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1. Montesquieu (1689–1755)

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Kaum ein Denker der Aufklärung hat die Rechtsreformen des 18. Jahrhunderts so stark beeinflusst wie Charles Louis de Secondat Baron de La Brede et de Montesquieu.[78] Meist verbindet man mit seinem Namen in erster Linie die Lehre von der Gewaltenteilung; nicht zu unterschätzen ist außerdem Montesquieus Einfluss auf die Entstehung der US-Amerikanischen Verfassung.[79] Aber auch für die Entwicklung des Nachdenkens über das Strafrecht besitzt Montesquieu eine überragende Bedeutung.[80]

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Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 60 Jahre nach seinem Tod, schrieb ihm Böhmer den „ersten Rang unter den Schriftstellern über Criminal-Politik“ zu; Montesquieu sei, so Böhmer, „wie ein wohltätiges Gestirn an dem in Rücksicht auf Kriminalgesetzgebung noch ziemlich dunklen Horizonte von Europa“ erschienen.[81] Montesquieu hat nicht nur die Debatten über die Strafrechtsreformen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus inspiriert, sondern durch die mit seinem Namen verbundene Vorstellung der Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt auch das Selbstbewusstsein der Richterschaft im 19. Jahrhundert gestärkt.[82] Zu Recht gilt er als einer der Begründer des modernen Rechtsvergleichs (unter Einschluss des Strafrechtsvergleichs).[83] Montesquieu hat weit über die Jurisprudenz und politische Philosophie hinaus auch die empirischen Sozialwissenschaften, vor allem die Politologie, wesentlich beeinflusst.

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Bereits in seinen 1721 publizierten Perserbriefen, einem fingierten Reisebericht zweier Perser durch Europa, der in satirischer Fassung eine scharfsichtige Kritik an den vorherrschenden gesellschaftlichen und juristischen Zuständen enthält, äußert sich Montesquieu auch zu Fragen des Strafrechts.[84] Dadurch hat er nicht zuletzt Beccaria erheblich beeinflusst.[85]

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Noch sehr viel ausführlicher wird das Strafrecht in Montesquieus Hauptwerk „Vom Geist der Gesetze“ (1748) behandelt.[86] Im Unterschied zu den meisten anderen Denkern der Aufklärung argumentiert Montesquieu nicht auf der Grundlage eines fiktiven Gesellschaftsvertrages, aus dem dann die Befugnisse der Regierung und damit auch die Begrenzungen des Strafrechts hergeleitet werden.

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Montesquieus Herangehensweise ist dagegen zunächst deskriptiv: Er beschreibt die Gesetze und Sitten seines Zeitalters, wobei er weit über Europa bis nach Ostasien und die Neue Welt hinausgreift. Durch das Nebeneinanderstellen höchst unterschiedlicher Regelungen zeigt er ihre Relativität auf; Rechtsbeschreibung ermöglicht so eine distanzierte Rechtsbetrachtung und letztlich Rechtskritik. Es wäre deshalb unrichtig, Montesquieu ohne weiteres als unreflektierten Relativisten zu lesen, der unterschiedliche Gesetze nur beschreiben, sie aber nicht bewerten wolle. Immer wieder rekurriert Montesquieu auf Kriterien wie die „Vernunft“ oder die „Natur der Sache“ und versucht, sie als Bewertungsmaßstab zu verwenden. Allerdings fehlt es an einer klaren Ausarbeitung von Konzept(en) zur Sicherung einer normativen Basis. Immerhin zeigt der Autor an einigen Beispielen, wie er die Bewertung von fremden Gesetzen und Gebräuchen vornehmen möchte. So stellt Montesquieu etwa verschiedene Formen von Sklaverei vor und analysiert sie im Hinblick auf ihre Entstehung und den gesellschaftlichen Kontext, in welchem sie sich halten können.[87]

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Sehr bemerkenswert ist, dass für Montesquieu das Recht nur eine normative Ordnung unter anderen ist. Als eine weitere wichtige Klasse von Normen identifiziert er die Sozialmoral, die „Sitten“, denen er für die Wahrung des Friedens und gesellschaftlicher Stabilität sogar die größere Bedeutung zuschreibt. Er verdeutlicht dies an der Strafgesetzgebung des alten China:

„Die Fürsten, die statt durch die Riten durch die Gewalt der Strafe regierten, verlangten von der Strafe etwas, was nicht in ihrer Macht liegt, nämlich Sitten zu verleihen. Die Strafe vermag sehr wohl einen sittenlosen Bürger, der die Gesetze verletzt, aus der Gesellschaft auszuschließen; aber wenn alle Menschen sittenlos geworden sind, wird die Strafe die Sitten wieder einführen können? Strafen können wohl verschiedene Folgen der allgemeinen Schlechtigkeit hintanhalten, aber bessern können sie das Übel nicht. Als man daher in China die alten Regierungsgrundsätze aufgab und als die Moral dort verloren ging, da verfiel der Staat in Anarchie, und Revolutionen brachen aus.“[88]

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Montesquieu unterscheidet in seinem Hauptwerk die drei Regierungsformen Despotie, Monarchie und Republik[89] und ordnet ihnen als Leitprinzipien den Schrecken, die Ehre und die Tugend zu. Regierungsform und Strafpraxis sieht er in einem engen Zusammenhang: „Strenge Strafen entsprechen mehr der despotischen Regierung, deren Prinzip der Schrecken ist, als der Monarchie oder der Republik, deren Triebfedern Ehre und Tugend sind.“[90] In „gemäßigt regierten Staaten“ würden Faktoren wie „Vaterlandsliebe, Scham und Furcht vor Schande“ die Begehung von Verbrechen verhindern können:

„Einer schlechten Tat überführt zu werden, wird dort die schwerste Strafe sein. Die bürgerlichen Gesetze werden hier also leichter bessernd mitwirken und keines starken Zwangs bedürfen. In diesen Staaten wird ein guter Gesetzgeber weniger auf die Bestrafung als auf die Verhütung von Verbrechen bedacht sein; er wird sich mehr bemühen, die Sitten zu bessern, als Strafen zu verhängen.“[91]

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Strafe und politische Freiheit hängen für Montesquieu eng zusammen. Politische Freiheit besteht für ihn „in der Sicherheit, oder wenigstens in den Glauben, den man an seine Sicherheit hat. Diese Sicherheit wird nie mehr angegriffen als durch die öffentlichen und privaten Anklagen. Deshalb hängt die Sicherheit des Bürgers vornehmlich von der Güte der Strafgesetze ab“[92]. Je schlechter die Strafgesetze und je höher die Strafen sind, desto schlechter ist es auch um die Freiheit der Bürger bestellt.[93] Überragend wichtig ist die Möglichkeit einer Kenntnis der Strafgesetze; nur wer die Grenzen seiner Freiheit kennt, kann frei sein.[94]

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Sehr bemerkenswert sind auch Montesquieus Reflexionen über die sinnvolle Höhe der Strafe, die manche Ergebnisse der modernen Sanktionenforschung vorwegnehmen. Die Erfahrung, so Montesquieu, habe

„gelehrt, dass in den Ländern mit milden Strafen die Bürger durch sie geradeso beeindruckt werden wie in anderen durch harte Strafen. Zeigt sich in einem Staat irgendein Übel, so will eine gewalttätige Regierung es sofort beseitigen, und statt auf die Anwendung der alten Gesetze bedacht zu sein, verhängt sie eine grausame Strafe, die dem Übel auf der Stelle Einhalt tun soll. Allein man nutzt die Triebfedern der Regierung dadurch ab: die Vorstellung gewöhnt sich an diese schwere Strafe wie früher an die mildere, und da man die Furcht vor dieser vermindert, so sieht man sich bald gezwungen, nun in allen Fällen die härtere Strafe einzuführen.“[95]

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Harte Strafen verderben den Charakter eines Volkes:

„Wenn man beobachtet, dass … in anderen Ländern die Menschen durch grausame Strafen im Zaum gehalten werden, so kann man darauf zählen, dass dies großenteils durch die Gewalttätigkeit eine Regierung verschuldet wird, die leichte Vergehen so schwer bestraft. Zuweilen denkt ein Gesetzgeber, der ein Übel abstellen will, nur an dessen Beseitigung und hat nur dieses Ziel im Auge, beachtet aber nicht die Nachteile. Ist dann das Übel beseitigt, dann sieht man nur noch die Härte des Gesetzgebers; es bleibt aber im Staate ein Fehler zurück, den diese Härte hervorgerufen hat: die Gesinnung ist nämlich verdorben, sie hat sich an den Despotismus gewöhnt.“[96]

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Eindringlich plädiert Montesquieu dafür, die Strafhöhe von der begangenen Straftat abhängig zu machen; im Kern taucht hier bereits der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf:

„[E]s ist ein großer Fehler, dass bei uns der Straßenräuber genauso bestraft wird wie der Raubmörder; denn es leuchtet doch ein, dass im Interesse der öffentlichen Sicherheit ein Unterschied in der Strafe gemacht werden müsste. In China werden grausame Räuber in Stücke gehauen, andere nicht; diese Unterscheidung bewirkt, dass man dort zwar raubt, aber nicht mordet. In Russland dagegen, wo die Strafe für Räuber und Mörder dieselbe ist, mordet man dauernd, denn die Toten erzählen nichts, wie man dort sagt.[97]

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In einigen Formulierungen Montesquieus klingt die Vorstellung an, es gebe so etwas wie eine vorgegebene Beziehung zwischen Straftat und Strafhöhe.[98] Dieser an das Naturrecht erinnernde Gedanke wird jedoch nicht näher ausgeführt. Für besonders schwere Delikte wie die Tötung anderer will Montesquieu die Todesstrafe beibehalten.[99] Auf dem Gebiet der Religion empfiehlt er Zurückhaltung des Strafgesetzgebers.[100] Das soll insbesondere für die Blasphemie gelten.[101] Auch zum Strafprozess äußert sich Montesquieu. Er empfiehlt nach englischem Vorbild die Einrichtung einer Jury.[102] Die Ablehnung der Folter scheint ihm schon selbstverständlich zu sein: „Es haben so viele tüchtige Leute und große Geister gegen diesen Brauch geschrieben, dass ich kaum noch nach ihnen zu sprechen wage.“[103] Hier wird deutlich, dass sich Montesquieu in einem Traditionszusammenhang sieht, der vor die Aufklärung zurückreicht (s.o. Rn. 18 ff. zu Spee und seinen Nachfolgern).

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