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H. Der Ertrag: Strafrechtsdenken in den Schranken von Humanität und Menschenrechten

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In der Entwicklung des europäischen Nachdenkens über die Theorie des Strafrechts bildet die Aufklärung eine wesentliche Zäsur. Das willkürliche und grausame Strafrecht der frühen Neuzeit wird mit den Postulaten der Humanität konfrontiert und scharf kritisiert. Der einflussreichste Wortführer dieser Kritik ist ab den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts Voltaire. Beccaria fasst in seinem Werk „Über Verbrechen und Strafen“ (1764) die wesentlichen Forderungen der Aufklärer an die Reform des Strafrechts zusammen. Sie bilden ein humanistisches, an den Menschenrechten orientiertes Reformprogramm.

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Zu den wesentlichen Folgen der von der Aufklärung in die Wege geleiteten „humanistischen Wende“ gehört die Idee, jeder Mensch besäße einen unverlierbaren, von staatlicher Gewährung unabhängigen Eigenwert, an welchem alles staatliche Recht zu messen sei. Dieser Eigenwert drückt sich in der Vorstellung von Menschenwürde und Menschenrechten aus, die sich durch folgende vier Gesichtspunkte charakterisieren lassen[240]:

Menschenrechte stehen allen Menschen zu, ungeachtet ihres Standes, ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe.
Kennzeichnend für das neue Denken in Menschenrechten ist zweitens, dass sie jedem einzelnen Menschen als Individuum zukommen sollen, nicht als Teil einer Gruppe oder eines Standes.
Die neuen Rechte werden drittens als „naturgegeben“ verstanden, d.h. sie sollen jedem einzelnen Menschen kraft Geburt zustehen und nicht von staatlicher Gewährung abhängig sein.
Viertens garantieren die neuen Rechte jedem Einzelnen den Schutz seiner Freiheitssphäre gegen den Staat. Jeder Eingriff in diese Rechte muss begründet werden.

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Es liegt auf der Hand, dass die in dieser Weise konzipierten Menschenrechte die Strafrechtstheorie und -praxis erheblich verändern mussten. Subjektive Rechte auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und Gleichheit, sowie Religions- und Meinungsfreiheit wurden als Abwehrrechte gegen den Staat konzipiert und schränken dessen Strafgewalt ein.[241] Die Herausbildung der Menschen- und Bürgerrechte hing also eng mit der Entwicklung des Strafrechts zusammen.

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Unter dem Eindruck der NS-Verbrechen wird die Vorstellung eines unverfügbaren menschlichen Eigenwertes durch die Positivierung der Menschenwürde, verstanden als nicht legal einschränkbares Basisrecht, verstärkt.[242] War das NS-Rechtsdenken eine „Revolte gegen die Aufklärung“, so lässt sich die verstärkte Gewährleistung der Menschenwürde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) und dem Grundgesetz (1949) in Form eines aller staatlichen Macht vorgelagerten Basiswerts als Bekräftigung eines der Kernprojekte der Aufklärung verstehen.[243]

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Wollte man den Ertrag des Strafrechtsdenkens der Aufklärung in eine Reihe von Konzepten zu fassen versuchen, so würden sich folgende Schlagworte anbieten: (1) Abkehr vom alten, theokratischen und an Vergeltung orientierten Strafverständnis, stattdessen Orientierung an der Humanität als regulativer Idee und kritischem Maßstab des gesamten (Straf-)Rechts, (2) Bekenntnis zu „Vernunft“ im Denken und Handeln. Dazu gehört insbesondere die Betonung von kritischer Rationalität und das Streben nach Widerspruchsfreiheit und Überprüfbarkeit aller dem Denken und Handeln zugrunde gelegten Annahmen. (3) Abkehr von religiösen Erklärungsmustern und den Vorgaben der Theologie (also Säkularität), verbunden mit Vertrauen in die Empirie (bis hin zum erkenntnistheoretischen Naturalismus).

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(4) Zu den rechtsethischen Basiswerten der Aufklärung gehört ferner das Bekenntnis zum menschlichen Wohlergehen als Ziel jeder Gesetzgebung (Eudaimonismus) und zur menschlichen Freiheit (Liberalität). Der Mensch – und zwar „jeder Mensch“ – und sein Glück werden zum Leitwert und Orientierungspunkt der Rechtspolitik. In der Aufklärung werden folgerichtig die ersten Menschenrechtskataloge formuliert und am Ende der Epoche erstmals praktisch in Geltung gesetzt. (5) Damit einher geht der Bedeutungsgewinn teleologischen Denkens: Wenn das Recht dem Menschen, seinem Glück und damit auch dem Gemeinwohl dienen soll, so muss es so konzipiert sein, dass es diesen Zweck erfüllen kann. (6) Auch die Strafe selbst wird als Mittel zu diesem Zweck verstanden. Daraus ergibt sich das Bekenntnis zur Notwendigkeit der Prävention von Straftaten und Besserung des Straftäters. (7) Der Universalismus der Aufklärung drückt sich in der Vorstellung aus, neue Leitideen und Werte nicht bloß für Europa, sondern für die gesamte Menschheit formuliert zu haben. Die Umsetzung dieser Ideen ist auch heute noch nicht abgeschlossen, und wird nie abgeschlossen sein.

2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte§ 6 Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung › Ausgewählte Literatur

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