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c) Verfassungsdimension der Verwaltungsgerichte
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Die Verwaltungsgerichte prüfen das Verwaltungshandeln am Maßstab von Gesetz und Verfassung. Inzident stellt sich dabei auch die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der als Maßstab herangezogenen Gesetze. So wie nach einem berühmten Diktum Fritz Werners Verwaltungsrecht konkretisiertes Verfassungsrecht ist,[104] so lässt sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in vielerlei Hinsicht als konkretisierte Verfassungsgerichtsbarkeit interpretieren. Die materiellen Anknüpfungspunkte sind dabei vor allem die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip.
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Die Grundrechte kommen bereits im Konzept der Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Ausdruck. Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG begründet bereits die Erforderlichkeit einer Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Verwaltung. Wo immer das einfache Gesetzesrecht Lücken aufweist, kann Art. 19 Abs. 4 GG herangezogen werden, um diese zugunsten des Bürgers zu schließen. Gäbe es beispielsweise in der VwGO keine Regelungen zum Eilrechtsschutz, so würde ein solcher sich gleichwohl alleine aus dem Gedanken des effektiven Rechtsschutzes konstruieren lassen.
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Daneben fließen die Grundrechte abhängig vom Rechtsgebiet in vielfältiger Form in die verwaltungsgerichtliche Prüfung des Verwaltungshandelns ein. Im Bereich des Versammlungsrechts steht natürlich das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG im Vordergrund, im Bereich des Baurechts die Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG usf.[105]
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Über das „Auffanggrundrecht“ der allgemeinen Handlungsfreiheit, wie es vom BVerfG der Sache nach in Art. 2 Abs. 1 GG hineingelesen wird,[106] ergibt sich jedenfalls stets ein verfassungsrechtliches Argument, wenn keine spezielleren Gesichtspunkte eingreifen. Damit kann jedes den Einzelnen belastende Verwaltungshandeln als verfassungsrechtliche Frage geprüft werden, selbst wenn es um von der Verfassung nicht gesondert ausgewiesene Aktivitäten geht, wie etwa das Reiten im Walde.[107] Ferner können damit selbst die den Deutschen vorbehaltenen Grundrechte, wie beispielsweise die Berufsfreiheit (Art. 12 GG), von ausländischen Staatsangehörigen geltend gemacht werden, wenn auch nur in dem über Art. 2 Abs. 1 GG gewährten Umfang.[108]
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Zwei zentrale Gehalte des Rechtsstaatsprinzips, wie es insbesondere in Art. 20 Abs. 3 GG verankert ist, prägen daneben die Verwaltungsgerichtsbarkeit: Gesetzesvorbehalt und Übermaßverbot (Verhältnismäßigkeitsprinzip).
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Die Verwaltungsgerichte werden bei belastenden Maßnahmen der Verwaltung stets als erstes die Frage nach der Ermächtigungsgrundlage im Gesetz stellen. Es besteht zwar kein Totalvorbehalt in dem Sinne, dass jegliches Verwaltungshandeln sich auf ein Gesetz stützen lassen müsste. Sobald jedoch in Grundrechte eingegriffen wird, bedarf es einer ihrerseits verfassungskonformen gesetzlichen Grundlage. Der Gesetzes- oder Parlamentsvorbehalt wurzelt im Rechtsstaats- und Demokratieprinzip und lässt sich im Sinne eines hierarchisch verstandenen Gewaltenteilungsgrundsatzes als Überordnung des Parlaments gegenüber der Verwaltung deuten. Da die Verwaltungsgerichte jedoch auch das in Rede stehende Parlamentsgesetz auf seine Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht – insbesondere der Verfassung – überprüfen, enthält der Gesetzesvorbehalt jedenfalls nur zum Teil eine Unterordnung der rechtsprechenden Gewalt unter die rechtsetzende Gewalt. Möglicherweise ist das Verhältnis der Gewalten zueinander ohnehin besser mit „checks and balances“ beschrieben als mit hierarchisch angelegten Über-Unterordnungsvorstellungen. Jedenfalls ist die Frage nach der Ermächtigungsgrundlage im Gesetz in aller Regel die maßgebliche Leitfrage für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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Ferner wird jegliches Verwaltungshandeln im Bereich der Eingriffsverwaltung am Verhältnismäßigkeitsprinzip gemessen. Es geht dabei im Kern um die Frage nach einer Zweck-Mittel-Relation. Das von der Verwaltung eingesetzte Mittel darf nicht außer Verhältnis zum Zweck einer Verwaltungsmaßnahme sein. Die hierzu entwickelte Struktur ermöglicht eine kleinteilige Überprüfung des Verwaltungshandelns, indem nach der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit eines Verwaltungshandelns im Verhältnis zum seinerseits rechtmäßigen Zweck gefragt wird.[109]
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Mit Blick auf die weite Konzeption eines Auffanggrundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG kann das BVerfG jedenfalls im Bereich der Eingriffsverwaltung zur Superrevisionsinstanz mutieren, weil jede unzutreffende Rechtsanwendung durch die Fachgerichte zugleich auch das Grundgesetz verletzt. Durch verschiedene Mechanismen versucht das BVerfG indessen, eine Grenzlinie zwischen der spezifischen Verletzung des Grundgesetzes und der richtigen Interpretation des einfachen Rechts zu ziehen.[110]