Читать книгу Fontanes Kriegsgefangenschaft - Robert Rauh - Страница 5

Оглавление

VORWORT

Fontane warf seine Reisetasche in die Ecke, sich selber aufs Sofa, kreuzte die Hände über der Brust, atmete hoch auf und sagte das eine Wort: Frei.[1] Endlich! Nach einer wochenlangen Odyssee durch Frankreichs Gefängnisse – von Lothringen bis zum Atlantik – kehrte der Dichter im Dezember 1870 als freier Mann nach Preußen zurück. Seine Reise, die er als Journalist für die Berichterstattung über den noch andauernden Deutsch-Französischen Krieg begonnen hatte, endete in einem Albtraum: Fontane wurde verhaftet, der Spionage verdächtigt und vor ein Kriegsgericht gestellt. Erst rückblickend realisierte er, was bei diesem Abenteuer auf dem Spiel stand: Hier war das Todtschiessen nah.[2]

Als Fontane bei seinem »romantischen« Ausflug zum Geburtsort der französischen Nationalheiligen Jeanne d’Arc weit hinter der Front verhaftet wurde, ignorierte er zunächst die Gefahr. Aber schon die erste Nacht in einer Zelle voller Ratten ließ ihn daran zweifeln, dass es sich bei seiner Festnahme nur um einen Irrtum handeln könne. Weil sich die lokale Militärbehörde für nicht zuständig hielt, wurde sein Fall durch die Instanzen gereicht und der vermeintliche preußische Spion unter den Attacken einer aufgebrachten und antipreußisch gesinnten Bevölkerung von einem Festungsort zum anderen transportiert. Die schlimmsten Tage erlebte Fontane in der Zitadelle von Besançon, wo er auf die Entscheidung des Kriegsgerichts wartete. Das Gefühl des äußerlichen Unsauberseins, das mit der Vorstellung einer gewissen innerlichen Unreinheit einherging, raubte ihm allen Mut und alle Zuversicht. Bis er schließlich in der Zitadelle auf der Atlantikinsel Oléron landete, wo er einen privilegierten Gefangenenstatus »genoss«.

Zwei Perspektiven

Wie es zu Fontanes Festnahme kam und wie er nur knapp dem Tod entging, wird in diesem Buch erzählt. Die dramatische Geschichte seiner Inhaftierung und seiner Rettung wird erstmals aus zwei Perspektiven rekonstruiert: aus der Sicht des Gefangenen und der seiner Helferinnen und Helfer. Denn kaum hatte die Nachricht über Fontanes Gefangennahme Berlin erreicht, setzten seine Frau Emilie und vor allem seine Freunde alle Hebel in Bewegung, um ihn zu retten. Das aktivierte Netzwerk – umfangreicher als bisher bekannt – reichte über die Landesgrenzen hinweg und war mit dem preußischen Ministerpräsidenten Bismarck und dem französischen Justizminister Crémieux prominent besetzt. Da nur wenig über die Hilfsaktionen an die Öffentlichkeit gelangte und sich zum Teil auch überkreuzten, war sich Fontane auch am Ende seines Lebens nicht sicher, wer ihn eigentlich gerettet hatte. Selbst die Forschung kommt zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen, obwohl die Aufarbeitung dieses spannenden biografischen Kapitels seit rund einhundert Jahren andauert.

Komplexer Fall

Dass der Fall bisher nicht gelöst werden konnte, hat mehrere Ursachen. Einerseits trug Fontane selbst nicht viel zur Aufklärung bei. Sein autobiografisches Buch Kriegsgefangen verleitet, das Erlebte – so der Untertitel – als realistischen Bericht seiner Haftzeit zu lesen. Der Text ist zwar die wichtigste und umfangreichste Quelle, aber vorrangig eine literarische. Fontane hat die Wirklichkeit modifiziert und gerafft, wenn es in sein poetisches Konzept passte. Und hat wohl nie damit gerechnet, dass der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen jemals überprüft würde.

Andererseits wird die Rekonstruktion durch die lückenhafte Quellenlage erschwert. Entscheidende Dokumente wie das Kriegsgerichtsurteil sind nicht überliefert. Daher führten in der Vergangenheit einzelne, durchaus spektakuläre Funde zur Darstellung von nur ausgewählten Aspekten der Kriegsgefangenschaft Fontanes. Aus dem Blick gerieten dabei die Gewichtung und vor allem die Verknüpfung der verschiedenen Handlungsstränge. Stattdessen erheben einige Fontane-Forscher den Anspruch, mit Legenden über den Erfolg einzelner Rettungsbemühungen aufräumen zu wollen; die älteste ist die sogenannte »Crémieux-Legende« (1910) und die jüngste die »Bismarck-Legende« (2018). Problematisch ist darüber hinaus die häufig fehlende Differenzierung zwischen den einzelnen Personenkreisen sowie den drei Etappen der Rettung Fontanes: Freispruch vom Spionage-Vorwurf, privilegierter Gefangenenstatus und Freilassung auf Ehrenwort.

Neue Quellen

Eine umfangreiche Recherche in den Archiven und vor Ort hat es ermöglicht, dass sowohl Fontanes Erlebnisse während der Haftzeit als auch die Initiativen seiner Retter detailliert nachgezeichnet werden konnten. Der Untersuchung liegen nicht nur die bekannten und neu interpretierten Quellen zugrunde, sondern bisher unveröffentlichte bzw. nicht ausgewertete Briefe, Notizbuchaufzeichnungen und amtliche Dokumente. Hierzu gehören beispielsweise zwei Fontane-Schreiben an Emilie, mehrere Brief-Entwürfe, die Fontane auf der Insel Oléron verfasste, sowie Dokumente zur Liberationsordre der französischen Regierung, die im Pariser Militärarchiv lagern. Darüber hinaus wurden die Erinnerungen über die Gefangenschaft eines Sergeanten herangezogen, dem Fontane in der Zitadelle auf Oléron begegnet ist und der sein Buch in Anlehnung an Fontane ebenfalls Kriegsgefangen nannte.

Nicht nur Fontane war sich der Brisanz seines Falls bewusst. Der Kommandant der Festung Oléron soll dem Dichter schon bei der Begrüßung auf der Insel prognostiziert haben, dass Fontane die Gefangenschaft auf Isle d’Oléron segnen werde: Sie werden einen guten Stoff gewinnen und Ihr zukünftiger Biograph einen noch besseren.[3] Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kriegsgefangene schon längst mit der Aufzeichnung seiner Erlebnisse begonnen, die unmittelbar nach seiner Rückkehr zunächst in der Vossischen Zeitung, 1871 dann als Buch publiziert wurden. Im Nachwort wird die Entstehung und zeitgenössische Wirkung von Kriegsgefangen thematisiert, die Fontane eine bis dahin nicht gekannte mediale Aufmerksamkeit bescherte.

Originalschauplätze in Frankreich

Die historischen Schauplätze von Fontanes Kriegsgefangenschaft existieren noch. Sowohl die Zitadelle von Besançon als auch die Festung auf der Insel Oléron sind touristische Anziehungspunkte. Und in Domrémy, wo Fontane am 5. Oktober 1870 verhaftet wurde, kann wie vor 150 Jahren das Geburtshaus der Jeanne d’Arc besichtigt werden. Am Beispiel von Domrémy lässt sich anschaulich beweisen, wie man mithilfe der neu edierten Notizbücher und der erhaltenen Gebäude-Szenerie zu differenzierten Erkenntnissen gelangt. Dass Fontane genauso verhaftet wurde, wie er es in Kriegsgefangen beschreibt und wie es anschließend jahrzehntelang tradiert wurde, gehört auf das weite Feld der Literarisierung.


Gabriele Radecke & Robert Rauh

Ahrenshoop, im Sommer 2020



Theodor Fontane 1870, Fotoatelier Loescher & Petsch Berlin

Fontanes Kriegsgefangenschaft

Подняться наверх