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1. Die Orientierung am subjektiven Rechtsschutz
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Rechtsschutz gegen die Verwaltung wird in Deutschland wie soeben dargestellt[57] vor allem als subjektiver Rechtsschutz – und zwar durch Verwaltungsgerichte – verstanden. Elemente eines objektiven Rechtsschutzes sind nur am Rande vorhanden.[58]
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Hier setzt sich Deutschland auch sehr deutlich von anderen Modellen ab. In Frankreich etwa ist das Leitbild die objektive Kontrolle der Verwaltung, bei der die administrative Leistungsfähigkeit im Vordergrund steht; der Einzelne wird nach dieser Konzeption mit seiner Klage gegen die Verwaltung im öffentlichen Interesse tätig.[59] Eine Klage ist nur der „Auslöser“ für die Kontrolle, die die Standards einer guten Verwaltung sichern soll. Dass der Bürger dabei auch sein Recht gewährleistet bekommt, ist wichtig, aber eher eine „zwangsläufige Nebenerscheinung“ der objektiven Rechtskontrolle.[60] Diese französische Konzeption kann als Prototyp für die Systeme objektiven Rechtsschutzes angesehen werden.[61]
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Eine verfassungstextliche Grundlage für das in Deutschland vorherrschende subjektiv-rechtliche Verständnis des Rechtsschutzes gegen die Verwaltung findet sich im Grundgesetz. Wörtlich heißt es in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ Dieser Wortlaut legt die Orientierung am subjektiven Recht nahe, eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle wäre anders formuliert.[62] Die Rechte des Einzelnen sind das zentrale Anliegen. Art. 19 Abs. 4 GG beinhaltet ein Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.[63]
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Die Orientierung am subjektiven Recht setzt sich im Gesetzesrecht zum Verwaltungsprozess fort. Zentrale Norm des Rechts unterhalb der Verfassungsebene ist dabei § 42 Abs. 2 VwGO, der für bestimmte Klagearten die Geltendmachung einer Verletzung in eigenen Rechten fordert. Hierfür hat sich der Begriff der „Klagebefugnis“ etabliert. Der Gedanke wird auch jenseits des Anwendungsbereichs von § 42 VwGO als „Antragsbefugnis“ verwendet. Mit „-befugnis“[64] wird also das Erfordernis einer subjektiven Betroffenheit bereits sprachlich für die Eingeweihten eindeutig kodiert, eine Festlegung, die bei Übersetzungen oder beim fremdsprachigen Austausch über den Verwaltungsrechtsschutz in Deutschland leicht übersehen werden kann.
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Nach § 42 Abs. 2 VwGO setzt die Klagebefugnis die Möglichkeit der Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts voraus. Mithin muss sich der Kläger nach der Schutznormtheorie[65] auf ein Recht berufen können, das nicht nur öffentlichen Interessen, sondern – zumindest auch – Individualinteressen dienen soll. In diesen dem deutschen Verwaltungsprozessrecht zu Grunde liegenden subjektiven Rechtsschutz ist durch Entwicklungen auf der internationalen und europäischen Ebene Bewegung gekommen.[66]
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Bei der Feststellungsklage nach § 43 VwGO wird ebenfalls auf den Einzelnen abgestellt, dort ist „ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung“ Voraussetzung.[67]
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Als Begründung für diese Einschränkungen gilt, dass der Rechtsschutz eben nur die eigenen subjektiven Rechte schützen soll. Der Einzelne soll nicht praktisch als Treuhänder für andere oder abstrakte Gemeinschaftsanliegen auftreten. Zugleich liegt auf der Hand, dass diese Anforderungen an die Zulässigkeit von Klagen oder Anträgen auch Filtereffekte haben.[68] Sie schützen vor der actio popularis, gegen die aus Sicht der gerichtlichen Praxis schlicht die Sorge vor Überlastung spricht. Dies dürfte nicht selten die eigentliche Gegenüberstellung sein: Popularklage oder Individualrechtsschutz. Dazu dürfte die Standardantwort sein, dass die Popularklage nicht der deutschen Rechtsschutztradition entspricht.
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Dabei gibt es auch in Deutschland im Rechtsschutz gegen die Verwaltung durchaus Beispiele für Spuren objektiver Rechtsschutzelemente. So erstreckt sich bei der Normenkontrolle nach § 47 VwGO die Prüfung in der Sache im Zuge der Begründetheitsprüfung auf einen objektiv-rechtlichen Prüfungsmaßstab. Bereits das Konzept einer Normenkontrolle lässt sich als eine Öffnung zu einem objektiven Rechtsschutz interpretieren.[69] Die Länder können allerdings entscheiden, wieweit sie die im Bundesrecht (VwGO) angebotene Rechtsschutzmöglichkeit jenseits des Baurechts – insoweit besteht eine bundesrechtliche Vorgabe – zulassen. Nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO kann der Landesgesetzgeber die Normenkontrolle auf alle Normen unterhalb des Landesgesetzes (Verordnungen und Satzungen) ausdehnen.
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Auch wenn der Schwerpunkt des Rechtsschutzes den Einzelnen und seine Rechtsbeziehungen zur Hoheitsgewalt in den Blick nimmt, so gibt es auf einer prozeduralen Ebene in einigen Ländern mit dem „Vertreter des öffentlichen Interesses“ einen Akteur, der durch seine Beteiligung am Verwaltungsprozess das Verfahren gleichsam objektiviert. Insoweit unterscheidet sich der Vertreter des öffentlichen Interesses vom Generalanwalt beim EuGH, der dem französischen Rapporteur public (früher: Commissaire du gouvernement) beim Conseil d’État nachgebildet ist.[70]
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Das deutsche Verwaltungsprozessrecht sieht einen „Vertreter des öffentlichen Interesses“[71] als Verfahrensbeteiligten vor, § 63 Nr. 4 VwGO. Die Landesregierungen sind gem. § 36 Abs. 1 VwGO ermächtigt, einen solchen Vertreter des öffentlichen Interesses bei den OVGs und Verwaltungsgerichten (VG) zu bestellen. Von dieser Ermächtigung haben zur Zeit Bayern,[72] Thüringen[73] (mit den Landesanwaltschaften) und Rheinland-Pfalz[74] Gebrauch gemacht. In Nordrhein-Westfalen (NRW) gibt es den Vertreter des öffentlichen Interesses seit 2008 auch an dem Oberverwaltungsgericht nicht mehr.
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Daneben gibt es einen Vertreter des Bundesinteresses beim BVerwG, § 35 Abs. 1 VwGO. Dieser ist, anders als die Vertreter des öffentlichen Interesses in den Ländern, zwingend zu bestellen. Er ist als Behörde beim Bundesinnenministerium eingerichtet und hat daher eher die Funktion eines echten Interessenvertreters als die eines qualifizierten Organs der Rechtspflege, wie dies noch bei der Vorgängerinstitution, dem Oberbundesanwalt, der Fall war.[75] Ziel ist es aber nach wie vor, das BVerwG bei der Rechtsfindung zu unterstützen, dies allerdings unter Wahrung der Interessen des Bundes als Teil des öffentlichen Interesses.[76]
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Der Vertreter des öffentlichen Interesses kann sich grundsätzlich an allen anhängigen Verfahren beteiligen.[77] Als Verfahrensbeteiligter i.S.v. § 63 Nr. 4 VwGO hat der Vertreter des öffentlichen Interesses alle Rechte eines Beteiligten, kann also auch Anträge stellen oder nach den allgemeinen Voraussetzungen Rechtsmittel einlegen.[78] Üblicherweise wird sich ein Vertreter des öffentlichen Interesses dann an einem Verfahren beteiligen, wenn darin die Gültigkeit eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung bestritten wird und der Ausgang des Verfahrens von dieser Frage abhängt.[79]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 2. Einordnung im Schema der Gewaltenteilungslehre und Verhältnis zu den politischen Staatsorganen