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Die NATO als supranationale Verlängerung des „ideellen Gesamtimperialisten“

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Die NATO bildet den politisch-militärischen Rahmen der Pax Americana und der in dieser Epoche beginnenden krisenhaften Globalisierung des Kapitals. In diesem Bezugsfeld musste sie sich von vornherein grundsätzlich von den früheren imperialen Bündniskonstellationen unterscheiden. Weder konnte es sich um ein bloß äußerliches Verhältnis von Vormacht und Vasallen im traditionellen imperialen Sinne handeln, noch um ein mehr oder weniger gleichrangiges Bündnis nationalimperialer Mächte. Vielmehr verlangte der widersprüchliche Doppelstatus der USA als Nationalstaat bzw. Nationalökonomie einerseits und als „ideeller Gesamtimperialist“ andererseits eine analoge Metamorphose der sekundär gewordenen europäischen Staaten des kapitalistischen Zentrums mit einem ähnlich widersprüchlichen Charakter: Einerseits können sie wie die USA nicht aufhören, Nationalstaaten zu sein; andererseits müssen sie sich doch in die neue Struktur eines globalen Kontrollanspruchs eingliedern, ohne direkt zu einem Bestandteil der USA werden zu können.

Auf diese widersprüchliche Weise wurde die NATO über die bloß militärische Funktion hinaus zur gesamtwestlichen politischen Instanz, um die europäischen Staaten des kapitalistischen Zentrums am hegemonialen System des neuen „ideellen Gesamtimperialisten“ zu beteiligen und sie gewissermaßen in dieses System einzuschmelzen, also sie aus bloß zweitrangigen „Mächten“ alten Typs selber zu integralen Bestandteilen eines gemeinsamen „ideellen Gesamtimperialismus“ zu machen. Die Alternative ist jetzt nicht mehr diejenige zwischen einem unabhängigen Status als alte nationalimperiale Macht und einem Vasallenstatus gegenüber der Supermacht USA, sondern diejenige zwischen einem gewichtigeren oder geringeren Status innerhalb der NATO als politischer und legitimatorischer Verlängerung der US-Welthegemonie neuen Typs.

Die NATO erweist sich so einerseits als ein tatsächlich supranationales Gebilde eines gesamtimperialistischen Kontrollanspruchs gegenüber einer Welt betriebswirtschaftlicher Globalisierung und gleichzeitig krisenhaften Zerfalls. Andererseits ist sie gar nicht denkbar ohne den weiterhin nationalstaatlich zentrierten und kontrollierten Hightech-Gewaltapparat der USA, dessen Konkurrenzlosigkeit die US-Hegemonie innerhalb des widersprüchlichen weltimperialen Gesamtkunstwerks aufrecht erhält. In einer barbarischen Ordnung hat in letzter Instanz immer derjenige das Sagen, der den größten Knüppel bereit halten kann. Und im Rahmen kapitalistischer Kriterien und kapitalistischer Technologie wird Europa nie mehr den größten Knüppel haben können.

Das bürgerliche europäische Räsonnement urteilt darüber sehr lapidar und nüchtern, etwa im „Handelsblatt“: „Eine europäische Sicherheitsidentität ist grundsätzlich sinnvoll, derzeit aber nicht realisierbar. Hierfür nötige Rüstungsprogramme können nicht finanziert werden… Die jüngste Kosovo-Intervention hat erneut offenbart, wie sehr die Europäer den USA unterlegen sind, wenn es darum geht, militärische Macht jenseits der eigenen Landesgrenzen zur Geltung zu bringen. Fast 80 % aller Kampfeinsätze und 90 % der verwendeten Bomben und Raketen gingen auf das Konto der USA. Selbst vor ihrer eigenen Haustür konnten die Europäer nur einen marginalen Beitrag zum Niederringen einer drittklassigen Militärmacht leisten… Solange die USA ein verläßlicher Sicherheitspartner bleiben, sollte keine europäische Rüstungspolitik auf Kosten der Haushaltskonsolidierung betrieben werden“ (Wolf 1999).

In der Tat sind die europäischen Staaten des kapitalistischen Zentrums weder jeweils für sich allein noch gemeinsam in größerem Maßstab militärisch interventionsfähig. Dafür fehlen schlichtweg die militärischen Mittel wie strategische Bomberflotten, Flugzeugträger und Lenkwaffenarsenale; nicht nur von der Menge, sondern auch vom technologischen Niveau her. Befindet sich etwa die BRD in dieser Hinsicht heute ungefähr auf dem Niveau eines globalen Dorfpolizisten, so geht es Großbritannien und Frankreich trotz der Erfahrung postkolonialer Kriege und damit bis heute verbundener militärischer Ansprüche kaum besser. Im absurden Falklandkrieg konnten sich die Briten gerade noch gegen die argentinische Marine behaupten; und die diversen französischen Mini-Interventionen in Afrika verdienen kaum das Prädikat des Militärischen. Die französische Presse spottete über das Desaster des Nuklear-Flugzeugträgers „Charles-de-Gaulle“, der schon havarierte, kaum dass er in Dienst gestellt war, und mühsam von seinem bereits ausrangierten Vorgänger „Clemenceau“ abgeschleppt werden musste.

Stellt man in Rechnung, dass innerhalb der EU 60 bis 70 Prozent aller für militärische Entwicklung und Beschaffung aufgewendeten Mittel allein auf Großbritannien und Frankreich entfallen, lässt sich der geringe europäische Spielraum für ein Rüstungs- und Interventionsprogramm ermessen. Die BRD rangiert rüstungspolitisch eindeutig unter „ferner liefen“. Kein Wunder, dass die geplante EU-Streitmacht schon im Vorfeld als „Papier-Truppe“ bezeichnet wird.

Eine grundsätzliche Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses, wenn sie denn gewollt wäre, ist tatsächlich auch finanziell schlichtweg utopisch. Es wäre der ökonomische Ruin, wollte die EU in einem rüstungspolitischen Kraftakt (wofür sie überdies politisch niemals genug vereinheitlicht werden könnte) mit dem Militärpotential der USA gleichziehen. Nirgendwo sind Faktoren ersichtlich, wie die dafür nötige Umkehr der globalen Kapitalströme bewerkstelligt werden sollte; und gelänge dies trotzdem, würde die Weltwirtschaft erst recht zerrüttet und das ohnehin fragile Gebäude des globalen Finanzkapitalismus zum Einsturz gebracht.

Die vorherrschende politische Meinungsbildung macht sich auch gar keine Illusionen, dass das gegenwärtige Kräfteverhältnis noch einmal geändert werden könnte: „Eine grundsätzliche Verschiebung der Gewichte zeichnet sich nicht ab… Europas ökonomische Basis für eine eventuelle Herausforderung der USA und ihrer Weltordnungskonzepte ist… nicht verbreitert worden, sie hat sich verringert… Im militärischen Bereich tritt die transatlantische Diskrepanz noch deutlicher zu Tage. So haben die europäischen NATO-Staaten in den vergangenen fünf Jahren etwa nur halb so viel für militärische Beschaffung ausgegeben wie die USA. In Forschung und Entwicklung hat sich die Lücke noch weiter vergrößert“ (Wolf 2001). Aber dies sind sowieso nur hypothetische Überlegungen, denn abgesehen davon existiert ja auch gar kein ökonomisch-„materialistischer“ Beweggrund für territoriale Annexions- und „Einfluss“-Strategien im Rahmen eines innerimperialistischen Großkonflikts mehr.

Das heißt nicht, dass es keinerlei europäische Profilierungsversuche gegenüber der letzten Weltmacht USA geben würde, die allerdings im Zweifelsfall eher von Frankreich als von der BRD ausgehen. Aber dabei handelt es sich um ein bloßes Kompetenzgerangel oder um „Dezernatskämpfe“ innerhalb der Hackordnung des „ideellen Gesamtimperialismus“ unter unzweifelhafter US-Hegemonie, nicht um das Geltendmachen eines eigenständigen imperialen Anspruchs. Auch ökonomische und vor allem handelspolitische Widersprüche zwischen der EU und den USA werden immer wieder ausgetragen, ohne dass dabei aber jemals ernsthaft das gemeinsame globale Dach der Pax Americana in Frage gestellt würde.

John C. Kornblum, bis 2001 US-Botschafter in der BRD, bringt die kapitalistische Unvermeidlichkeit der in der NATO verkörperten Allianz wie deren Problem in einem Atemzug zum Ausdruck: „Die Angst, Europäer und Amerikaner würden sich in miteinander konkurrierende Lager aufspalten, ist unbegründet. Europa und die Vereinigten Staaten sind so stark aneinander gebunden, dass ein Bruch nicht vorstellbar ist… Was ist in der gegenwärtigen Situation so besonders? Selten zuvor hat eine neue amerikanische Regierung die Amtsgeschäfte in einer solch unsteten Zeit übernommen. Und selten zuvor spürten Europäer und Amerikaner gleichermaßen eine solche Hilflosigkeit angesichts dieses weltweiten Durcheinanders“ (Kornblum 2001). Die „unstete Zeit“ und das „weltweite Durcheinander“, eine ebenso begriffslose wie larmoyante Formulierung für das Zerbrechen des modernen warenproduzierenden Systems an seinen eigenen Widersprüchen, macht die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges erst recht zur Instanz des Gesamtimperialismus, hinter deren Räson alle Binnenkonflikte und Reibereien zurücktreten müssen.

Dies gilt auch für Streitpunkte wie die neuerliche unmotivierte Bombardierung des Irak durch die USA unter der neuen Führung des ultrakonservativen Präsidenten Bush, Washingtons Pläne für eine „nationale Raketenabwehr“ (NMD) oder umgekehrt das Projekt einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Wenn dabei jedesmal von „Irritationen“ im Verhältnis zwischen den USA und der EU gesprochen wird, deutet dieser Begriff einer eher schwachen Differenz mehr auf den objektiven Zwang zur gesamtimperialen Herrschaftspolitik als auf ein Zerreißen dieses Zusammenhangs hin.

Alle Spekulationen, dass solche wechselseitigen „Verstimmungen“ der Anfang eines grundsätzlichen Umbruchs in der kapitalistischen Weltkonstellation sein könnten, entbehren jeder Grundlage: „Mit diesen an der Tagespolitik orientierten Überlegungen verkennen die Skeptiker … die grundlegende Bedeutung struktureller Faktoren, die über den Tag hinauswirken und eindeutig für die Fortsetzung der transatlantischen Partnerschaft sprechen. Zwar wird es immer wieder Irritationen geben, dauerhafte Konflikte oder gar eine weltpolitische Rivalität werden daraus aber nicht erwachsen“ (Wolf 2001).

Die Verstimmungen, sogenannten Irritationen, Profilierungsversuche und Eigenmächtigkeiten verweisen zwar auf die Weiterexistenz der für das Kapitalverhältnis unaufhebbaren nationalstaatlichen Form mit ihrer Eigenlogik und damit gleichzeitig auf die Widersprüchlichkeit in der Struktur des „ideellen Gesamtimperialismus“; dieser hat aber dennoch als solcher irreversibel die supranationale Gestalt der NATO angenommen. Diese Unhintergehbarkeit der NATO als gesamtwestliche Interventionsmacht unter Führung der USA entspricht auch den dominierenden Kapitalinteressen, die ja im Zuge von Krise und Globalisierung ebenfalls direkt transnational geworden sind. So „stärkt die globale Integration der Märkte diejenigen, die von der Globalisierung profitieren und deshalb an zwischenstaatlicher Zusammenarbeit interessiert sind. Dies gilt vor allem für transnationale Konzerne sowie Anleger von Finanzkapital“ (Wolf 2001). Übersetzt man die euphemistische Formel von der „zwischenstaatlichen Zusammenarbeit“ in diejenige eines „gesamtimperialen Weltordnungskriegs“, so ist damit der reale Hintergrund der heute dominierenden Kapitalinteressen benannt. Sollten sich die Widersprüche auf der Ebene des Weltsystems dramatisch zuspitzen, so ist viel eher mit unkontrollierten Alleingängen einer in Panik verfallenden US-Regierung als mit einer europäischen Herausforderung der USA zu rechnen.

Der gesamtimperiale und globalisierungs-ökonomische Zusammenhang gilt auch im engeren Sinne für die Rüstungsindustrie selbst, die ebenso wie die übrigen Kapitalien rasant in transnationale Strukturen hineingewachsen ist. Aus den einstmals streng national ausgerichteten Waffenschmieden mit enger Anlehnung an den jeweiligen nationalen Staatsapparat und dessen territoriale Kontroll- und Expansionsansprüche sind großenteils „global players“ mit einer breit gestreuten betriebswirtschaftlichen Diversifizierung geworden, die sich sowohl auf die USA als auch auf die EU (und teilweise auf den asiatischen Raum) bezieht. Im Rüstungssektor gibt es daher inzwischen ebenso wie in allen anderen Bereichen transkontinentale Überkreuz-Beteiligungen, „strategische Allianzen“, Fusionen und Übernahmen, wobei die US-Rüstungsindustrie klar dominiert.

So wurden etwa aus ökonomischen Gründen alle Weichen dafür gestellt, dass der staatliche spanische Rüstungskonzern Santa Bárbara Blindados (SBB) im Zuge seiner Privatisierung nicht an einen europäischen Rüstungskonzern fällt, sondern an den US-Rüstungsriesen General Dynamics, der über diesen Zukauf womöglich auch bei der Münchner Panzerschmiede Krauß-Maffei Wegmann (KMW) einsteigt; SBB baut den Leopard-Panzer von KMW in Lizenz. Umgekehrt will der europäische Luft- und Raumfahrtkonzern EADS (die Mutterfirma von Airbus) künftig Militärflugzeuge in den USA mit einem US-Partnerkonzern (Lockheed Martin oder Northrop) bauen, um an lukrative Aufträge des Pentagon heranzukommen. Inzwischen kooperiert EADS bereits mit Boeing bei der Raketenabwehr. Beschlossene Sache ist auch die Übernahme der deutschen Marinewerft HDW durch eine Mehrheitsbeteiligung des US-Finanzinvestors One Equity Partners (OEP), was als verdeckte Übernahme durch den US-Rüstungsriesen General Dynamics gilt. HDW baut und vermarktet seit Herbst 2002 gemeinsam mit der US-Rüstungsfirma Northrop Grumman U-Boote. Zwar gibt es Vorbehalte seitens der EU-Kommission, aber auf die Dauer, so ein deutscher Rüstungslobbyist, wird die gesamte europäische Rüstungsindustrie vom US-Beschaffungsmarkt abhängig sein und sich darauf durch transnationale Beteiligungen ausrichten müssen: „Ohne Amerika geht gar nichts“ (Wirtschaftswoche 40/2001).

Allen „Irritationen“ und Querschüssen der nationalen politischen Klassen zum Trotz wird die Transnationalisierung der Rüstungsindustrie innerhalb der westlichen kapitalistischen Zentren fortschreiten; schon gibt es auch Projekte eines transnationalen elektronischen Beschaffungsmarktes für die Rüstungs- und Flugzeugkonzerne.

Es existiert eben kein essentieller Grund für national oder selbst auf die EU beschränkte Rüstungsschmieden mehr; einschlägige Debatten und Vorbehalte sind nicht mehr strategisch und damit erstrangig bestimmt, sondern bewegen sich auf der Ebene des sekundären Kompetenzgerangels. Nicht nur von den allgemeinen ökonomischen Grundlagen des globalisierten Krisenkapitalismus her, sondern auch unmittelbar rüstungstechnisch und rüstungsökonomisch bildet die NATO eine gesamtimperiale Zugriffsmacht und ein gesamtkapitalistisches Weltordnungskonzept.

Der Begriff des „ideellen Gesamtimperialismus“, angelehnt an die Marxsche Formulierung vom Nationalstaat als dem „ideellen Gesamtkapitalisten“, verweist natürlich ebenso wie diese nicht etwa auf eine bloß „immaterielle“ Einflussnahme; vielmehr handelt es sich um einen umfassenden Apparat von Hightech-Gewalt und weltweiter politischer Intervention, der einen universell gültigen kapitalistischen Handlungsrahmen zu setzen versucht und in diesem Sinne einen ebenso universellen Kontrollanspruch erheben muss. Allerdings ist der globale „ideelle Gesamtimperialist“ viel mehr auf die politisch-militärische Ebene beschränkt, als es der nationalstaatliche einstige „ideelle Gesamtkapitalist“ war: Er fasst nicht die Kapitalien seines Machtbereichs in einem auch ökonomischen Ordnungsrahmen zusammen, sondern muss umgekehrt der enthemmten, jeden Ordnungsrahmen sprengenden Konkurrenz der Kapitalien gehorchen, auf die er nur noch äußerlich und ohne eigenständige wirtschaftspolitische Eingriffskompetenz reagieren kann.

Die NATO ist ebenso wenig wie die USA ein „Weltstaat“, der die alte nationale Staatsfunktion auf einer höheren, supranationalen Ebene übernehmen könnte. Sie ist eben nur der (erweiterte) „ideelle Gesamtimperialist“, also eine reine Instanz der Gewalt und politischen Pression, keine Instanz einer umfassenderen Regulation. Somit kann die NATO den Widerspruch des globalen Krisenkapitalismus nicht lösen, sondern in ihrer eigenen widersprüchlichen Struktur als supranationales Gebilde unter der nationalstaatlichen Hegemonie der „letzten Weltmacht“ nur in periodischer Gewaltsamkeit zum Ausdruck bringen.

Auf den ersten Blick könnte dieser monozentrische „ideelle Gesamtimperialismus“ des beginnenden 21. Jahrhunderts an den fast vergessenen Begriff eines sogenannten „Ultraimperialismus“ erinnern, wie ihn der alte sozialdemokratische Chefideologe Karl Kautsky zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Imperialismusdebatte mit Rosa Luxemburg und Lenin kreiert hatte. Aber die Analogie ist nur eine sehr oberflächliche. Kautsky schrieb 1914 in der „Neuen Zeit“: „Eine ökonomische Notwendigkeit für eine Fortsetzung des Wettrüstens nach dem Weltkrieg liegt nicht vor, auch nicht vom Standpunkt der Kapitalistenklasse selbst, sondern höchstens vom Standpunkt einiger Rüstungsinteressen. Umgekehrt wird gerade die kapitalistische Wirtschaft durch die Gegensätze ihrer Staaten aufs äußerste bedroht. Jeder weitersehende Kapitalist muss heute seinen Genossen zurufen: Kapitalisten aller Länder, vereinigt euch!… Natürlich, wäre die jetzige Politik des Imperialismus unerlässlich zur Fortführung der kapitalistischen Produktionsweise, dann vermöchten die eben erwähnten Faktoren keinen nachhaltigen Eindruck auf die herrschenden Klassen zu machen und sie nicht zu veranlassen, ihren imperialistischen Tendenzen eine andere Richtung zu geben. Wohl aber ist dies möglich dann, wenn der Imperialismus, das Streben jedes kapitalistischen Großstaates nach Ausdehnung des eigenen Kolonialreiches im Gegensatz zu den anderen Reichen dieser Art, nur eines unter verschiedenen Mitteln darstellt, die Ausdehnung des Kapitalismus zu fördern… Die wütende Konkurrenz der Riesenbetriebe, Riesenbanken und Milliardäre erzeugte den Kartellgedanken der großen Finanzmächte, die die kleinen schluckten. So kann auch jetzt aus dem Weltkrieg der imperialistischen Großmächte ein Zusammenschluss der stärksten unter ihnen hervorgehen, der ihrem Wettrüsten ein Ende macht. Vom rein ökonomischen Standpunkt ist es also nicht ausgeschlossen, dass der Kapitalismus noch eine neue Phase erlebt, die Übertragung der Kartellpolitik auf die äußere Politik, eine Phase des Ultraimperialismus, den wir natürlich ebenso energisch bekämpfen müssten wie den Imperialismus, dessen Gefahren aber in anderer Richtung lägen, nicht in der des Wettrüstens und der Gefährdung des Weltfriedens“ (Kautsky 1914, 920 f.).

Es ist offenkundig, dass Kautskys Argumentation zu seiner Zeit (und noch auf Jahrzehnte hinaus) völlig unzutreffend war, weil die Epoche der nationalimperialen Expansion sich damals keineswegs erschöpft hatte. Aber Kautsky ist bei näherem Hinsehen auch kein guter Prophet einer noch weit entfernten Zukunft. Zwar hat er (ähnlich wie bei Lenin abgelöst von jeder begrifflichen Durchdringung der übergreifenden kapitalistischen Gesellschaftsformen) die abstrakte Möglichkeit einer anderen, gesamtimperialen Konstellation durchaus richtig gesehen, aber eben gerade nicht unter dem Aspekt eines globalen gesellschaftlichen Zerfalls an den inneren Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise, sondern nur als „andere Mittel, die Ausdehnung des Kapitalismus zu fördern“. Denn Kautskys Position wird ganz und gar bestimmt durch den sozialdemokratischen Diskurs an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der offiziell die Krisen- und Zusammenbruchstheorie ad acta gelegt hatte und seine Hoffnungen auf eine weitere kapitalistische Entwicklungsfähigkeit setzte, die von der Arbeiterbewegung durch einen friedlich-parlamentarischen Übergang zum Staatssozialismus gekrönt werden sollte.

Wie bei Lenin ist auch bei Kautsky das Thema nicht die (damals „undenkbare“) Krise und Kritik der klassenübergreifenden gesellschaftlichen Formen, sondern der bloß soziologisch fundierte und politisch in Erscheinung tretende „Klassenwille“ zur „Ausbeutung“ einerseits und zu deren Überwindung andererseits. Im Gegensatz zu Lenin entwickelt er diese verkürzte Analyse aber nicht auf dem Boden der historisch aktuellen Tatsachen, also der wirklichen Konkurrenz nationalimperialer Ausdehnungsmächte, sondern als blamabel opportunistische Phantasmagorie. Es gehört schon eine Mischung aus Augenwischerei und Selbstbetrug dazu, ausgerechnet im Kanonendonner des beginnenden industriellen Weltkriegs eine friedliche Allianz des Gesamt- oder Ultraimperialismus zwecks gemeinsamer „Ausbeutung der Welt“ für die Zeit nach dem Weltkrieg zu postulieren, als gäbe es dessen Realität gar nicht oder diese wäre schon Geschichte geworden (eine typische Manier des demokratisch-reformistischen Räsonnements zu „gefährlichen“ Fragen bis heute).

Aber eben deshalb trifft Kautskys „Nostradamus-Vision“ eines demokratischen Sesselfurzers für den heutigen tatsächlichen „ideellen Gesamtimperialismus“ der NATO erst recht nicht zu. Denn erstens geht es dabei gar nicht mehr um eine gemütliche „gemeinsame Ausbeutung“ bislang noch kapitalistisch unerschlossener Weltregionen, sondern vielmehr um das Problem einer sich voranfressenden Weltkrise, die gerade dadurch bestimmt ist, dass der Kapitalismus des Zentrums auf der erreichten Höhe seines eigenen Produktivitäts- und Rentabilitätsstandards zunehmend „ausbeutungsunfähig“ wird und der Weltmarkt wachsende Zonen einer ökonomisch „verbrannten Erde“ zurücklässt, die ihre kapitalistische Erschließungsfähigkeit schon hinter sich haben.

Und zweitens ist gerade deswegen die NATO auch eine ganz und gar unfriedliche Allianz des Gesamtimperialismus, weil sie alle Hände voll zu tun hat, auf die politisch-militärischen, barbarisierenden Folgen der unbewältigbaren Krise einzudreschen. So entspricht es zwar den Tatsachen, dass es 80 Jahre nach Kautskys These keinen innerimperialistischen Konflikt nach dem Muster des Ersten Weltkriegs mehr gibt, aber der widersprüchliche supranationale Charakter der NATO fußt auf ganz anderen Entwicklungen, als sie Kautsky vorgeschwebt hatten; und so handelt es sich eben nicht um eine parlamentarisch transformationsfähige kapitalistische Friedensära, sondern um einen barbarischen Weltordnungskrieg ohne jede zivilisatorische Perspektive. Die Analogie von Kautskys Konstrukt des „Ultraimperialismus“ und des wirklichen „ideellen Gesamtimperialismus“ der NATO ist eine ganz äußerliche und unwahre.

Dass es im 21. Jahrhundert keine Neuauflage der früheren nationalimperialen territorialen Einflusskämpfe um die Welthegemonie geben wird, dafür sprechen allerdings nicht nur die ökonomischen und politisch-militärischen Fakten im Kontext von Pax Americana und Globalisierung. Auch die kulturelle und ideologische Entwicklung lässt nicht im geringsten erkennen, dass die alten Mächte der Weltkriegsepoche demnächst zur dritten Runde antreten werden und die NATO bloß eine vorübergehende Erscheinung in der Epoche des kalten Krieges gewesen sein könnte.

Bei einer weltpolitischen Konfliktkonstellation müssen die beteiligten Gesellschaften ja nicht nur politisch-ökonomisch und militärisch, sondern auch kulturell und ideologisch formiert und vorbereitet werden. Man muss sich nur einmal ansehen, mit welch ungeheurem Aufwand und historisch weitem Ausgreifen die jeweiligen Feindbilder sowohl in der Weltkriegsepoche zwischen 1870 und 1945 als auch in der bipolaren Nachkriegskonstellation zwischen 1945 und 1989 aufgebaut und kultiviert wurden. Das „perfide Albion“, der französische „Erbfeind“ und umgekehrt die deutschen „Hunnen“ usw. oder später das „totalitäre Reich des Bösen“ im Osten erfuhren eine nicht bloß propagandistische, sondern auch künstlerische, volks- und popkulturelle Pflege und Ausmalung bis in den Alltag hinein. Dafür wurden alle medialen Register gezogen, vom akademischen Disput bis zum Kinderbuch, von der Denkmalpflege bis zur patriotischen Lyrik. Nichts dergleichen lässt sich heute über einen systematischen Aufbau von neuen und wechselseitigen innerimperialistischen Feindbildern sagen. Sogar der traditionelle europäische Antiamerikanismus ist nicht nur marginal, sondern selber schon „amerikanisiert“.

Das heißt keineswegs, dass nicht nationalistische, antisemitische, „volksgemeinschaftliche“, rassistische usw. kulturelle und ideologische Muster wiederkehren und in den Krisenprozessen der Globalisierung verstärkt abgerufen würden. Aber im Unterschied zur Weltkriegsepoche stehen diese Muster nicht im Kontext einer nationalimperialen Formierung für den Vernichtungskampf der kapitalistischen Großmächte untereinander um „geostrategische Großräume“. Schon das Feindbild des sowjetischen „Reichs des Bösen“ war auf einer anderen Ebene herausgebildet worden; es reflektierte nicht mehr die Konkurrenz der nationalimperialen Staaten des westlichen industriekapitalistischen Zentrums untereinander, sondern die Konkurrenz des Zentrums als Ganzem mit den historischen Nachzüglern der Peripherie und deren innerkapitalistischem „Gegensystem“.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Kriegs kehren nicht die vorherigen alten Feindbilder zurück, sondern es wird ein neues, wesentlich diffuseres Feindbild aufgebaut, das überhaupt nicht mehr in erster Linie von irgendeiner in imperiale Politik verlängerten Konkurrenz innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt ist (dies galt nur für deren historischen Aufstiegsprozess), sondern unmittelbar von den Zerfallserscheinungen in der kapitalistischen Weltkrise: Diese sollen ideologisch veräußerlicht und personifiziert werden, um den Charakter der Krisenerscheinungen im Dunkeln zu lassen und ihre Ursachen zu verschleiern.

Weltordnungskrieg

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