgegen der (nur insoweit wohl) abweichenden h.M.[167] generell von einem Verbotsirrtum i.S.d. § 17 StGB ausgegangen werden[168]. Die Unterscheidung nach der Zweckrichtung der Genehmigungspflicht (oben Rn. 49), wird auch von der Rspr. nicht konsequent durchgehalten[169]. Wenn eine behördliche Kontrolle für nötig gehalten wird, kann das Verhalten doch auch eben erst nach erteilter Genehmigung sozialadäquat sein[170]. Zudem kommt beim unbewussten Verstoß gegen Anzeigepflichten ebenfalls nur § 17 StGB zur Anwendung[171], obwohl bloß anzeigepflichtige Tätigkeiten typischerweise ungefährlicher sind, als solche, die einer Genehmigung bedürfen. Um einen bloßen Verbotsirrtum handelt es sich richtigerweise auch dann, wenn der Täter über die Vollziehbarkeit bzw. Rechtskraft der Entziehung seiner Genehmigung[172] irrt oder die rechtlichen Voraussetzungen einer Genehmigungsfiktion nach § 42a Abs. 1 S. 1 VwVfG[173]. Das Gleiche gilt für die Annahme, eine ausländische Genehmigung (oben Rn. 41), z.B. ein Waffenschein oder eine Fahrerlaubnis (dazu §§ 28 ff. FeV), gelte unbegrenzt im Inland[174].

1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung§ 4 Anknüpfung des Strafrechts an außerstrafrechtliche Normen › D. Rechtsnormative Tatbestandsmerkmale

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