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E. Die Reformdiskussion in den letzten Jahrzehnten
des 18. Jahrhunderts
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Einen Höhepunkt der öffentlichen Reformbestrebungen im Kriminalrecht des späten 18. Jahrhunderts stellt das Berner Preisausschreiben zur Strafrechtsreform aus dem Jahr 1777 dar. Die von der Berner „Ökonomischen Gesellschaft“ ausgelobte Preisfrage lautete:
„Es soll über die Kriminal-Materien ein vollständiger und ausführlicher Gesetzesplan verfasst werden, unter diesem dreifachen Gesichtspunkt: 1. Von denen Verbrechen und denselben aufzuerlegenden angemessenen Strafen. 2. Von der Natur und der Stärke der Beweistümer, und der Vermutungen. 3. Von der Art, mittels der Kriminalprozedur dergestalten dazu zu gelangen, dass die Gelindigkeit des Verhörs und der Strafen mit Gewißheit einer schleunigen exemplarischen Strafe vereinigt werden und die bürgerliche Gesellschaft die größte Sicherheit finde, mit der größten möglichen Ehrfurcht für die Freiheit und die Menschheit vereinbaret.“[206]
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Voltaire (s.o. Rn. 61 ff.) unterstützte das Preisausschreiben nicht bloß finanziell, sondern publizierte noch 1777, kurz vor seinem Tod, einen Artikel „Prix de la justice et de l’humanité“, der bereits 1778 unter dem Titel „Preis der Gerechtigkeit und der Menschenliebe“ in deutscher Sprache erschien.[207] Der Text enthält in konzentrierter Form Voltaires strafrechtspolitische Forderungen.
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Auf die Preisfrage gingen 47 Manuskripte ein, wovon siebzehn in französischer Sprache verfasst waren, sieben in deutscher und je eines in lateinischer bzw. italienischer Sprache.[208] Hinsichtlich ihres Umfangs, ihres fachlichen Niveaus und ihrer Ausrichtung unterschieden sich die Abhandlungen erheblich. Nur einige erschienen im Druck. Den Preis gewann schließlich die Abhandlung von Ernst Hanns von Globig und Johann Georg Huster mit dem (später hinzugefügten) Titel „Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung. Eine von der ökonomischen Gesellschaft in Bern gekrönte Preisschrift“.[209]
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Parallel dazu erschienen zahlreiche andere Arbeiten zum Thema, die nicht nach Bern eingereicht worden waren, deren Autoren aber dennoch an einer Reform des zeitgenössischen Strafrechts mitwirken wollten. Die „Hochflut“[210] der Reformvorschläge, die nicht nur von Rechtsprofessoren, sondern auch und gerade von gelehrten Rechtspraktikern verfasst wurde, versetzt noch heute in Erstaunen und zeigt, wie überragend wichtig den Zeitgenossen eine Reform des Strafrechts war.
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Landsberg schreibt zu Unrecht, dass der Inhalt der Reformvorschläge mehr oder weniger identisch gewesen sei.[211] Wie zuletzt Christoph Luther im Detail dargelegt hat, brachte die Debatte um die Strafrechtsreform „keine einheitlichen Lehren hervor – im Gegenteil: Vermutlich war die Bandbreite rechtlicher Lehren niemals größer als im späten 18. Jahrhundert. In dieser Epoche kollidierte das traditionelle Rechtsverständnis mit den Lehren einer neuen, autonomen Vernunft. Sie brachte unterschiedliche Menschenbilder hervor, mit denen unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen korrespondierten. Die Aufklärung hat deshalb kein einheitliches Rechtsdenken hervorgebracht, sondern eine Mehrzahl konkurrierender Denkstile.“[212] Einig war man sich allenfalls in der Ablehnung der überkommenen religiös durchtränkten, willkürlichen und grausamen Strafrechtspraxis, die durch ein besseres Kriminalsystem ersetzt werden sollte.
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Als wichtiger Vermittler zwischen den rechtspolitischen Forderungen der Zeit und der preußischen Gesetzgebung wirkte Ernst Ferdinand Klein (1743–1810),[213] der Hauptverfasser der strafrechtlichen Teile des preußischen Allgemeinen Landrechts (1794). Darin wurden, zum ersten Mal in der deutschen Strafgesetzgebung, neben Strafen auch Sicherungsmaßregeln vorgesehen, und damit das heutige zweispurige System vorweggenommen. Kleins Straftheorie setzt auf Spezial- und Generalprävention gleichermaßen.
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Eine besonders enge Verbindung zwischen Strafrechtswissenschaft und Aufklärungsphilosophie kennzeichnet das Werk des Würzburger Strafrechtslehrers Gallus Aloysius Caspar Kleinschrod (1762–1824). In seinem 1794–1796 erschienenen Hauptwerk über die „Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des peinlichen Rechts“ entwickelte er, ausgehend vom Humanitätsgedanken der Aufklärer, eine vor allem auf Spezialprävention setzende Straftheorie.
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1802 legte Kleinschrod den „Entwurf eines peinlichen Gesetzbuchs für die Kurpfalzbairischen Staaten“ vor, der das längst überholte Bayerische Strafgesetzbuch von 1751 ersetzen sollte. Bei allen Verdiensten mangelte es Kleinschrods Entwurf jedoch an Systematik und begrifflicher Schärfe, was Feuerbach die Gelegenheit gab, sich durch eine fulminante Kritik des Kleinschrod’schen Entwurfs an die Spitze der Reformbewegung zu setzen.[214] Im Hinblick auf ihren philosophischen Hintergrund unterscheiden sich Kleinschrod und Feuerbach weniger, als dies oft angenommen wird.[215] Neben der begrifflich-technischen Überlegenheit war es vor allem Feuerbachs leidenschaftliche Rhetorik, die es ihm ermöglichte, Kleinschrod in den Hintergrund zu drängen.
2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 6 Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung › F. Kant