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4. Johann David Michaelis (1717–1791)
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Eine Sonderrolle kommt dem Göttinger Orientalisten, Theologen und Polyhistor Johann David Michaelis zu.[172] In seinem sechsbändigen Werk über das Mosaische Recht[173] behandelte er nicht bloß in großem Detail die biblischen Quellen, sondern stellte auch den historischen Kontext des Mosaischen Rechts heraus, das er klar gegenüber dem zeitgenössischen Recht abgrenzt. Damit wird zugleich eine Trennlinie zur Theologie gezogen. In der „Vorrede“ zum 6. Teil seines Werkes, worin die wichtigsten Aussagen Michaelis zur Strafrechtsreform enthalten sind, grenzte er die „göttlichen Strafen jener Welt“ deutlich ab von solchen, „die nach bürgerlichen Gesetzen in dieser Welt vollzogen werden“.[174]
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Argumentationsgrundlage war auch bei ihm die Lehre vom Gesellschaftsvertrag: „Der Staat … ist diejenige größere Gesellschaft, in die wir der Sicherheit wegen zusammentreten“.[175] Unmissverständlich stellte er die Bestimmung der Strafen in einen Zweck-Mittel-Zusammenhang: „Die Größe der Strafen muss nach ihrem Endzweck bestimmt werden: so groß, als nötig ist, um diesen Endzweck zu erreichen, aber auch so klein, als es die Absicht der Strafen zulässt.“[176] Damit wird der Kerngedanke des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes klar umschrieben.[177]
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Eine zweckfreie Strafe ist für Michaelis ein Unding: „Dies bloße Übel ohne einen weiteren Zweck, der es rechtfertigte, wozu sollte es helfen?“.[178] Hauptzweck aller Strafen ist „die Abschreckung von Verbrechen“.[179] Daneben nennt Michaelis noch drei „Nebenzwecke“ von Strafe: die Unschädlichmachung des Gefährlichen (Michaelis spricht von seiner „Entfernung“ oder, für unsere Ohren in bedenklicher Weise übertreibend, seiner „Ausrottung“), die „Rache des Beleidigten“ und die „moralische Besserung des Gestraften“.[180] Der letztgenannte Gesichtspunkt weist auf spezialpräventive Zielsetzungen hin. Michaelis akzeptiert auch die Todesstrafe, wenn anders eine wirksame Abschreckung nicht erreicht werden kann.[181] Allerdings weist er darauf hin, dass die Vollstreckung der Todesstrafe „nach entdeckter Unschuld“ keine Wiedergutmachung zulasse.[182] Anders als Beccaria hält Michaelis in Ausnahmefällen auch eine Begnadigung für zulässig.[183]
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Bemerkenswert ist das psychologische Modell, durch welches Michaelis die Wirkung einer Strafandrohung verdeutlichen möchte.[184] Er vergleicht die Strafandrohung mit einem Gewicht, welches eingesetzt wird, um anderen Faktoren als Gegengewicht zu dienen. Anschaulich spricht Michaelis von einer Waagschale, auf deren „böser“ Seite neben Vorteilsstreben „heftige Affekte, Zorn, Rachgier, Furcht [und] Wollust“ wirken, auf der „guten“ Schale dagegen Faktoren wie „Religion“, „natürliche Redlichkeit“, Mitleid“, ein „gutes Herz“ , ein „natürliches gutes Temperament“ und „Erziehung“.[185] Die Strafandrohung soll helfen, den „guten“ Faktoren ein Übergewicht zu verschaffen. Die Nähe zur „psychologischen Zwangstheorie“ Feuerbachs (s.u. Rn. 134) ist offensichtlich. Aus dem Modell lässt auch herleiten, dass Strafen nicht allzu streng sein müssen, wenn in einer Gesellschaft bereits viele positive Faktoren – für Michaelis ist dies vor allem die Religion – wirken.[186] Damit wird die gedankliche Möglichkeit einer rationalen Strafzumessung im Einzelfall eröffnet.
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Bei der Diskussion verschiedener Formen sozial abgelehnten Verhaltens kommt Michaelis immer wieder auf die Eignung des Strafrechts zu sprechen, das in Frage stehende Verhalten zu unterbinden. So rät er etwa davon ab, „Selbstbefleckung“ und „Müßiggang“ mit staatlicher Strafe zu belegen, auch wenn derartige Verhaltensweisen im Elternhaus durchaus Anlass zur „Züchtigung“ sein könnten.[187] Auch den vorehelichen Geschlechtsverkehr will er nicht bestrafen, ebenso wenig den Suizid.[188] Dagegen soll der Ehebruch strafbar bleiben.[189]
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Besonders ausführlich und differenziert setzt sich Michaelis mit der Strafwürdigkeit von Blasphemie auseinander. Bei einer Lästerung der herrschenden Religion solle entweder der Staat „den Gotteslästerer strafen, oder ihn der Rache des Volkes überlassen“, was Michaelis bemerkenswerterweise nicht nur für christliche Länder, sondern auch für die muslimische Türkei fordert. [190]
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Jede zweckrationale Bemessung von Strafe steht vor dem Problem, wie sich die Strafhöhe gedanklich begrenzen lässt. Michaelis ist der Meinung, dass zur Abschreckung u.U. auch verschärfte Todesstrafen möglich sein sollten.[191] Dagegen will er die „ganz abscheulichen Lebensstrafen auswärtiger oder alter Barbaren“ nicht wieder einführen, etwa das Aufspießen oder Kreuzigen von Straftätern. Derartige Strafen „würden die Verbrechen nicht mindern, und ein Volk nur fühllos machen“, d.h. abstumpfen.[192] Aus dem gleichen Grund lehnt Michaelis auch die Folter zu Straf- und zu Untersuchungszwecken ab.[193]