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I. Griechenlands „klassische Zeit“ (500–300 v.Chr.)

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Nach einer ersten Einwanderungswelle um 2000 v.Chr. kommen um 1200 v.Chr. mit der Dorischen Wanderung wiederum Griechen aus Kleinasien (der heutigen Türkei) in das Gebiet des heutigen Griechenland und bilden im Lauf der Zeit selbstständige Stadtstaaten. Die sogenannte „klassische Zeit“ beginnt um 500 v.Chr. mit dem Ionischen Aufstand, dem Aufstand der ionischen (kleinasischen) Griechen gegen die Perser, die im Vorderen Orient die Vorherrschaft innehaben; die Siege der griechischen Allianz unter der Führung Athens leiten eine Zeit politischer Unabhängigkeit ein. Im Peloponnesischen Krieg (431–404 v.Chr.) um die Vorherrschaft innerhalb Griechenlands unterliegt Athen am Ende Sparta. Die Eigenständigkeit der griechischen Stadtstaaten endet zu Beginn des 4. Jahrhunderts; zuerst wird Griechenland von Theben beherrscht, dann von Makedonien unter dessen König Philipp II. (reg. 359–336 v.Chr.) und seinem Sohn Alexander (reg. 336–323 v.Chr.), dessen bis Indien und Ägypten reichendes Riesenreich nach seinem Tod allmählich zerfällt. Um 200 v.Chr. erobern die Römer Griechenland.[6]

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Die „klassische Zeit“ ist eine kulturelle Blütezeit mit Blick auf Architektur, bildende Kunst, Musik, Literatur – und Philosophie. Die Vorsokratiker (d.h. die dem Sokrates vorausgehenden Philosophen, genannt seien Thales, um 624–546 v.Chr.; Pythagoras, um 572–480 v.Chr.; Heraklit, geb. um 540 v.Chr.; Parmenides, geb. um 540 v.Chr.) formulieren erste Positionen im Bereich der Naturphilosophie und Kosmologie, der Religionsphilosophie, Ontologie, Ethik und politischen Philosophie.[7] Sokrates (um 470–399 v.Chr.), der angesichts erkannter eigener Unwissenheit den Gesprächspartner durch bohrendes Fragen zum Überdenken bisheriger und zur Erlangung neuer Wertvorstellungen bewegen will, gilt als Vor- und Urbild abendländischer Philosophie. Mit Platon (428–348 v.Chr.) und Aristoteles (384–323 v.Chr.) erreicht die klassische griechische Philosophie ihren Gipfel. Die Akademie, die Platon in Athen gründet, wird zum internationalen Zentrum der Wissenschaft und Philosophie. Platons dialogisch strukturierte Schriften sind einerseits erkenntnistheoretisch ausgerichtet: Er zeigt die Begrenztheit des auf Wahrnehmung basierenden Wissens auf und führt die Idee (idea) als Größe ein, mit der überhaupt nicht wahrnehmbare Begriffe sowie auch nicht wahrnehmbare Allgemeinbegriffe von wahrnehmbaren Gegenständen erfassbar sind; die Welt der Ideen sei die eigentliche Wirklichkeit. An ihrer Spitze stehe, hier treffen sich Erkenntnistheorie und – andererseits – Ethik, die Idee des Guten. In seiner Politeia entwickelt Platon eine Ethik bezogen auf den Menschen und auf das Staatswesen, in dem idealerweise die Philosophen Könige sind. In den Nomoi, seinem Alterswerk, formuliert Platon, deutlicher praxisorientiert, gute Gesetze und Institutionen.[8] Aristoteles schafft, indem er aus empirischen Erkenntnissen Rückschlüsse auf allgemeine Prinzipien zieht, ein universales wissenschaftliches und philosophisches Werk, das im Mittelalter zur wichtigsten Textgrundlage philosophischen Denkens wird. Das gilt für seine formale Logik und die Dialektik (die Kunst zu argumentieren) ebenso wie für seine Metaphysik (als Lehre dessen, was jenseits der Naturdinge liegt), die im Gegensatz zu Platons Sicht den Einzeldingen den Vorrang vor den Allgemeinbegriffen einräumt, sowie auch für seine Ethik und politische Philosophie. Nach AristotelesPolitik kann sich der Mensch, als „politisches Lebewesen“, erst in der Gemeinschaft entfalten, idealerweise in einem gerechten Staat, gebildet aus Freien und Gleichen (ausgenommen sind Frauen und Sklaven).[9]

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Was das griechische Strafrechtsverständnis und -wesen betrifft,[10] werden in der in Sparta von dem sagenhaften Gesetzgeber Lykurg im 7. Jahrhundert geschaffenen, auf Disziplinierung des Einzelnen und militärische Effizienz des Ganzen gerichteten (ungeschriebenen) Ordnung Normverstöße streng als staatsfeindlich geahndet.[11] Ideengeschichtlich ist dieses (Straf-)Rechtskonzept peripher, das der Athener[12] demgegenüber bedeutsam. Hier formuliert Drakon um 620 v.Chr., in den ersten schriftlichen Gesetzen Athens, eine durch den Staat ausgeübte Ordnung zivil- und strafrechtlicher Normen (letztere von sprichwörtlicher „drakonischer“ Härte, indem auch auf leichte Vergehen wie den Müßiggang die Todesstrafe folgt). Neben das Delikt (im privatrechtlichen Sinn) und die Sünde als ethischen Normverstoß kann so als neue Verständnisgröße das Verbrechen (gegen den Staat) treten.[13] Solon (638–559 v.Chr.) hebt die drakonischen Strafnormen mit Ausnahme der auf Tötungsdelikte bezogenen auf und schafft ein dezidiert mildes Strafrecht; er führt eine gegen den Machtmissbrauch des landbesitzenden Adels und gegen die Schuldknechtschaft gerichtete umfassende soziale Reform durch und entwickelt eine politische Ordnung, nach der das Volk als Ganzes die Herrschaft innehaben soll („Demokratie“ = Herrschaft des Volkes), wobei insbesondere mit Blick darauf, dass Frauen, Sklaven und Fremde von der Mitherrschaft kategorisch ausgeschlossen sind, der heutige vom damaligen Demokratiebegriff abweicht. Das altgriechische Demokratiekonzept etabliert Kleisthenes (geb. um 570 v.Chr.) im Jahr 507 v.Chr. nachhaltig, indem er insbesondere dem Areopag als dem von Adel und Reichen dominierten Rat als politisches Gegenwicht den Rat der 500 (die Bule, bestehend aus je 50 Abgesandten der zehn Phylen, d.h. Verwaltungsbezirke) als Volksvertretung gegenüberstellt. Diese Ordnung enthält auch ein demokratisches, nämlich auf die Beteiligung und Mitverantwortung aller Bürger gestütztes Strafprozessrecht, das dem gerechten Interessenausgleich zwischen Bürger und Staat verpflichtet ist. Mit dem Ostrakismos (Scherbengericht) wird ein bis zum Ende des 5. Jahrhunderts gebräuchliches Instrument eingeführt, im Namen des Gemeinwohls Politiker und Prominente zu verbannen: Einmal jährlich können die Bürger in der Ekklesia (Volksversammlung) ein Scherbengericht durchführen und denjenigen verbannen, dessen Name – bei mindestens 6000 abgegebenen Tonscherben – am Häufigsten auf diesen erscheint.[14]

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Ephialtes (gest. um 460 v.Chr.) und Perikles (495–429 v.Chr.) führen den Demokratisierungsprozess fort, indem sie 462/461 v.Chr. dem Areopag die politische Macht nehmen und ihm von seiner breiten Rechtsprechungskompetenz nur diejenige für Kapitalverbrechen belassen; Verbrechen von Beamten und schwere Verbrechen gegen den Staat werden vor der Bule und der Ekklesia verhandelt, alle anderen Fälle vor den Volksgerichten. Das Verfahren ist vor allen Spruchkörpern ähnlich: Nach Vorbereitung des Falles durch einen dann verfahrensleitenden Beamten und nach Erhebung der Klage durch einen öffentlichen oder privaten Ankläger entscheiden die aus dem Kreis mindestens 30jähriger Freiwilliger einer jeden Phyle bestimmten, im Regelfall Hunderte zählenden und ein bescheidenes Entgelt erhaltenden Geschworenen nach Würdigung der Sach- und Rechtslage geheim über den Fall, indem sie einen Kieselstein oder eine Muschel, im vierten Jahrhundert hierfür speziell angefertigte Bronzescheiben in eine Urne legen. Beweismittel sind Urkunden und Zeugenaussagen, die Folter bezeugender Sklaven ist üblich. Bei Verurteilung stimmen die Geschworenen nochmals über die von Ankläger und Angeklagtem vorgeschlagene Strafart und -höhe ab. Mögliche Strafarten sind Todesstrafe, (eher kurzfristiger) Freiheitsentzug, Verbannung, Aberkennung der Bürgerrechte, Beschlagnahme des Vermögens oder Geldstrafe, wobei die letztere die häufigste ist. Rechtsmittel gegen die Entscheidung gibt es nicht. Zieht der Ankläger seine Anklage zurück oder gelingt es ihm nicht, ein Fünftel verurteilende Stimmen zu erlangen, droht ihm – als Maßnahme gegen den verbreiteten Missbrauch des Instruments – eine hohe Geldstrafe. Nach dem verlorenen Peloponnesischen Krieg verschärfen sich als Reaktion auf die Destabilisierung der religiösen und politischen Ordnung die Delikte im Bereich des politischen Strafrechts und der Gotteslästerung – nun ist nicht mehr nur die Störung sakraler Feste, sondern Gottlosigkeit an sich strafbar, eine Regelung, deretwegen Sokrates 399 v.Chr. zum Tod durch Trank des Schierlingsbechers verurteilt wird.[15] Auch das Hinzutreten weiterer Delikte (etwa Körperverletzung, Verletzung von Fürsorgepflichten und hybris, d.i. die Störung der öffentlichen Ordnung durch tätliche Beleidigung) bewirkt eine allgemeine Verschärfung des Strafrechts im 4. Jahrhundert.[16]

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