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1. Cesare Beccaria (1738–1794)

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Die bis heute einflussreichste Schrift zur Reform des Strafrechts stammt von dem Mailänder Cesare Beccaria und trägt den Titel „Dei delitti e dei pene“ (über Verbrechen und Strafen).[110] Das wenig mehr als 100 Seiten starke Werk erschien 1764 in erster Auflage und verbreitete sich – von Voltaire nach Kräften unterstützt – in der veränderten Fassung von 1766 innerhalb weniger Jahre über ganz Europa und darüber hinaus. Seither ist „Über Verbrechen und Strafen“ in alle großen Sprachen übersetzt und immer wieder neu aufgelegt worden. Überall auf der Welt dient es als Referenz, wenn es darum geht, das Strafrecht eines Landes zu modernisieren und zu humanisieren.

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Der Autor des Buches entstammte dem Mailänder Adel. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Pavia und Mailand geriet Beccaria in den frühen 60er Jahren in Kontakt mit der Mailänder Intellektuellengruppe „Il Caffé“. Dort wurden intensiv und mit großem Eifer die neuen Themen der Aufklärung diskutiert. Beccarias Buch „Über Verbrechen und Strafen“ ist ein Ergebnis dieser Diskussionen, allerdings das mit Abstand einflussreichste. Auch wenn sich die Gerüchte um eine fremde Autorschaft des ihm zugeschriebenen Werkes niemals haben bestätigen lassen, steht doch fest, dass „Über Verbrechen und Strafen“ die Gedanken einer Vielzahl kritischer Köpfe enthält. Es hat wohl kaum je ein Werk gegeben, das so sehr den Geist seiner Zeit ausgedrückt hat. Nach seiner Abfassung hat Beccaria nur noch wenig publiziert und ein zurückgezogenes Leben als Justizbeamter geführt.

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Wie Spees Cautio Criminalis (s.o. Rn. 18) verdankt auch Beccarias Werk seine Entstehung einer spezifischen Unrechtserfahrung, nämlich dem Justizmord an dem Toulouser Hugenotten Jean Calas, auch wenn Beccaria in seinem Buch den Fall selbst nicht erwähnt. Es handelt sich nicht um eine juristische Abhandlung, sondern um ein elegant und anspruchsvoll geschriebenes rechtspolitisches Programm, das die Forderungen der Aufklärung an eine Reform des Strafrechts zusammenfasst.[111] Der Text bildet damit sozusagen die Schnittstelle zwischen der zeitgenössischen Philosophie, vor allem der politischen Philosophie Frankreichs, und der Strafrechtswissenschaft Europas.

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Ausgangspunkt Beccarias ist die Verpflichtung des Gemeinwesens auf das „größte Glück der größten Zahl“. Dieser von dem Franzosen Helvetius übernommene Gedanke bedeutet nichts anderes, als dass sich der Staat um das Wohlergehen („Glück“) der Menschen zu kümmern habe, und zwar nicht nur um das Wohlergehen einiger weniger (etwa des hohen Adels und des Klerus), sondern um das Glück möglichst vieler (der „größten Zahl“). Das war ein um die Mitte des 18. Jahrhunderts revolutionärer Gedanke.[112] Letzter Orientierungspunkt des Rechts und Maßstab der Rechtskritik ist die Humanität,[113] die Beccaria als „Empfindsamkeit“ (sensibilitá) für Leiden und Glück anderer Menschen auffasst.[114]

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Um diese Grundsätze im Strafrecht zur Anwendung zu bringen, verwendet Beccaria das in der Aufklärung hoch im Kurs stehende Denkmodell des Gesellschaftsvertrags:

„Die Gesetze sind die Bedingungen, unter denen unabhängige und isolierte Menschen sich in Gesellschaft zusammenfanden, Menschen, die es müde waren, in einem ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine infolge der Ungewißheit ihrer Bewahrung unnütz gewordene Freiheit zu genießen. Sie opferten davon einen Teil, um des Restes in Sicherheit und Ruhe sich zu erfreuen. Die Summe aller dieser Teile von Freiheit, welche für das Wohl eines jeden geopfert wurden, macht die Souveränität einer Nation[115] aus, und der Herrscher ist ihr gesetzmäßiger Wahrer und Verwalter.“[116]

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Die Anknüpfung an Hobbes (s.o. Rn. 34 ff.) ist bis in den Wortlaut hinein erkennbar. Wie lässt sich daraus die staatliche Strafgewalt begründen? Beccarias Antwort lautet: Gegenüber solchen Menschen, die den Vertrag verletzten, sollen „fühlbare und hinreichende Motive“ geschaffen werden, „um den despotischen Geist eines jeden Menschen davor zu warnen, die Gesetze der Gesellschaft im vormaligen Chaos wieder untergehen zu lassen. Diese fühlbaren Motive sind die Strafen“.[117] Beccaria geht offenbar von einem einfachen Modell menschlicher Entscheidungen aus, die durch Motive und Gegenmotive bestimmt werden, so dass sie durch das Setzen geeigneter neuer Motive gelenkt werden können.[118]

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Zweck von Strafe ist die Verhinderung von schwerwiegenden Verstößen gegen die gesellschaftliche Ordnung durch Abschreckung,[119] aber auch durch Besserung der Einzelnen.[120] Beccaria verknüpft also general- und spezialpräventive Elemente. Um ihre Zwecke zu verwirklichen, müssen Strafen gewissen Bedingungen genügen. Vor allem müssen sie geeignet sein, ihr Ziel zu erreichen. Des Weiteren spricht sich Beccaria, seinem humanitätsorientierten Ansatz[121] folgend, dafür aus, dass Strafen nicht härter sein dürfen als zur Erreichung ihres Zwecks erforderlich. Grausame Strafen lehnt er ab.[122]

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Besonders bemerkenswert – auch im Kreis der Aufklärer – ist Beccarias entschiedene Kritik an der Todesstrafe.[123] Die Folter lehnt er ebenfalls ab, wobei er Argumente verwendet, die an Friedrich von Spee erinnern: Folter, so Beccaria, ist schon deshalb kein taugliches Mittel der Wahrheitsfindung, weil unter Folter jeder das einräumt, was der Befragende hören will.[124]

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Beccarias Werk war, wie bereits erwähnt (Rn. 66), Ausdruck des Geistes seiner Zeit. Es überrascht deshalb nicht, dass es unter den Intellektuellen kaum Widerspruch erregte. Die katholische Kirche hingegen setzte „Über Verbrechen und Strafen“ auf den Index der verbotenen Bücher, was den Erfolg des Werkes jedoch kaum behindern konnte. Der eng mit den französischen Enzyklopädisten verbundene André Morellet übersetzte das Buch bereits im Jahr seines Erscheinens in die französische Sprache und machte es so den Intellektuellen und Strafrechtsreformern in ganz Europa zugänglich. Morellet nahm dabei nicht unerhebliche Eingriffe in den Aufbau des Textes vor, die Beccaria zwar brieflich lobte, in den späteren Auflagen des Werkes aber nicht übernahm. Auch sonst war Beccarias Verhältnis zu den führenden Pariser Intellektuellen und Aufklärern nicht ohne Spannungen.[125]

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In der Gegenwart ist Beccaria vorgeworfen worden, einseitig in Zweck-Mittel-Zusammenhängen zu denken und daher die Perspektive „wahrer Gesetzlichheit“ zu verfehlen. Auch mangele es dem Werk an einem gedanklichen Instrumentarium, um das immer weiter ausgreifende Tätigwerden des Strafgesetzgebers, wie es für die Gegenwart charakteristisch sei, zu begrenzen.[126] Diese Vorwürfe sind allerdings unbegründet. Es trifft zwar zu, dass Beccaria, wie fast alle Aufklärer, die Zweck-Mittel-Perspektive bei Fragen der Gesellschaftsgestaltung und Justizreform besonders betonte. Dies bedeutet aber keine Schwäche, sondern eine Stärke seines Ansatzes:

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Erst ein Denken in Zweck-Mittel-Zusammenhängen erlaubt die Verwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, welchem für die Rationalisierung und Humanisierung der Strafrechtspflege entscheidende Bedeutung zukam: Strafen, die nicht einmal geeignet sind, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sind schon aus diesem Grund ungenügend. Sie müssen ferner erforderlich sein, es darf also kein anderes gleich wirksames Mittel geben, welches weniger in geschützte Rechtspositionen eingreift (näher → AT Bd. 1: Eric Hilgendorf, Strafrechspolitik und Rechtsgutslehre, § 17 Rn. 52 ff.).

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Es verdient besondere Beachtung, dass sich Fragen der Geeignetheit eines Mittels und seiner Erforderlichkeit grundsätzlich empirisch lösen lassen. Damit sind derartige Fragen anders diskutierbar als rein normative Fragestellungen. Über Faktenfragen lässt sich, wie schon die Alltagserfahrung lehrt, meist weit einfacher Konsens erzielen als über Fragen der Wertung. Hinzu kommt, dass die Einführung der Empirie die Zuhilfenahme wissenschaftlicher Erkenntnisse erheblich erleichtert. Die Erforschung der Wirkung von Strafe ist heute die Domäne der strafrechtlichen Sanktionenforschung und, allgemeiner, der Kriminologie. Das Denken in Zweck-Mittel-Zusammenhängen ist daher eine wesentliche Voraussetzung für die Verwissenschaftlichung des Nachdenkens über das Strafrecht.

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Richtig ist allerdings, dass damit über die zu verfolgenden Zwecke noch nichts ausgesagt ist. Diese Frage leitet in die Rechts- und Moralphilosophie über.[127] Für Beccaria und seine Zeitgenossen war klar, worum es ging: Die Abschaffung des unnötig grausamen und willkürlichen Strafrechts seiner Zeit zugunsten einer der Aufklärung und Humanität verpflichteten rationalen Strafrechtspflege. Im demokratischen Verfassungsstaat der Gegenwart ist die Entscheidung über die durch die Strafgesetze zu verfolgenden Ziele Sache des parlamentarischen Gesetzgebers. Historisch gesehen dürften die Erfahrungen mit diesem Modell wesentlich besser sein als diejenigen, die wir mit Strafgesetzgebern gemacht haben, die glaubten (oder glauben machen wollten), dass sie von menschlichen Entscheidungen unabhängigen normativen Vorgaben folgen.

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Die zweite gegen Beccaria gerichtete Kritik, nämlich dass er keine Handhabe gegen die bedenkliche Strafrechtsausweitung unserer Zeit böte (s.o. Rn. 74), überzeugt ebenfalls nicht. Beccaria behandelt das Thema gar nicht. Die Probleme unserer Zeit kannte er nicht und konnte sie auch nicht kennen. Immerhin ermöglicht das von Beccaria hochgehaltene Verhältnismäßigkeitsprinzip durchaus, einem übereifrigen Strafgesetzgeber Grenzen aufzuzeigen. Es sind dies allerdings, und darin wird man den Kritikern Beccarias Recht geben müssen, keine absoluten Grenzen. Wenn es solche Grenzen geben soll, müssen sie von Menschen gesetzt werden.

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Beccaria hat zentrale Elemente des heutigen, an den Menschenrechten orientierten Strafrechts thematisiert, darunter die Gedanken der General– und Spezialprävention, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Ablehnung grausamer Strafen und der Todesstrafe, die Einsicht in die Sinnlosigkeit von Folter, und die enge Bindung des Richters an das Gesetz. Über diese strafrechtstypischen Prinzipien hinaus hat er Ideen formuliert, die für die moderne Rechtsordnung insgesamt wegweisend sind, etwa die Trennung von (irdischem) Recht und überirdischer Gerechtigkeit, und damit auch die Abgrenzung der Rechtswissenschaft von der Theologie. Sehr bemerkenswert sind sein naturalistischer Ansatz und, damit eng verbunden, die Öffnung der Strafrechtswissenschaft für Empirie. Damit hat Beccaria für das Strafrecht in nuce ein humanistisches Reformprogramm skizziert, welches bis heute nicht abgeschlossen ist.

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