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II. Rechtsnormative Tatbestandsmerkmale
und intertemporales Strafanwendungsrecht
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Unstreitiger Ausgangspunkt für die Beurteilung der Strafbarkeit ist auch hier (vgl. oben Rn. 30) der zur Tatzeit geltende Rechtszustand. Nachträgliche Gesetzesänderungen, welche sich mittelbar strafschärfend auswirken würden, bleiben damit in jedem Fall außer Betracht. Bei Anfechtung eines Übereignungsgeschäfts aktiviert die Fiktion des § 142 Abs. 1 BGB auch nicht rückwirkend die Strafbarkeit des Erwerbers wegen § 246 StGB, wenn er in der Schwebephase die Sache wie ein Eigentümer benutzt hat. Genauso macht sich keiner bei Gebrauch eines Fahrzeugs, für welches Haftpflichtversicherungsschutz nur auf Grund einer vorläufigen Deckungszusage besteht, wegen § 6 PflVG strafbar, wenn die vorläufige Deckung später infolge der Nichteinlösung des Versicherungsscheins nachträglich entfällt[189].
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Umstritten ist allerdings, wie es sich mit tätergünstigen Änderungen des Rechtszustands verhält. Denkbar wäre eine entsprechende Anwendung von § 2 Abs. 3 StGB. Würde der Gesetzgeber z.B. die Risikoverteilung beim Gutglaubenserwerb nach den §§ 932 ff. BGB bzw. § 366 HGB, den Umfang des Vermieterpfandrechts gem. § 562 BGB oder die gesetzliche Erbfolge nach den §§ 1924 ff. BGB ändern, stünden dahinter sicherlich auch gewandelte gesellschaftliche Vorstellungen, die unter Umständen Auswirkungen auf Strafbarkeiten haben könnten, hier nach den §§ 242, 246, 263, 289 StGB. Ein Teil des Schrifttums, etwa Hassemer[190] und Tiedemann[191], lässt deshalb bei Änderung außerstrafrechtlicher Normen, die einem Merkmal vorgelagert sind, das neue Recht zur Anwendung kommen, wenn sich dieses im konkreten Fall als wirklich „günstiger“ darstellt. Nach Dannecker bleibt § 2 Abs. 3 StGB zwar grundsätzlich unangewendet, ein vergleichbares, aus dem ultima-ratio-Gedanken und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip hergeleitetes Milderungsgebot soll aber dann greifen, wenn der Regelungseffekt aus Gerechtigkeitserwägungen beseitigt wurde[192]. So könnten zivilrechtliche Änderungen beim Gutglaubenserwerb im Hinblick auf Art. 14 GG und das Rechtsstaatsprinzip zwar keine Rückwirkung haben. Daraus folge aber nicht, dass der vormalige Eigentümer, der dies nach neuem Recht auch geblieben wäre, tauglicher Täter eines Eigentumsdelikts sein müsse[193].
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Nach zutreffender Ansicht[194] muss die nachträgliche Änderung der vorgelagerten Rechtsnormen jedoch generell außer Betracht bleiben. § 2 Abs. 3 StGB kommt weder direkt noch vom Rechtsgedanken her zur Anwendung. Wird im Rahmen eines Tatbestandes eine bestimmte Rechtsfolge zum Tatumstand, werden die gesellschaftlichen Vorstellungen, die hinter dem (außerstrafrechtlichen) Regelungseffekt stehen, bei der strafrechtlichen Bewertung doch gerade ausgeblendet. Zeitliche Grenzen der Aufarbeitung historischer Ungerechtigkeiten könnten auch kaum gezogen werden. Zudem entstünde bei Anwendung des Milderungsgebots wieder das Problem, dass auf z.B. bei den Eigentums- und Vermögensdelikten gem. §§ 242, 246, 263, 289 StGB zwischen strafrechtlich geschütztem Vermögen und nur zivilrechtlich anerkanntem, aber nicht diebes- und unterschlagungssicherem Eigentum unterschieden werden müsste (siehe auch oben Rn. 57), was zu zahlreichen Wertungswidersprüchen führen könnte. Durch das Strafrecht wird die Eigentumsordnung als das „äußere Mein und Dein“[195] doch gerade um ihrer selbst willen geschützt. Diese Grundsätze lassen sich auch auf andere Tatbestände mit rechtsnormativen Merkmalen übertragen: Auch bei der Untreue gem. § 266 StGB bleibt ein vermögensnachteiliges Verhalten, das im Tatzeitpunkt dem Interesse des Treugebers widerspricht, weiterhin strafwürdig, egal ob der Geschädigte nachträglich sein Einverständnis erteilt[196] oder die Vermögensdisposition heute aufgrund einer Gesetzesänderung zulässig wäre, etwa wenn nach zweckfremder Verwendung von Haushaltsmitteln die gesetzlichen Aufgaben der geschädigten Körperschaft erweitert[197] oder das Verbot zur Rückgewähr von eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen gem. §§ 30 Abs. 1 i.V.m. 32a GmbHG a.F. durch das MoMiG[198] gestrichen wurden. Nur wenn (rein fiktiv) der Gesetzgeber bei § 266 StGB die Pflicht als solche abschaffen würde, ausschließlich im Interesse des Vermögensträgers zu handeln, müsste man dem auch im Hinblick auf Altfälle nach § 2 Abs. 3 StGB Bedeutung zumessen. Ebenso wirken im Rahmen der Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 1 Nr. 1–3 AO Steuererleichterungen (auch durch Erweiterung von steuerlichen Abzugsmöglichkeiten) oder das Auslaufen einer Steuer (ggf. auch durch Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[199]) fast immer nur für die Zukunft. Da der Steueranspruch für frühere Veranlagungszeiträume regelmäßig nicht untergeht, müssen vergangene Steuerstraftaten auch weiter geahndet werden, ohne dass es auf § 2 Abs. 3 und 4 StGB ankäme[200]. Anders wäre dann zu entscheiden, wenn der Gesetzgeber steuerliche Erklärungspflichten, wie § 153 AO oder § 18 UStG, suspendieren würde, (nur) insoweit weist § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO nach zutreffender Ansicht Blanketteigenschaften auf[201], so dass die entsprechenden Grundsätze (oben Rn. 30) zur Anwendung kommen.