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Die Metaphysik der Moderne und der Todestrieb des entgrenzten Subjekts
ОглавлениеNatürlich fragt sich, wie Enzensberger aus einer durchaus hellsichtigen Analyse in eine derart gewollte Ignoranz und friedliche Koexistenz mit der Unbewältigbarkeit von „Zwangslagen“ abstürzen kann. Die Alternative zur westlichen Militärintervention gegen die vom globalen Kapitalverhältnis selbst induzierten Barbarisierungsprozesse ist schließlich nicht der aussichtslose Rückzug auf die vermeintliche Bewältigungskompetenz im eigenen Vorgarten, sondern eben die Erweiterung der nur noch im globalen Kontext zu formulierenden Gesellschaftskritik auf die unhaltbar gewordenen Formen des modernen warenproduzierenden Systems und seiner (strukturell „männlichen“) Subjektivität. Das Paradigma des form-immanenten Klassenkampfs ist abzulösen durch das Paradigma einer Kritik des gemeinsamen, klassen-übergreifenden Formzusammenhangs moderner, auf anonymer Monetarisierung und Konkurrenz wie auf dem geschlechtlichen Abspaltungsverhältnis beruhender negativer Gesellschaftlichkeit.
Woher also die Scheu nicht nur Enzensbergers, zu dieser Formkritik überzugehen? Der Grund dürfte darin liegen, dass eine solche weitergehende, kategoriale Kritik der Moderne alles vertraute Gelände verlassen müsste. Alle bisherige Gesellschaftskritik, nicht nur diejenige der Arbeiterbewegung im engeren Sinne, hatte sich im Zuge der kapitalistischen Aufstiegs- und Ausdehnungsbewegung positiv auf das Ideensystem der bürgerlichen Aufklärung im 18. Jahrhundert und damit auf die Konstitution des bürgerlichen Subjekts bezogen. Dieses immer schon primär männlich gedachte Subjekt sollte gerade qua seiner Form emanzipativ handeln, in welcher ideologischen Verkleidung auch immer. Diese kategorial in der warenförmigen Vergesellschaftung befangene Vorstellungswelt hat nicht nur die sogenannte Neue Linke von der alten Arbeiterbewegung geerbt, sondern auch speziell die deutsche Nachkriegs-Intelligentsia gegen das Verhängnis der deutschen Geschichte geltend gemacht. Aufklärung, Subjekt, Politik, Demokratie: das waren Marx und die Propheten.
Umso schwerer fällt jetzt die Einsicht, dass die deutsche Geschichte unter Einschluss des Nationalsozialismus integraler Bestandteil der weltkapitalistischen Geschichte war, dass es keine positiv zu besetzende Alternative innerhalb dieser Form mehr gibt und dass im Zentrum der heutigen Weltmisere die ausweglos gewordene Form des modernen bürgerlichen Subjekts selber steht. Jetzt, an den Grenzen von bürgerlicher Aufklärung und warenförmiger Reproduktion, zeigt sich die reale Metaphysik der Moderne in ihrer abstoßendsten Weise. Nachdem das bürgerliche, aufgeklärte Subjekt alle seine Hüllen abgestreift hat, wird deutlich, dass sich unter diesen Hüllen NICHTS verbirgt: dass der Kern dieses Subjekts ein Vakuum ist; dass es sich um eine Form handelt, die „an sich“ keinen Inhalt hat. Was Enzensberger exotisieren möchte, ist sein eigenes gesellschaftliches Wesen als bürgerliches (und natürlich männliches) Aufklärungssubjekt. Wenn er meint, die Exotik des „Unverständlichen“ zu beschreiben, beschreibt er die Metaphysik der westlichen Moderne selbst: „Was dem Bürgerkrieg der Gegenwart eine neue, unheimliche Qualität verleiht, ist die Tatsache, dass er ohne jeden Einsatz geführt wird, dass es buchstäblich um nichts geht“ (a.a.O., 35). Aber genau dieses Unheimliche ist nicht das Fremde, Äußerliche, sondern es kommt nur das innerste Selbst des Waren-, Geld- und Konkurrenzsubjekts, das Wesen des demokratischen Staatsbürgers zum Vorschein. Das Nichts, um das es geht, ist die vollkommene Leere des sich verwertenden „automatischen Subjekts“ (Marx) der Moderne.
Denn die im Geld sich ausdrückende Form des Werts, der als objektivierte metaphysische Realabstraktion das moderne Dasein als „säkularisierter“ und verdinglichter Gott beherrscht und dessen Kehrseite die Metaphysik demokratischer Staatsbürgerlichkeit nur ist, hat „an sich“ keinerlei sinnlichen oder sozialen Inhalt; sie ist als negative Kraft in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Das metaphysische Vakuum des Werts ist es, das hinter den scheinbar so rationalen Interessenkämpfen und dem scheinbaren Selbstbehauptungswillen der abstrakten Individuen steht. Dieses Gorgonenhaupt der weltlosen Leere im Zentrum der Moderne möchten Leute wie Beck und Enzensberger lieber nicht zur Kenntnis nehmen. Aber es ist eben diese metaphysische Monstrosität, die hinter dem fröhlichen individualisierten „Selbstmanager“ der Postmoderne zum Vorschein kommt.
In einem Weltklima der wechselseitigen Vernichtungskonkurrenz, der permanenten Gefährdung der sozialen Existenz und gleichzeitig eines prekären spekulativen Geldreichtums, der sich jeden Moment in Luft auflösen kann, gedeiht so ein diffuser Vernichtungswille, der jenseits äußerlicher „Risikoverhältnisse“ agiert und der ebenso abstrakt und inhaltsleer ist wie die gesellschaftliche Form, die dem Verwertungsprozess des Kapitals zugrunde liegt. Die Form „Wert“ und damit die Form „Subjekt“ (Geld und Staat) ist sich ihrem metaphysischen Wesen nach selbst genug und muss sich doch in die wirkliche Welt „entäußern“; aber nur, um stets zu sich selbst zurückzukehren. Dieser metaphysische Ausdruck der scheinbar banalen (und in sinnlich-sozialer Hinsicht tatsächlich grauenhaft banalen) Verwertungsbewegung bildet das eigentliche Thema der gesamten Aufklärungsphilosophie, sehr deutlich bei Kant und insbesondere bei Hegel, der die dialektische Bewegungsform dieses „Entäußerungsprozesses“ eines metaphysischen Vakuums in die wirkliche Welt präzise und affirmativ nachgezeichnet hat.
In dieser Selbstgenügsamkeit, dennoch nötigen Entäußerungsbewegung und letztlichen Selbstbezüglichkeit der leeren metaphysischen Form „Wert“ und „Subjekt“ gründet ein Potential der Weltvernichtung, weil nur im Nichts und damit in der Vernichtung der Widerspruch zwischen metaphysischer Leere und „Darstellungszwang“ des Werts in der sinnlichen Welt zu lösen ist. Die Inhaltsleere von Wert, Geld und Staat muss sich in ausnahmslos alle Dinge dieser Welt entäußern, um sich als real darstellen zu können: von der Zahnbürste bis zur subtilsten seelischen Regung, vom einfachsten Gebrauchsgegenstand bis zur philosophischen Reflexion oder zur Umgestaltung ganzer Landschaften und Kontinente. Leben und Tod, das gesamte menschliche Dasein und das gesamte Dasein der Natur dienen einzig dieser proteusartigen Selbst-Darstellungsfähigkeit des gesellschaftlichen metaphysischen Vakuums von Kapital und Staat.
In dieser unaufhörlichen metaphysischen Selbstzweckbewegung (die Zwecke des Begehrens der konkurrierenden Individuen sind in diesen übergeordneten Selbst-Reflexionsprozess des „automatischen Subjekts“ eingeschlossen) werden die Dinge dieser Welt und das Begehren der Individuen nicht in ihrer Eigenqualität anerkannt, sondern diese wird ihnen vielmehr genommen, um sie in bloße „Gallerten“ (Marx) der metaphysischen Leere zu verwandeln und sie damit der immergleichen Wertform anzuverwandeln (oberflächlich betrachtet: sie zu „ökonomisieren“, also zum bloßen und gleich-gültigen Material der Verwertungsbewegung zu machen).
Daraus entsteht ein doppeltes Potential der Vernichtung: ein „gewöhnliches“, gewissermaßen alltägliches, wie es sich schon immer aus dem Reproduktionsprozess des Kapitals ergibt, und ein gewissermaßen finales, wenn der „Entäußerungsprozess“ an absolute Grenzen stößt. Die Realmetaphysik des modernen warenproduzierenden Systems zerstört die Welt partiell als „Nebenwirkung“ ihrer „gelingenden“ Entäußerung; und sie wird zum absoluten Weltvernichtungswillen, sobald sie sich nicht mehr in den Weltdingen selbst-darstellen kann. Insofern könnte man von einem Todestrieb der kapitalistisch verfassten modernen Menschheit sprechen, der eben auch einen geschlechtsspezifischen Ursprung hat. Im Zentrum der Aufklärungsphilosophie steht der ideelle Ausdruck dafür, die Anbetung der leeren Abstraktion „einer Form überhaupt“ (Kant).
Diese Vemichtungslogik kann sich auf schleichende Weise im ganz normalen Gang der Geschäfte äußern, etwa in der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch die betriebswirtschaftliche Externalisierung von „Kosten“, in der mangelnden Versorgung ganzer Bevölkerungsgruppen mit Lebensmitteln und medizinischer Hilfe qua mangelnder „Finanzierungsfähigkeit“, im unnötigen Massensterben von Säuglingen und Kleinkindern in den globalen Armutsregionen usw.
Dieselbe Vernichtungslogik kann aber auch unmittelbar als Gewaltexplosion in Erscheinung treten und dabei jene Entgrenzung des Selbst-Bewusstseins auslösen, wie sie nicht erst an den Fronten der kapitalistischen Kriege zu beobachten war, sondern auch binnengesellschaftlich in den großen Krisenschüben des 20. Jahrhunderts. Heute scheint diese Entselbstung zum Weltprinzip zu werden. Der finale Vernichtungswille des metaphysisch konstituierten Subjekts richtet sich schließlich gegen dieses Subjekt selbst, soweit es von dieser Welt, also sinnlich existent ist. Und keineswegs zufällig bricht bei dieser Orgie der Selbstzerstörung das „männliche“ Wesen dieses Subjekts wieder ganz unverhüllt an die Oberfläche durch.
Natürlich ist es nicht unmittelbar das realmetaphysische Vakuum des Werts, der gesellschaftlichen Form der Kapitalbewegung, das „am“ oder „im“ Subjekt handelt, sondern dieses Krisenhandeln, dieser Übergang zur entgrenzten Gewalt findet über die Transmission von Sozialisationsformen und psychischen Mechanismen statt. Dabei erweist sich gerade die vielbejubelte postmoderne Individualisierung, die in Wahrheit nur die äußerste Steigerung der abstrakten (getrennten) Subjektivität des kapitalistisch konstituierten Menschen bis zum Grad vollkommener Verlassenheit ist, als die Übergangsform zur absoluten Entselbstung, in der sich die psychischen Mechanismen des Todestriebs bis zur unmittelbaren Manifestation entfalten, wie es der Sozialwissenschaftler und Gefängnispsychologe Götz Eisenberg eindringlich beschreibt: „Gesellschaftliche Konflikte werden reprivatisiert und stauen sich in einem seelischen Innenraum, der für das Austragen solcher Energien ungeeignet ist. Er ist zu eng. Das eingekapselte Unglück kann nicht stillstehen, sucht nach einem Ausweg… Hinter den Bildern aktuell erfahrener Kränkungen tauchen Bilder aus der lebensgeschichtlichen Vergangenheit auf, die in der Kindheit belichtet wurden, aber erst jetzt aus dem Entwickler gezogen werden. Wie ein Verstärker schließen sich uralte Kränkungs- und Zurückweisungserfahrungen an die aktuellen Demütigungen an und verleihen diesen so erst ihre Wucht… Die ins Innere zurückgenommene emotionale Energie diffundiert, setzt sich an anderer Stelle neu zusammen, verschiebt sich und geht neue Legierungen ein… Die Innenwelt verwandelt sich in ein Kaleidoskop durcheinanderwirbelnder Fragmente, die sich zu immer skurrileren und ängstigenderen Bildern zusammenfügen. Psychotische Persönlichkeitsanteile, die wir als nur ‚partial Sozialisierte‘ (Mitscherlich) alle in uns tragen, schieben sich in den Vordergrund und erringen eine Art von psychischer Hegemonie. Ein archaischer Hass auf verfolgende innere und äußere Objekte macht sich breit, die Wahrnehmung trübt sich ein, die Welt verdunkelt sich, bis schließlich alles zum ‚bösen, verfolgenden‘ Objekt wird. Jetzt funktionieren Ruhe und Selbstbeherrschung nur noch mühsam; sie brüten etwas aus. Paranoide Phantasien beginnen, das gesamte innere Blickfeld auszufüllen. Jetzt bedarf es nur noch eines letzten Anstoßes, und die Unglücksmechanik kommt ins Rollen“ (Eisenberg 2002, 24 f.).
Die Abstraktheit dieses Vernichtungswillens spiegelt die Selbstwidersprüchlichkeit des Kapitalverhältnisses in doppelter Weise: Einerseits zielt er auf die Vernichtung der „anderen“ zwecks scheinbarer Selbsterhaltung um jeden Preis, andererseits ist es gleichzeitig auch ein Wille zur Selbstvernichtung, der die Sinnlosigkeit der eigenen marktwirtschaftlichen Existenz exekutiert. Mit anderen Worten: Die Grenze zwischen Mord und Selbstmord verschwimmt. Es geht über das „Risiko“ der Konkurrenz hinaus um eine derart entgrenzte Vernichtungswut, dass die Unterscheidung des eigenen Selbst von dem der anderen zu verschwinden beginnt, was sich wiederum als psychischer Mechanismus darstellen lässt: „Um der eigenen narzisstischen Katastrophe zu entgehen und unerträgliche Gefühle von Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit abzuwehren, wird das eigene Innere nach außen gestülpt und mörderisch-selbstmörderisch in Szene gesetzt. Der Erhalt des Selbstwerts und der Integrität der Persönlichkeit kann ein Motiv menschlichen Handelns sein, das höher wiegt als die Sicherung des eigenen reduzierten Überlebens. Bevor innere Spannungen das Selbst sprengen, sprengt der Täter in einer Art von Vorwärtsverteidigung Teile der Außenwelt in die Luft… Die Zerstörungswut des Kleinkindes, das sich verlassen, missachtet und verzweifelt fühlt und deshalb am liebsten alles in Stücke schlagen möchte, ist durch seine mangelnde Körperkraft begrenzt; jetzt steckt dieselbe raptusartige Wut im Körper eines Erwachsenen, der sich Zugang zu Waffen, Autos oder gar Flugzeugen verschaffen kann“ (Eisenberg, a.a.O., 25 f.).
Das abstrakte Selbst des Geldsubjekts löst sich in der finalen Krisenkonkurrenz auf und bringt den in seinem Inneren schon immer lauernden Kern, das mit Selbstzerstörung identische Vakuum seiner Existenz zum Vorschein. In den sich häufenden Zusammenbrüchen der sozialökonomischen Beziehungen, wie sie vom Weltmarkt der Globalisierung induziert werden, im Zersetzungsprozess ganzer Gesellschaften ist keine Selbstdefinition der Individuen mehr möglich, solange sie sich in der herrschenden gesellschaftlichen Form weiter bewegen (was sie bis jetzt spontan auch tun). Die demokratische Phrase kann die Wut nur steigern und anfachen, weil sie ja selber ein bloß heuchlerischer und frömmlerischer Ausdruck derselben Vernichtungslogik gegen Mensch und Natur ist.
Die Erscheinungen der Selbstverlorenheit und Selbstzerstörung, wie sie Enzensberger an der männlichen Jugend beschreibt, sind heute in mehrfacher Weise universell geworden. Zum einen sind es nicht nur die (von Jahr zu Jahr zahlreicher werdenden) Täter der unmittelbaren Vernichtung und Selbstvernichtung, die dieser Selbstverlorenheit angehören. Die augenfälligen Täter bilden nur die Spitze des Eisbergs, die manifeste Erscheinung eines viel allgemeineren gesellschaftlichen Zustands. Auf jeden mörderischen und selbstmörderischen Exekutor kommen Tausende und Millionen, die ähnlich empfinden, diese Empfindung aber (noch) nicht zur Tat werden lassen, sondern in der Phantasie damit spielen oder sich mit einschlägigen medialen Produkten abreagieren (allein dass solche Produkte, sogenannte Gewaltvideos und zahlreiche andere Ausdrucksformen medialer Gewaltverherrlichung, in profitabler Massenproduktion hergestellt werden können, spricht für den gesellschaftlichen Tiefgang des Problems).
Zum zweiten sind es eben nicht nur die manifesten Verlierer wie in der Banlieu oder in Mogadischu, die aufeinander schießen oder sich bewusst selber den Lebensfaden abschneiden. Der molekulare Bürgerkrieg findet auch und gerade unter der Jugend der abgeschotteten Scheinnormalität, der Besserverdienenden, Krisengewinnler und Fanatiker der Wohlanständigkeit statt, deren seelische Unbehaustheit und Selbstverlorenheit derjenigen der jugendlichen Killer aus den Slums in nichts nachsteht. Der Kult von Mord und Vergewaltigung als Sport ebenso wie der Kult des inszenierten Selbstmords grassiert auch in den Villenvierteln von Rio de Janeiro, New York oder Tokio. Der sprichwörtlich gewordene Amoklauf mit anschließender Selbsthinrichtung an den High Schools der USA entspringt der Imagination von Sprösslingen der betuchten Mittelklassen. Und auch die Selbstmord-Attentäter in Palästina oder Sri Lanka kommen in aller Regel aus „besseren Kreisen“.
Schließlich sind es auch nicht ältere Schichten vormoderner Kultur, die etwa in Gestalt des in der moslemischen Welt grassierenden Islamismus bei den „Herausgefallenen“ unter der Oberfläche kapitalistischer Modernität und globalistischer Universalität hervorbrechen würden. Zwar ist das eine, universelle, weltumspannend-realmetaphysische System des Kapitals in den verschiedenen Weltregionen kulturell unterschiedlich eingefärbt, je nach dem Muster älterer Traditionen, religiöser Vorstellungen, sozialer und ästhetischer Verhaltensweisen usw. Aber diese Farbe, diese kulturelle Differenz bildet nicht das Eigentliche, das tiefgehende Innere, im Verhältnis zu dem die kapitalistische Verfasstheit und Eingebundenheit in den Weltmarkt bloß eine Art äußerlicher Firnis wäre. Es verhält sich genau umgekehrt. Nach Jahrhunderten kapitalistischer Zurichtungsgeschichte und nach der Durchsetzung des Kapitalverhältnisses als unmittelbares Weltverhältnis ist es die eine, universelle, das überall identische metaphysische Vakuum des Werts „verkörpernde“ Subjektform, die das innere Selbst der Individuen als vollkommen farbloses, ja überhaupt qualitätsloses Wesen konstituiert, während die kulturelle Differenz nur noch eine äußerliche, quasi folkloristische Bemalung darstellt.
Deshalb sind die „lebenden Bomben“ (Enzensberger, a.a.O., 36), die durch die Welt des globalisierten Kapitals irren, auch die ureigensten Produkte dieser Welt: identische Subjekte derselben Realmetaphysik, in denen der Todestrieb dieser negativen Vergesellschaftung manifest geworden ist. Die Amokläufer an den US-High-Schools und die islamistischen Selbstmordattentäter sind mehr durch ihre Subjektform und damit in ihren Taten geeint als durch ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergrund getrennt.
Was bei den Amokläufern augenfällig ist, gilt auch für die scheinbar mehr ideologisch gesteuerten Selbstmordattentäter: Auch bei ihnen hat, wie es Hannah Arendt bereits für die verlorene Generation der Zwischenkriegszeit erkannte, die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, „nicht das geringste mit dem zu tun, was wir gewöhnlich unter Idealismus verstehen“. Die religiösen Motive, wie sie nicht zufällig die eigentlichen modernen Ideologien abgelöst haben, sind Ausdruck jener universellen Selbstverlorenheit, die in die „leidenschaftliche Vorliebe“ der Verlorenen mündet, „ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten“ und es endlich wegzuwerfen wie ein gebrauchtes Papiertaschentuch.
Der weltweit grassierende religiöse Wahn, wie er ja auch im Westen eine Unzahl von Sekten (und eben auch dezidierten „Selbstmordsekten“) hervorgebracht hat, besitzt keinerlei Kohärenz mehr; er mischt sich synkretistisch aus allen möglichen religiösen Versatzstücken und reichert sich mit den Verwesungsprodukten vergangener Ideologien an, von der Hitlerverehrung bis zur „Schwarzen Messe“. Der absurde Kult des Bösen korrespondiert mit dem Todestrieb im freigesetzten leeren Zentrum der aufklärerischen Vernunft.
In der Weltkriegsepoche hatte dieser Zersetzungsprozess bereits begonnen, lediglich unterbrochen durch den letzten fordistischen Entwicklungsschub des Kapitalismus nach 1945. Tatsächlich kann die Nazi-Ideologie als eine Art Vorläufer oder Prototyp des giftigen ideellen Gebräus verstanden werden, wie es heute weltweit in verschiedenen Mixturen zirkuliert. Auch die Nazis mischten sich ihre wahnhafte „Weltanschauung“ aus disparaten pseudoreligiösen Motiven, synthetischen archaischen Mythen, modernen Ideologien und Abfallprodukten des mit dem kapitalistischen Aufstieg verbundenen naturwissenschaftlichen Denkens. Auch die Nazis waren bestimmt vom Kult der spezifisch modernen gewaltsamen „Männlichkeit“ und ihrer Codes. Und auch schon den Nazis ging es nicht oder zumindest nicht nur um imperiale Interessen, sondern auch um eine selbstzweckhafte Vernichtungswut, die in einer Orgie der Selbstvernichtung und Selbstopferung gipfelte.
Heute wird derselbe Motivzusammenhang aber nicht mehr national und spezifisch deutsch freigesetzt, sondern global und universell; der mörderische Wahn organisiert sich nicht mehr als nationalimperiales „Reich“, sondern im Kontext des „ideellen Gesamtimperialismus“ und in der molekularen Zerstreuung über den gesamten Globus.
Die Überbetonung äußerer kultischer Akte bei den westlichen Sekten wie bei den Islamisten verweist auf die identische Leere des Inhalts. Hatten die alten Religionen stets den reproduktiven Hintergrund agrarischer Zivilisationen, so ist nichts dergleichen mehr für die Zombie-Ideen der neuen, diesmal globalen „verlorenen Generationen“ festzustellen, für die es in ihrer kapitalistischen Verfasstheit keine Zukunft geben kann. Andererseits kann der „Interessenhintergrund“ der früheren modernen Ideologien aus der Aufstiegsgeschichte des Kapitalismus keine ideelle Kohärenz mehr stiften: Das „Interesse“ selber verwildert und zerfällt, und mit ihm die Ideologie, die ebenso jedes kohärenten Inhalts beraubt wird.
Die Gier nach dem Markt-Erfolg bei den Sprößlingen der minoritären Globalisierungsgewinnler und die plünderungsökonomische Gier nach „westlichen Waren“ in den Zusammenbruchsregionen schlägt unvermittelt in die leere totale Interesselosigkeit des männlich-jugendlichen Amok- und Selbstmordsubjekts um. McDonald’s und Dschihad bilden tatsächlich die beiden Seiten derselben Medaille, noch weit furchtbarer, als es Benjamin Barber in seinem Buch „Coca-Cola und Heiliger Krieg“ (Barber 1996) dargestellt hat. Das „Dürsten nach dem Tod“ ist kein spezifisch islamisches Motiv, sondern der universelle Verzweiflungsschrei einer sich in ihrer kapitalistischen Weltform selbst hinrichtenden Menschheit. Und die Täter sind zu 90 oder fast 100 Prozent konkurrierende Gewaltmänner, am Ende nicht weniger als am Anfang dieser wunderbaren „Zivilisation“.