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Die Ökonomie der Selbstzerstörung: Globalisierung und „Ausbeutungsunfähigkeit“ des Kapitals

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Hans Magnus Enzensberger hat im direkten Anschluss an Hannah Arendt versucht, den gemeinsamen Nenner der Selbstlosigkeit in den flächendeckenden wie in den „molekularen“ Bürgerkriegen des neuen Krisenzeitalters zu beschreiben: „Was hier wie dort auffällt, ist zum einen der autistische Charakter der Täter, und zum anderen ihre Unfähigkeit, zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden. In den Bürgerkriegen der Gegenwart ist jede Legitimation verdampft… Der einzig mögliche Schluss ist, dass die kollektive Selbstverstümmelung nicht ein Nebeneffekt ist, der in Kauf genommen wird, sondern das eigentliche Ziel. Die Kämpfer wissen sehr wohl, dass sie nur verlieren können, dass es keinen Sieg gibt. Sie tun alles, was in ihrer Macht steht, um ihre Lage bis ins Extrem zu verschärfen. Sie wollen nicht nur die anderen, auch sich selber in den ‚letzten Dreck‘ verwandeln. Ein französischer Sozialarbeiter berichtet aus der Banlieu von Paris: ‚Sie haben schon alles kaputtgemacht, die Briefkästen, die Türen, die Treppenhäuser. Die Poliklinik, wo ihre kleinen Brüder und Schwestern gratis behandelt wurden, haben sie demoliert und geplündert. Sie erkennen keinerlei Regeln an. Sie schlagen Arzt- und Zahnarztpraxen kurz und klein und zerstören ihre Schulen. Wenn man ihnen einen Fußballplatz einrichtet, sägen sie die Torpfosten ab.' Die Bilder vom molekularen und vom makroskopischen Bürgerkrieg gleichen sich bis ins Detail. Ein Augenzeuge gibt wieder, was er in Mogadiscio gesehen hat. Der Berichterstatter war dabei, wie eine Bande von Bewaffneten ein Hospital zertrümmerte. Das war keine militärische Aktion. Niemand bedrohte die Männer; Schüsse waren in der Stadt nicht zu hören. Das Krankenhaus war bereits schwer beschädigt und nur noch mit dem Nötigsten ausgestattet. Die Täter gingen mit wütender Gründlichkeit vor. Betten wurden aufgeschlitzt, Flaschen mit Blutserum und mit Medikamenten zerschmettert; dann machten sich die Bewaffneten in ihren verdreckten Tarnanzügen über die wenigen Apparate her. Sie waren erst zufrieden, als sie das einzige Röntgengerät, den Sterilisator und den Sauerstoffapparat unbrauchbar gemacht hatten. Jeder von diesen Zombies wusste, dass ein Ende der Kämpfe nicht in Sicht war; jeder wusste, dass schon am nächsten Tag sein Leben davon abhängen konnte, ob ein Arzt da wäre, der ihn zusammenflicken würde. Es ging ihnen offenbar darum, jede, auch nur die geringste Überlebenschance zu vernichten. Man könnte das die reductio ad insanitatem nennen. Im kollektiven Amoklauf ist die Kategorie der Zukunft verschwunden. Es gibt nur noch die Gegenwart. Konsequenzen existieren nicht mehr. Das Regulativ der Selbsterhaltung ist außer Kraft gesetzt“ (Enzensberger 1993,20,31 ff.).

Die Beschreibung ist zutreffend, die Tatsachen werden scharfsinnig analysiert; selbst der Hinweis auf den geschlechtlichen Charakter dieser Täterschaft fehlt nicht. Aber wie in anderer Weise bei Hannah Arendt bleibt der Grund auch bei Enzensberger unausgelotet. Das Bemühen wird erkennbar, die Phänomenologie des Schreckens von Selbstverlust und Selbstzerstörung irgendwie in ihrer Fremdheit einzugrenzen und damit aus der eigenen Lebenswelt auszugrenzen, um selber nichts damit zu tun haben zu müssen. Immerhin benennt Enzensberger (allerdings eher nebenbei) durchaus den äußeren sozialen Zusammenhang von kapitalistischer Globalisierung, neuen Bürgerkriegen und Selbstverlust der marodierenden Individuen: „Unstrittig produziert der Weltmarkt, seitdem er keine Zukunftsvision mehr ist, sondern eine globale Realität, mit jedem Jahr weniger Gewinner und mehr Verlierer, und zwar nicht nur in der Zweiten und Dritten Welt, sondern auch in den Kernländern des Kapitalismus. Fallen dort ganze Länder, ja Kontinente aus den internationalen Tauschbeziehungen heraus, so sind es hier wachsende Teile der Bevölkerung, die im Wettbewerb der Qualifikationen, der sich rapide verschärft, nicht mehr mithalten können“ (Enzensberger, a.a.O., 39).

Zwar hebt sich dieser Tatsachenrealismus auf den ersten Blick angenehm ab vom falschen Berufsoptimismus der offiziellen „Chancen“-Rhetorik, wie sie die akademische Volkswirtschaftslehre oder etwa die „spin doctors“ von „New Labour“ und „Neuer Mitte“ repräsentieren. Aber Enzensberger verdreht die Anerkennung der negativen Tatsachen in einer affirmativen Volte; das soziale Zerstörungspotential der kapitalistischen Globalisierung verwandelt sich ihm unter der Hand in eine dürftige Apologetik des Westens: „Die politischen Folgen, die von den marxistischen Theoretikern prophezeit wurden, sind jedoch ausgeblieben. Insofern sind ihre Thesen falsifiziert. Der internationale Klassenkampf findet nicht statt… Die Verlierer, weit davon entfernt, sich unter einem Banner zu versammeln, arbeiten an ihrer Selbstzerstörung, und das Kapital zieht sich, wo immer es kann, von den Kriegsschauplätzen zurück. In diesem Zusammenhang ist es nötig,… dem hartnäckigen Glauben einen Dämpfer zu versetzen, dass sich Ausbeutungsverhältnisse auf ein reines Verteilungsproblem reduzieren ließen, so als ginge es um die gerechte oder ungerechte Distribution eines Kuchens von gegebener Größe… Vorgetragen wird (dieses Klischee) am liebsten in Form der Behauptung, ‚wir‘ lebten auf Kosten der Dritten Welt; weil wir, das heißt, die Industrieländer, sie ausbeuteten, seien wir so reich. Wer sich auf diese Weise an die Brust schlägt, kann mit Tatsachen nicht viel im Sinn haben. Ein einziger Indikator genügt: der Anteil Afrikas an den Weltexporten liegt bei 1,3 %, der lateinamerikanische bei 4,3 %. Ökonomen, die der Frage nachgegangen sind, bezweifeln, ob die Bevölkerung der reicheren Länder es merken würde, wenn die ärmsten Kontinente von der Landkarte verschwänden… Theorien, welche die Armut der Armen ausschließlich durch externe Faktoren erklären, bieten nicht nur der moralischen Empörung wohlfeile Nahrung, sie haben noch einen anderen Vorzug: sie entlasten die Herrscher der armen Welt und schieben die alleinige Verantwortung für die Misere dem Westen zu… Von Afrikanern, die diesen Trick durchschaut haben, kann man unterdessen hören, dass es nur eines gebe, was schlimmer sei, als von Multis ausgebeutet zu werden, nämlich: nicht von ihnen ausgebeutet zu werden…“ (Enzensberger, a.a.O., 40 ff.).

Enzensberger möchte sich aus der Affäre ziehen, indem er die Problematik des neuen universellen Krisenkapitalismus, der absoluten inneren Grenze der planetarisch gewordenen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, auf die vergangene aufsteigende Linie des Kapitalismus, auf seine Durchsetzungsgeschichte und deren innere Kämpfe zurückprojiziert. Der zentrale Konflikt in diesem Sinne war in der Tat der sogenannte Klassenkampf, der jedoch seinem Wesen und seiner Natur nach nichts anderes war als erstens der „Kampf um Anerkennung“ der Lohnarbeit in den Rechts- und Politikformen des Kapitals (einschließlich des kapitalistischen Geschlechterverhältnisses), und zweitens der ökonomische Verteilungskampf um „Anteile“ innerhalb der Verwertungsbewegung des Kapitals.

In beiden Fällen handelte es sich um die Auseinandersetzung von kapitalistisch konstituierten Subjekten innerhalb der überhaupt nicht in Frage gestellten Formen des warenproduzierenden Systems. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine „Immanenz“ der sozialen Auseinandersetzung, die gerade aufgrund der anhaltenden Aufstiegs- und Ausdehnungsbewegung der kapitalistischen Form im „eisernen Gehäuse“ (Max Weber) dieser Form sich entfalten konnte, ohne darüber hinauszugehen; also eben (noch) nicht um eine „Immanenz“, die aufgrund der eigenen inneren Krisendynamik des Weltsystems über dessen Grenzen hinausgetrieben und dazu gezwungen worden wäre, dieses „eiserne Gehäuse“ der Form (und damit der eigenen Subjektform) selber aufzusprengen.

Dass der immanent bleibende „Klassenkampf‘ auf dem neuen Krisenterrain nicht mehr stattfinden kann, wird für Enzensberger zum Argument, sich am Problem der sozialen Beziehungsform und der Subjektform vorbeizumogeln, statt darin die Grenze, Krise und Unhaltbarkeit dieser Form selber zu erkennen. Denn warum kann denn der „Klassenkampf“ innerhalb der bürgerlichen Kategorien nicht mehr stattfinden, warum arbeiten denn speziell die männlichen Verlierer (und eben nicht nur die augenfälligen Verlierer!) nur noch an ihrer Selbstzerstörung? Eben deshalb, weil in den kategorialen Formen der warenproduzierenden Moderne keine tragfähige Entwicklung mehr stattfindet, weil nicht einmal mehr eine illusionäre zivilisatorische Perspektive gewonnen werden kann. Was heißt es denn, dass wachsende Teile der Weltbevölkerung nicht einmal mehr ausgebeutet, dass sie „überflüssig“ werden, dass ganze Kontinente weitgehend von der kapital-ökonomischen Landkarte verschwinden? Doch nichts anderes, als dass die kapitalistische Form, die Gesellschaftsform der Moderne, das warenproduzierende System also, für die globale Mehrheit (und letzten Endes für alle) reproduktionsunfähig wird; dass somit die Kritik und Überwindung des Form-Gehäuses selber ansteht, in dem sich der vergangene „Klassenkampf“ noch bewegen konnte.

Enzensberger jedoch macht aus der Tatsache, dass die Menschen zunehmend „nicht einmal mehr ausgebeutet“ werden, absurderweise ein Argument für den Kapitalismus bzw. für das westliche Zentrum des Kapitalismus. Dass es sich in der Tat um kein bloßes Verteilungsproblem innerhalb der kapitalistisch produzierten Form des Reichtums mehr handelt, gerät ihm zur Rechtfertigung dieser Form, was natürlich nichts anderes heißt, als dass er darin eine unüberwindbare ontologische Grundbedingung menschlicher Existenz überhaupt statt eine begrenzte historische Formation sehen will. Die Armut der Armen ist aber nur insofern nicht auf „externe Faktoren“ zurückzuführen (dies war das falsche, verkürzte Paradigma der bloß antikolonialen, nationalen Befreiungsbewegungen der Vergangenheit), als sich der Kapitalismus aus einem kolonialen Verhältnis von Zentrum und Peripherie zu einem unmittelbaren, negativ universellen Weltsystem gemausert hat, für das es kein „Außen“ mehr gibt.

Unter den Bedingungen der dritten industriellen Revolution, die diese Unmittelbarkeit des Weltmarkts hergestellt hat, werden die Produktivkräfte und Produktionsmittel im größeren Teil der Welt mangels betriebswirtschaftlicher Rentabilität stillgelegt, ohne dass jedoch gleichzeitig die Menschen aus der kapitalistischen Form (die eben längst auch ihre innere Subjektform ist) entlassen werden, wobei diese Subjektform immer auch durch das moderne Geschlechterverhältnis aufgeladen, also geschlechtlich modifiziert ist.

Soweit sie nicht gänzlich stillgelegt werden, erfahren die Produktionsmittel (nicht zuletzt fruchtbares Ackerland) eine zwangsweise Ausrichtung auf den universellen Weltmarkt, was zum Beispiel im Rahmen des globalen Agro-Business die arbeitsarme Hightech-Produktion von Luxusgütern wie Schnittblumen und Genussmitteln für die westlichen Zentren bedeutet, während die einheimische Bevölkerung von ihrem Land vertrieben und von ihren ökonomisch-wertförmig nicht oder nicht mehr darstellbaren Lebensressourcen abgeschnitten wird, ohne auf dem neuen Niveau der Produktivkräfte auch nur repressiv als „hands“ in die Weltmarktproduktion einbezogen werden zu können.

Die Waren- und Geldströme, in denen sich die marginalisierte Agro-Produktion oder punktuelle billige Lohnveredelungen etc. darstellen, sind zwar in der Tat im Verhältnis zum globalen Gesamtprodukt und insbesondere zum Volumen des inhaltsleeren Finanzkapitals vernachlässigenswert klein; aber eben in dieser relativ mikroskopischen Dimension der auf Weltniveau „gültigen“ Wertschöpfung verschwindet das Leben riesiger Bevölkerungsmassen von „Überflüssigen“. Der (selber bloß abstrakte und destruktive) Reichtum der westlichen Kernländer beruht nicht auf der Masse an billigen Schnittblumen aus Kolumbien oder Zentralafrika, die per Jet in die Metropolen verfrachtet werden; aber für diese paar Schnittblumen werden ganze Populationen sozial hingeopfert, eben weil die Weltmarktexistenz mit eiserner Konsequenz als die einzig mögliche Existenzform gesetzt ist.

Die Argumentation von Enzensberger ist durchsichtig apologetisch, und das weiß er wohl selber am besten. Offensichtlich zieht er es vor, perspektivische Hilflosigkeit in Zynismus umzusetzen. Aus der historisch konkreten Problemlage flüchtet er sich so in vermeintliche anthropologische Unausweichlichkeiten, in einen ahistorischen Existentialismus und Nihilismus: „Alte anthropologische Fragen stellen sich in dieser Lage neu“ (a.a.O., 11). Da ist dann hinsichtlich der neuen Qualität in der Vernichtung Wehrloser die Rede vom leider autistisch gewordenen „testosteronbedingten Energiestau der Jugend“ (a.a.O., 22). Das Verhältnis von moderner Subjektform und modernem Geschlechterverhältnis wird so an der globalen Krisenschranke des Systems nicht kritisch thematisiert, sondern ideologisch anthropologisiert, um sich dieser Krise nicht stellen zu müssen. Als die „eigentlich Schuldigen“ erscheinen dann die barbarischen „Herrscher der armen Welt“ (a.a.O., 41) usw. Der Westen, Zentrum der weltzerstörenden universellen Form des Kapitalverhältnisses, soll sich für sein eigenes Weltsystem unzuständig erklären, das westliche Publikum nicht länger mit den „unverständlichen Beweggründen“ (a.a.O., 78) der verrückten Mordfraktionen in exotischen Gegenden belästigt werden.

Der positive Eurozentrismus westlicher Allzuständigkeit im Namen des abstrakten Universalismus, der für die kapitalistische Ausbeutbarkeit der Welt stand, schlägt bei Enzensberger um in einen negativen Eurozentrismus der Ignoranz, der die inneren weltsystemischen Katastrophen veräußerlichen und verdrängen möchte, eben weil die Welt kapitalistisch ausbeutungsunfähig wird. Der Abschied von „moralischen Allmachtsphantasien“ (a.a.O., 86) gerät so zur alten Spießerweisheit einer Kirchturmspolitik: „Doch insgeheim weiß jeder, dass er sich zuallererst um seine Kinder, seine Nachbarn, seine unmittelbare Umgebung kümmern muss“ (a.a.O., 87). Das ist bloß die Umkehrung der westlichen militärischen Interventionspolitik, aber keine Kritik der zugrunde liegenden Verhältnisse. So konnte Enzensberger von einem fanatischen Interventionsphilosophen wie André Glucksmann „Flucht aus der Verantwortung“ vorgeworfen werden, wobei dann die „Verantwortung“ für Glucksmann eben darin besteht, auf die unkontrollierbaren Krisengebiete Bomben regnen zu lassen.

So oder so erscheint nicht eine weitergehende, auf die Form des modernen Systems und seiner Subjektivität zielende radikale Kritik angesagt, sondern, wie Enzensberger meint, die „Triage“, die Notlagen-Selektion als „Zwangslage“ (a.a.O., 88 f.) unter unveränderlichen ontologischen Existenzbedingungen des warenproduzierenden Systems. „Was aus Angola werden soll, darüber müssen in erster Linie die Angolaner entscheiden“ (a.a.O., 90) - als würde die Globalisierung die angolanischen Mordbanden nicht zu ebenso direkten „Nachbarn“ machen wie die deutschen jugendlichen Mordbanden in „Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen“ (a.a.O., 90). Das universelle „Innen“ lässt sich nicht externalisieren und partikularisieren.

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