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1. Der Weg zur Verwaltungsgerichtsbarkeit

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Wie weit reicht die Herrschaftsgewalt, der ich als Individuum ausgesetzt bin, und wie wehre ich mich gegen diese Herrschaftsgewalt? Diese grundsätzliche Frage ist in Deutschland und anderswo immer wieder gestellt worden, seit es organisierte Herrschaftsgewalt gibt. Von daher können weit in der Vergangenheit liegende Einrichtungen wie das Reichskammergericht von 1495 oder der Reichshofrat von 1501 in einen Zusammenhang mit der Entwicklung von Rechtsschutz gegen die Verwaltung gebracht werden.[1] Bereits dort konnten Untertanen Rechte gegen ihren Landesherrn einklagen, wurde Verwaltung kontrolliert.[2] Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 1806 gingen auch diese beiden Institutionen unter.[3]

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Mit dem Jahr 1806 verbindet sich die Geburtsstunde der moderneren Verwaltungsgerichtsbarkeit im benachbarten Frankreich[4] in Gestalt der Einrichtung einer Commission du contentieux (Ausschuss für Verwaltungsstreitigkeiten) beim Conseil d’État (Staatsrat).[5] Der Conseil d’État bestand zu diesem Zeitpunkt bereits seit sieben Jahren. Ihm wurde 1799 neben der Vorbereitung von Gesetzgebung auch ausdrücklich die Funktion eines Ratgebers für die Exekutivspitze in Fragen der Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns anvertraut.[6] Die justice retenue, die königliche Prärogative der Rechtsprechung aus dem Ancien Régime, war auf die neue Exekutivspitze übergegangen. Den ordentlichen Gerichten war durch ein Gesetz aus der Revolutionszeit (1790) die Kontrolle der Verwaltung verboten.[7] Aber immerhin herrschte – anders als in Deutschland[8] – schon eine klare Vorstellung davon, dass die Justiz nicht Teil der Exekutive ist.

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Die Suchbewegungen auf der östlichen Seite des Rheins ab 1806 nahmen die französische Entwicklung auf,[9] knüpften aber auch an Bestehendes an. Die nachfolgende Herausbildung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit ist alles andere als linear verlaufen. Sie war vor dem Hintergrund der allgemeinen Veränderungsdynamik im noch nicht geeinten Deutschland des 19. Jahrhunderts geprägt von parallelen Strömungen, Umwegen, Irrwegen und gelegentlich Sackgassen.[10] Im Kern konkurrierten in dieser Zeit zwei gegenläufige Konzepte: Auf der einen Seite stand das spätestens 1849 mit der II. Republik (Abschaffung der justice retenue) konsolidierte französische Modell[11] der Verwaltungsrechtspflege, dem zufolge der beste Kontrolleur der Verwaltung auch in der Republik die Verwaltung selbst war: „Juger l’administration, c’est encore administrer.“[12] Dem stand die Forderung nach einer Kontrolle der Verwaltung durch eine unabhängige Justiz gegenüber, mit einer klaren Trennung von Verwaltung und Kontrolle der Verwaltung.[13]

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Eines der prominentesten Zeugnisse der Ausrichtung auf eine unabhängige Verwaltungskontrolle mit einer klaren Entscheidung zugunsten einer unabhängigen Gerichtsbarkeit findet sich 1849 in Art. X § 182 der Paulskirchenverfassung. Dort heißt es wörtlich: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“[14] Auch wenn die Paulskirchenverfassung niemals in Kraft getreten ist, so kann die Revolution von 1848 doch als einer der entscheidenden Impulse für die Abkehr von der verwaltungsinternen Kontrolle auf dem Weg zu einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit angesehen werden.[15] Zugleich zeigt sich bereits in dieser Frühphase der Entwicklung die Verbindung von Verfassungsdenken und Verwaltungsrechtsschutz, die sich in der Folge über mehr als eineinhalb Jahrhunderte bis heute fortsetzt.

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Eine Rolle spielt in dieser Zeit wohl auch, dass nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung die Forderung nach dem Rechtsstaat ein Ventil für die enttäuschten Hoffnungen auf einen freiheitlichen und demokratischen deutschen Nationalstaat abgab: der Rechtsstaat als Kompensation für den Verlust oder das Defizit an politischer Mitwirkung.[16]

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1863 wurde im Großherzogtum Baden in Karlsruhe der erste Verwaltungsgerichtshof gegründet.[17] Mit der Reichsgründung 1871 verband sich indessen keine Vereinheitlichung der Entwicklung in den verschiedenen deutschen Ländern. Weitere Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe entstanden in der Folge, namentlich 1875 das Preußische Oberverwaltungsgericht (OVG) im mit Abstand größten deutschen Staat Preußen, aber die Eigenkontrolle der Verwaltung existierte daneben fort. In Preußen etwa führte die erste Instanz zu „Kreisausschüssen“, erst die zweite Instanz zur unabhängigen Gerichtsbarkeit (OVG) – das Nebeneinander von verwaltungsinterner Kontrolle und unabhängiger Verwaltungsgerichtsbarkeit fand sich hier also gleichsam in einem System und als Ausdruck eines Kompromisses zwischen zwei unterschiedlichen Konzepten.[18]

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Bei der Entwicklung hin zur weiteren Verbreitung einer selbstständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland spielte das französische Vorbild als solches keine wesentliche Rolle mehr.[19] Dies ist bemerkenswert, weil das materielle französische Verwaltungsrecht, insbesondere das allgemeine Verwaltungsrecht, weiterhin von erheblichem Einfluss blieb, insbesondere durch das Wirken Otto Mayers.[20] Auch festigte der Conseil d’État mit der III. Republik ab 1870 seine Stellung weiter[21] und hätte damit ein naheliegendes Referenzmodell abgegeben.

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Die Leistungsfähigkeit einer unabhängigen Gerichtsbarkeit belegt dabei früh (1882) und bis heute nachwirkend das Preußische OVG mit seinem berühmten Kreuzberg-Urteil.[22] Die darin vorgenommene Begrenzung polizeilicher Befugnisse auf die Gefahrenabwehr ist Ausdruck eines Selbstbewusstseins der neuen Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber der Verwaltung. Zugleich belegte die Beschränkung des Verwaltungsrechtsschutzes durch ein Enumerationsprinzip – Verwaltungsrechtsschutz bestand nur gegen belastende Verwaltungsakte – Augenmaß in der Beschreibung der Rolle der neuen Gerichte gegenüber der Verwaltung.

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Hier kommt ein weiteres in der Folgeentwicklung durchgängiges Motiv zum Ausdruck: Indem die Einordnung als Verwaltungsakt zum maßgeblichen Kriterium für die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs und damit den Zugang zum Richter gemacht wurde, kam es zu einer Verkopplung von materiellem Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz.

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Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 (WRV) traf eine Verfassungsentscheidung für den unabhängigen Rechtsschutz gegen die Verwaltung. In Art. 107 WRV heißt es: „Im Reiche und in den Ländern müssen nach Maßgabe der Gesetze Verwaltungsgerichte zum Schutze der Einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden bestehen.“ In den Folgejahren kam die Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts jedoch nicht voran.

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In der Zeit des Nationalsozialismus ab 1933 mit der Destruktion des verfassungsgebundenen Rechtsstaates hatte eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit an sich keinen Platz.[23] Sie blieb zwar formal zunächst noch bestehen, solange sich radikale und gemäßigtere Kräfte in der NSDAP um deren Fortbestand stritten,[24] wirkte aber entweder im Sinne der neuen Machthaber oder wurde schlicht ausgeschaltet, namentlich im Polizeirecht. Dass Gestapo-Verhaftungen nicht mehr angefochten werden konnten, wurde akzeptiert.[25] Ausgerechnet die Nationalsozialisten riefen 1941 ein Reichsverwaltungsgericht ins Leben,[26] allerdings vorrangig als Maßnahme der Gerichtsorganisation. Das Leitbild einer Kontrolle der Staatsgewalt durch unabhängige Verwaltungsrichter war längst verschwunden.

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Nach 1945 gehörte die Errichtung von Verwaltungsgerichten in den westlichen Besatzungszonen zu den ersten Schritten der Wiedererrichtung einer freiheitlichen Ordnung in Deutschland.[27]

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Mit dem Grundgesetz von 1949 (GG) wurde eine klare Entscheidung für den effektiven Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte auch gegen die Verwaltung getroffen und als Grundrecht in Art. 19 Abs. 4 GG verankert. 1953 nahm das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Berlin[28] seine Arbeit auf.[29] Der Rechtsschutz gegen die Verwaltung unterliegt unter dem Grundgesetz keiner Einschränkung durch ein Enumerationsprinzip mehr.[30] Voraussetzungen für diesen Rechtsschutz bestehen indessen sehr wohl. Ein Jahrzehnt lang waren dafür zunächst Landesgesetze und Richterrecht maßgeblich.

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Erst 1960 erfolgte eine Vereinheitlichung des Rechtsschutzes gegen die Verwaltung durch die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), ein Bundesgesetz auf der Grundlage der Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 74 Nr. 1 GG. Anders als es etwa in den Niederlanden für den dortigen verwaltungsprozessualen Rechtsrahmen[31] der Fall ist,[32] ist in Deutschland über die Rechtsprechung des BVerwG gesichert, dass die VwGO, die den Großteil des maßgeblichen Verwaltungsprozessrechts vorgibt, nicht von unterschiedlichen Akteuren auf Dauer in unterschiedliche Richtungen entwickelt werden kann.

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Eine wichtige Rolle spielte neben der Vereinheitlichung durch die VwGO die Kodifizierung des Verwaltungsverfahrens in Verwaltungsverfahrensgesetzen (VwVfG) ab Mitte der 1970er-Jahre. Neben dem VwVfG des Bundes von 1976 besteht in jedem Bundesland ein VwVfG des jeweiligen Landes.[33] Die Bestimmungen sind indessen im Wesentlichen gleichlautend. Bedeutsam ist diese Entwicklung, weil das Verwaltungsverfahren mit dieser Kodifizierung in weiten Teilen vom internen Recht zum „außenwirksamen Recht“[34] wird, in dem subjektive Verfahrensrechte wie etwa das Recht auf Anhörung oder auf Akteneinsicht gewährleistet werden.

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In der DDR war zwar nach der Verfassung von 1949[35] noch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehen,[36] Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde aber als Relikt der bürgerlichen Rechtsordnung angesehen.[37] Ferner vertrug sich der Gedanke einer unabhängigen Kontrolle der staatlichen Gewalt nicht mit den ideologischen Grundannahmen der Herrschaftsordnung in der DDR. Die Verfassung von 1968 sah daher keine Verwaltungsgerichtsbarkeit mehr vor. Erst nach der Wiedervereinigung 1990 konnten auf dem Gebiet der vormaligen DDR Verwaltungsgerichte neu errichtet werden. Das oberste deutsche Verwaltungsgericht, das BVerwG, hat seinen Sitz nach der Wiedervereinigung nach Leipzig, vormals DDR, verlegt.[38]

§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › I. Genese und Entwicklung des Rechtsschutzes gegen die Verwaltung › 2. Entwicklungslinien

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