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Erlebtes, aber die Wahrheit?

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Die Geschichte der Verhaftung wird seit ihrer ersten Veröffentlichung im Dezember 1870[19] in allen Fontane-Publikationen immer wieder genau so erzählt. Obwohl es sich bei Kriegsgefangen um keinen sachlichen Bericht eines Journalisten, sondern um die autobiografische Schrift eines Dichters handelt, wurde Fontanes Version nicht infrage gestellt. Und für Fontane war es offenbar verlockend, die romantische Reise ins Jeanne d’Arc-Land auf ihrem Höhepunkt poetisch enden zu lassen.

Mehrere Indizien, die sich sowohl in den Notizen und im gedruckten Text als auch vor Ort finden lassen, sprechen jedoch dafür, dass die Verhaftung weitaus unspektakulärer über die Bühne gegangen sein könnte. Vermutlich wurde Fontane nicht vor der Statue der Jeanne d’Arc festgenommen. Denn anders als in Kriegsgefangen erzählt, wurde er nicht bei der Materialuntersuchung unterbrochen, sondern hatte sie – wie die Bemerkung im Notizbuch belegt – bereits beendet: Ob es Erz ist oder gebrannte Thonmasse [,] ist nicht zu sehn. Es scheint aber Thonmasse. Zudem hatte Fontane seine vor Ort angefertigten Notizen über die letzte Station seines Rundgangs durch Domrémy abgeschlossen. Sie enden mit dem wenig schmeichelhaften Urteil über die Statue, das er später, etwas modifiziert, in Kriegsgefangen übernimmt: das Ganze eine schwächliche conventionelle Leistung.[20] Entlarvender als die Notizen ist jedoch ein Hinweis im gedruckten Text, den Fontane schlichtweg übersehen haben muss. Auf dem späteren Transport zur Zitadelle von Besançon traf er einen jener Herren, die seine Verhaftung vor dem Hause der »Pucelle« herbeigeführt […] hatten.[21] Wo also wurde Fontane verhaftet: vor der Kirche oder vor dem Geburtshaus der Jeanne d’Arc? So viel vorweg: weder noch.

Fraglich ist auch, wie sich Fontane verdächtig machte. Dass er sich als Tourist durch Domrémy bewegte, war für die Einheimischen unschwer zu erkennen. Und dass er vor und in den Jeanne-d’-Arc-Orten in einem Notizbuch schrieb und skizzierte, war vielleicht ungewöhnlich – aber wies ihn das als einen Spion aus? Und wer hat ihn überhaupt beobachtet? Die Acht bis zwölf Männer, die ihn festnahmen, können es nicht gewesen sein, wenn sich das Gasthaus Café de Jeanne d’Arc in dem heutigen Hotel Jeanne d’Arc befunden haben sollte, wofür die Ähnlichkeit des Namens sprechen würde. Eine Überprüfung vor Ort ergibt: Die Sicht aus den Fenstern ermöglicht einen Blick auf die Straße oder auf die Seitenwand der Kirche. Aber es war unmöglich, Fontane beim Abklopfen der Statue vor der Kirche zu beobachten. Vom Wirtshaus erst recht nicht zu sehen war, wer sich vor der Geburtsstätte der »Pucelle« aufhielt, weil sich das Haus zurückversetzt neben der Kirche befindet.

Dass sein Kutscher, der nicht zum ersten Mal einen Jeanne-d’Arc-Touristen chauffierte, ihn nicht verraten hatte, hebt Fontane ausdrücklich hervor. Wer war es dann? Eine naheliegende Antwort klingt zunächst einmal verstörend: Fontane selbst. Aber mit Sicherheit unbeabsichtigt.

Und so könnte sich die Verhaftung tatsächlich abgespielt haben: Nachdem die entzückende Fahrt hinter die Front völlig problemlos verlaufen war, er alle Jeanne-d’-Arc-Stätten ungehindert besichtigen und in Vaucouleurs in einem öffentlichen Etablissement sogar frühstücken konnte, hatte Fontane – ungeachtet seines düsteren Eindrucks von Domrémy – vermutlich keine Bedenken, auch das Café de Jeanne d’Arc aufzusuchen, vor dem der Wagen ohnehin gehalten hatte und in dem sich sein Kutscher aufhielt. Bemerkenswert in Kriegsgefangen ist die ausführliche Schilderung, wie Fontane den Dorfbewohnern, deren Zahl von Minute zu Minute wuchs, seine Mission zu erläutern versucht. Wurde er befragt? Erzählte er von selbst? Wie auch immer: alles [wurde] wohl aufgenommen. Misstrauisch wurden die angetrunkenen Gasthausbesucher erst, als durch einen Zufall Fontanes Waffen zum Vorschein kamen. Nachdem die Stimmung ziemlich hoch ging, wurde der bedrängte Fremde vermutlich von einem Franctireur gefragt, ob er damit einverstanden sei, dass man ihn nach Neufchâteau auf die Souspräfektur führe.

Für die Version, dass Fontane im Gasthause verhaftet wurde, spricht außerdem ein korrektes Detail, das womöglich versehentlich in Fontanes Geschichte geraten – oder im Text stehen geblieben ist: In Kriegsgefangen erwähnt er, dass er vor dem Verlassen des Wirtshauses seine Rechnung bezahlte. Dass er nicht nur (mit-)getrunken, sondern auch gegessen hatte, belegt die Verwendung des Begriffes Zehrung. Unwahrscheinlich ist es, dass damit Wein und Reimser Biskuit gemeint sind, die bei dem Gelage herumgegeben wurden. Daher ist es unglaubwürdig, dass man Fontane vor dem Denkmal verhaftete, ihn anschließend in das Gasthaus abführte, um seine Person und seine Reiseberechtigung zu überprüfen[22], und ihn dann in aller Ruhe trinken und speisen ließ.

Ungeachtet dessen gilt es im Kontext der Verhaftung gleich mit einer zweiten Legende aufzuräumen. In nahezu allen Veröffentlichungen über Fontanes Kriegsgefangenschaft wird behauptet, der Dichter sei von Franctireurs festgenommen worden. Das Buch Kriegsgefangen enthält dazu widersprüchliche Hinweise: Zum einen schreibt Fontane (in einem anderen inhaltlichen Zusammenhang), dass er von einer Franctireurschaft verhaftet wurde.[23] Zum anderen ist bei der konkreten Schilderung seiner Festnahme nur von einer Gruppe von Acht bis zwölf Männern die Rede. Und im Gasthaus, wohin ihn die Männer brachten, wurde ihm kein Franctireur-Anführer gefährlich, sondern der betrunkene Maire [Bürgermeister].[24] Übereinstimmend in beiden Textstellen ist dagegen, dass ihn im Wirtshaus Franctireurs vor den Insulten [Beschimpfungen] des Dorfpöbels gerettet hatten.[25] Wer hat Fontane nun verhaftet: die Dorfbewohner von Domrémy (Dorfpöbel) oder die Franctireurs? Eine Antwort gibt sein handgeschriebener Lebenslauf, den er für den französischen Innenminister in Vorbereitung auf seine Freilassung verfassen musste. Demnach haben ihn keine Franctireurs verhaftet, sondern: Landleute.[26] Fontane hat diesen Aspekt seiner Festnahme später nicht aufgeklärt. Wie so einiges andere auch nicht. Für die Folgen seiner Festnahme und angesichts der Lebensgefahr, in der er nun schwebte, war es allerdings nicht entscheidend.

Für die erzählerische Darstellung der Verhaftung jedoch konstruierte er eine Szene, die einfach zu schön ist, um wahr zu sein. Wie heißt es doch über die letzte Viertelstunde seiner romantischen Reise: alles war Poesie.

Fontanes Kriegsgefangenschaft

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