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2. Voltaire (1694–1778)

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Wesentlich radikaler als die Rechtskritik Montesquieus waren die rechtpolitischen Forderungen des Francois Marie Arouet, genannt Voltaire (1894–1778).[104] Nach einem kurzen Ausflug in das Studium der Rechte wandte sich der junge Voltaire der Dichtkunst zu und avancierte rasch zu einem führenden Schriftsteller Frankreichs. Seine Kritik an den herrschenden Verhältnissen zwang ihn 1726, Paris zu verlassen und in England Zuflucht zu suchen. Die gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse auf der Insel beeindruckten ihn so sehr, dass er ein Buch mit dem Titel „Philosophische Briefe“ verfasste, nach Peter Gay die erste „Bombe“, die auf das Ancien Regime geschleudert wurde.[105] Nach seiner Rückkehr nach Frankreich wurde Voltaire rasch zum bekanntesten französischen und, ab den frühen 60er Jahren, europäischen Intellektuellen. Er war Wortführer und Sprachrohr jener kritischen Intellektuellen, die als „philosophes“ durch ihre Kritik am dekadenten französischen Absolutismus nach Ludwig XIV. den Umschwung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Frankreich vorbereiteten, der 1789 im Ausbruch der Französischen Revolution kulminierte.

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Durch die Rücknahme des Edikts von Nantes 1685 waren die Hugenotten wieder zu einer verfolgten Minderheit geworden. Besonders drückend waren die Verhältnisse im südfranzösischen Toulouse. Im Jahr 1761 verübte dort der Sohn des Jean Calas aus persönlichen und beruflichen Gründen Suizid. Seinem Vater wurde daraufhin vorgeworfen, den Sohn ermordet zu haben, um dessen angeblich bevorstehenden Übertritt zum Katholizismus zu verhindern. Angefeuert vom städtischen Mob und unterstützt vom Toulouser Klerus wurde Jean Calas festgenommen, gefoltert und hingerichtet, obgleich die Unrichtigkeit des Vorwurfs für jedermann mit Händen zu greifen war.[106]

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Die Umstände des Falles, und nicht zuletzt die Tatsache, dass sich Calas trotz Folter bis zuletzt geweigert hatte, die ihm zur Last gelegte Tat zu gestehen, erregten rasch Aufsehen. Nachdem Voltaire, der berühmteste Schriftsteller und Intellektuelle seiner Zeit, von dem Fall erfahren hatte, begann er, selbst schon in hohem Alter stehend, eine bislang beispiellose europaweite Kampagne, um Calas zu rehabilitieren und eine Reform des Strafrechts anzustoßen. Dabei setzte er die ganze Breite seines schriftstellerischen Könnens ein und verfasste unzählige Briefe ebenso wie Pamphlete, Traktate und Theaterstücke. Das bekannteste Ergebnis seiner rastlosen Tätigkeit für die Familie Calas ist der berühmte „Traktat über die Toleranz“, ein Werk, das zuletzt 2015 nach den Anschlägen auf die Pariser Zeitschrift „Charlie Hebdo“ in vielen Staaten neu aufgelegt wurde.[107] Im Jahr 1765 schließlich hatte Voltaire Erfolg: Jean Calas wurde rehabilitiert und seine Familie aus der Haft entlassen.

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In den folgenden Jahren griff Voltaire noch mehrfach in laufende Kriminalverfahren ein, etwa zugunsten des Edelmannes de la Barre, der zu Folter und Tod verurteilt worden war, weil er es versäumt hatte, vor einer ihm entgegenkommenden Fronleichnamsprozession in die Knie zu gehen.[108] Als Voltaire 1778, kurz vor seinem Lebensende, noch einmal Paris besuchte, stand die Bevölkerung auf den Straßen, um dem Justizkritiker dankbar ihre Referenz zu erweisen.[109] Angesichts seiner überwältigenden Popularität verzichteten Kirche und Staat darauf, ihn festnehmen zu lassen – der Satz „Voltaire verhaftet man nicht“ ist seither zu einem geflügelten Wort geworden.

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