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Die Kälte gegen das eigene Selbst
ОглавлениеDer marodierende Realökonomismus darf als Motivzusammenhang freilich nicht in falscher Unmittelbarkeit verstanden werden. Das nicht mehr anders als gewaltsam geltend zu machende Geld- und Konkurrenzmotiv bildet den Hintergrund und die Triebkraft der (männlichen) Plünderungsökonomie. Trotzdem bedarf es dafür der nicht unmittelbar ökonomischen „Feinddefinition“, selbst wenn diese inhaltlich beliebig bleibt und sich die Gewaltsamkeit keineswegs auf die mehr oder weniger willkürlich definierte Feindpopulation beschränkt. Die Ideologie welcher Couleur auch immer verwildert und verwahrlost ebenso wie die Konkurrenz und ihre Subjektform, aber sie verschwindet nicht.
Außerdem besteht nicht nur ein direktes Verhältnis von Verelendung und Macht der Banden. Das Elend bildet den gesellschaftlichen Humus der Gewalt, aber es äußert sich nicht unbedingt selber gewaltsam oder jedenfalls nicht allein. Die eigentlichen Lazarus-Schichten sind meist gar nicht mehr fähig, zur Waffe zu greifen. Sie dienen nur noch als Opfermasse oder bleiben überhaupt einem kraftlosen Vegetieren überlassen. Die Milizen rekrutieren sich eher aus der perspektivlos gewordenen männlichen Jugend der bis vor kurzem noch mit einer Fassade der Normalität ausgestatteten Industriearbeiterschaft oder des Mittelstands. Gerade auch viele Angehörige der „Jeunesse dorée“, der trotz Krise noch Bessergestellten, der Reichen und Superreichen, der Krisen- und Globalisierungsgewinnler finden sich darunter.
Das Elend macht eben auch denen Angst, die noch nicht direkt davon erfasst sind, weil es eine Drohung für die eigene Zukunft darstellt. Es erzeugt nicht notwendig Mitleid und emanzipatorische Gesellschaftskritik, sondern auch Wut auf die Elenden und Verwahrlosung der Sitten gerade bei denen, die noch oben schwimmen in der Elendsgesellschaft. Zur „verlorenen Generation“ gehören nicht nur die jungen Dauerarbeitslosen und „Überflüssigen“, sondern auch die davon nicht oder noch nicht unmittelbar betroffenen (männlichen) Jugendlichen werden vom Klima der gesellschaftlichen Krise geprägt und verwildern moralisch. Die meisten Milizen und Banden in den Krisen- und Zusammenbruchsregionen stellen so eine merkwürdige Mischung aus barbarisierten Arbeitslosen und einer ebenso barbarisierten „Jeunesse dorée“ dar (deren Väter oft als Paten und Unterpaten fungieren).
Wenn die gesellschaftliche Reproduktion als Ganzes nicht mehr funktioniert, wenn die Quantität von Armut, Elend und Verzweiflung ein bestimmtes Maß überschreitet, dann kann es keine Insel der Wohlanständigkeit mehr geben. Das Fluidum der Angst und des Hasses durchdringt mühelos alle Hochsicherheitszäune, hinter denen sich die Obszönität des Krisenreichtums verschanzt hat. Die Ankoppelung von „erfolgreichen“ Minderheiten an die Globalisierung selbst noch in den Zusammenbruchsregionen konstituiert keinen sozialen Raum, der sich geistig und psychisch exterritorial halten könnte. Die Gesellschaft ist eben doch unteilbar. Geschäft und Gewalt, noch nie grundsätzlich geschieden, beginnen zu verschmelzen - und diese Kernschmelze der kapitalistischen Vernunft greift mit Windeseile auf die Weltzonen der vermeintlichen Normalität und Legalität über.
Die Konkurrenz wird in der Weltkrise zur ökonomischen Vernichtungskonkurrenz, somit zur sozialen Existenzkonkurrenz, und diese schlägt um in die unmittelbare „maskulinistische“ Gewaltkonkurrenz. Wenn dabei das Risiko des eigenen gewaltsamen Todes zum Alltag wird, jetzt im Mikrobereich der Lebenswelt wie einst an den Fronten der Weltkriege, steht dies nicht unbedingt im Widerspruch zum „egoistischen Interesse“ und zu den Begierden des Warenkonsums. Was dabei zum Vorschein kommt, ist die buchstäblich mörderische Selbstwidersprüchlichkeit des Konkurrenzsubjekts, indem sich - durch die Krise verschärft - die Selbstwidersprüchlichkeit der kapitalistischen Logik auch in den Individuen reproduziert; aufgrund ihrer Sozialisation vor allem in den männlichen. Die Ausweglosigkeit der kapitalistischen Form zerreißt die Motive, Gedanken und Empfindungen in gegensätzliche, unvereinbare und unlebbare Widersprüche. Die Gier nach Erfolg, Konsum usw. in dieser Form wird konterkariert durch die vollkommene Trostlosigkeit und geistige Ödnis des ökonomischen Imperativs, dessen Inhalte sich als immer alberner und gleichzeitig immer destruktiver darstellen.
Im schwülen Klima dieser zugespitzten Widersprüche gleitet das Konkurrenzbewusstsein leicht in einen Zustand, der über den Begriff des bloßen „Risikos“ oder „Interesses“ hinausweist: Die Gleichgültigkeit gegenüber allen anderen schlägt um in die Gleichgültigkeit gegen das eigene Selbst. Ansätze dieser neuen Qualität sozialer Kälte als „Kälte gegen sich selbst“ zeigten sich schon in den großen Krisenschüben der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch wenn diese Erfahrungen vorübergehend zu sein schienen. Hannah Arendt hat in ihrem berühmten Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ für die Zwischenkriegszeit eine „Atmosphäre allgemeiner Zersetzung“ konstatiert, in der eine Kultur der „Selbstverlorenheit“ entstanden sei (Arendt 1986/1951). Und auch damals schon waren es in erster Linie Männer und vor allem sehr junge Männer, die davon erfasst wurden.
Es war also viel mehr als bloß der Verlust beruflicher und materieller Sicherheit, so Arendt, der diese Individuen innerlich zum blinden Selbstopfer bereit machte: „Aber selbst diese egozentrische Bitterkeit, die individuell psychologisch gesehen das Kennzeichen einer ganzen Generation wurde, war nicht etwas, was sie gemeinsam hatten, obwohl alle individuellen Unterschiede schließlich in einem allgemeinen Ressentiment untergingen; der Egozentrismus konnte keine gemeinsamen Interessen entstehen lassen, und er war daher sehr oft mit einer typischen Schwächung des Instinkts der Selbsterhaltung verbunden. Selbstlosigkeit, nicht als Güte, sondern als Gefühl, dass es auf einen selbst nicht ankommt, dass das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden kann, wurde ein allgemeines Massenphänomen, das wohl den einzelnen dazu bewegen konnte, sein Leben in die Schanze zu schlagen, aber mit dem, was wir gewöhnlich unter Idealismus verstehen, nicht das geringste zu tun hatte. Diese Menschen … hatten bereits sehr viel mehr verloren als die Kette des Elends und der Ausbeutung, als das Interesse an sich selbst ihnen aus der Hand geschlagen wurde… Mit ihrer Weltlosigkeit verglichen waren die christlichen Mönche weltverhaftet, voller Interesse für weltliche Angelegenheiten… Seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts haben viele bedeutende Historiker und Staatsmänner das Herannahen eines Massenzeitalters prophezeit… Alle diese Prophezeiungen sind nun in der Tat eingetroffen, aber, wie es mit Prophezeiungen meist zu gehen pflegt, in einer Art und Weise, die doch von den Propheten nicht vorhergesehen war. Was sie kaum vorausgesehen oder doch in seinen eigentlichen Folgen nicht richtig eingeschätzt hatten, war dies ganz unerwartete Phänomen eines radikalen Selbstverlusts, diese zynische oder gelangweilte Gleichgültigkeit, mit der die Massen dem eigenen Tod begegneten oder anderen persönlichen Katastrophen, und ihre überraschende Neigung für die abstraktesten Vorstellungen, diese leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten, wenn sie dadurch nur dem Alltag und dem gesunden Menschenverstand, den sie mehr verachteten als irgend etwas sonst, entgehen konnten… Der Mangel an wirklicher Urteilskraft geht hier Hand in Hand mit der eigentümlichen, modernen Selbstlosigkeit, und beides findet nur zu sehr seine Entsprechung in dem Drang der Massen in eine fiktive Welt…“ (Arendt 1986/1951, 510 ff., 539).
Ebenso wie bei zahlreichen anderen Momenten ihrer Analyse des Totalitarismus entgeht es Hannah Arendt, dass sie hier weit mehr und Grundsätzlicheres beschreibt als bloß eine bestimmte historische Entwicklung des politischen Totalitarismus nach dem Ersten Weltkrieg, der bürgerlichen „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Das totalitäre Moment wohnte dem modernen warenproduzierenden System von Anfang an inne; es bildet seinen Kern, der ein Gewaltkern ist: die vollständige Unterwerfung des Menschen mit Haut und Haar, mit Leib und Seele, mit Kind und Kegel unter das abstrakte, an sich völlig inhaltslose Prinzip der Kapitalverwertung, deren sekundärer Ausdruck die moderne Staatlichkeit (das Souveränitätsprinzip) nur ist. Indem die Imperative dieser irrationalen Logik die Gesellschaft in eine sekundäre Naturwüste des Überlebenskampfes verwandelt haben, hat sich nur scheinbar die abstrakte Selbstbehauptung als oberstes Prinzip der Individuen (in ihrer modernen Form als strukturell „männliche“ Subjekte) konstituiert. Dahinter lauert vielmehr die ebenso abstrakte Selbstverleugnung; genauer gesagt: Selbstbehauptung und Selbstverleugnung sind in ihrer völligen Trennung von jeder sozialen Gemeinsamkeit an sich identisch, und diese Identität erscheint auch praktisch in den großen kapitalistischen Gesellschaftskatastrophen.
Elemente davon finden sich eben schon in der Urgeschichte moderner bürgerlicher und männlicher Subjektivität zu Beginn der sogenannten Neuzeit, bei den marodierenden Banden des Dreißigjährigen Kriegs und bei den Protagonisten jener zahlreichen Bürgerkriege, in denen sich das moderne Gesellschaftssystem herausbildete. Die Selbstlosigkeit und Selbstverlorenheit der Massen in der Durchgangsepoche des politischen Totalitarismus manifestierte auf hohem Entwicklungsniveau denselben Kern moderner Subjektivität, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in jenem zu sich kommenden Realökonomismus des Weltsystems, das heißt im ökonomischen Totalitarismus, entpuppte.
Wie sich alle allgemeinen Eigenschaften des Totalitären, die Hannah Arendt vermeintlich (ihrem Selbstverständnis nach) ausschließlich auf die politische Durchsetzungs- oder Verpuppungsform der totalitären Regimes bezog, in viel reinerer Form im ökonomischen Totalitarismus des sich globalisierenden Kapitalverhältnisses wiederfinden lassen, so auch und nicht zuletzt jene Kultur der Selbstlosigkeit, Selbstverlorenheit und Selbstvergessenheit, jener völlige Verlust der Urteilsfähigkeit. Dieser im totalen ökonomischen Imperativ angelegte totale Selbstverlust der abstrakten Individuen entfaltet sich am Ende des 20. Jahrhunderts, in der neuen Weltkrise an der absoluten inneren Schranke des Kapitalverhältnisses, mit einer nie dagewesenen Wucht und Ausdehnung. Was in der Vergangenheit nur temporärer Zustand war, wird zum Normal- und Dauerzustand; der „zivile“ Alltag selbst geht in die totale Selbstverlorenheit der Menschen über.
Wem wäre jemals mehr „das Interesse an sich selbst aus der Hand geschlagen“ worden, wer hätte jemals mehr das Gefühl haben müssen, dass es „auf einen selbst nicht ankommt“, dass alle Individuen jederzeit durch andere ebenso gleichgültige Charaktermasken der totalitären Verwertungsbewegung ausgetauscht werden können - als es den „überflüssigen“ Massen der dritten industriellen Revolution ebenso wie den ökonomischen Charaktermasken des globalisierten Finanzkapitals heute widerfährt? Und davon wird erneut in erster Linie ein männliches Selbstverständnis getroffen, auch wenn diese Verlorenheit in bestimmten Bereichen der Ökonomie empirisch Frauen nicht weniger betrifft. Es ist ein identischer Selbstverlust, der Schlägerbanden, Plünderer und Vergewaltiger ebenso kennzeichnet wie die Selbstausbeuter der New Economy oder die Bildschirmarbeiter des Investmentbanking.