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5. Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Deutungsangebote
in der Dogmatik und Theorie
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In Deutschland ist das Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit möglicherweise aus Gründen des föderalen Umfelds heterogener als es zunächst scheint.
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Wo beispielsweise in Bayern durch die Karrierewege eine gewisse Nähe zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit gepflegt wird, ist in anderen Ländern, die einen Wechsel zwischen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit fördern oder gar verlangen, ein eigenes Selbstverständnis der Verwaltungsrichter möglicherweise geringer ausgeprägt. Da, wo Verwaltungsrichter ausschließlich für die Verwaltungsgerichtsbarkeit rekrutiert werden und auch nicht während ihrer Laufbahn in die Verwaltung wechseln müssen, dürfte ein bestimmtes Selbstverständnis am ausgeprägtesten sein. Zugleich ist freilich denkbar, dass sich ein besonderes Selbstverständnis der Gerichtsbarkeit gerade dann besonders ausprägt, wenn man die „andere Seite“ – also insbesondere die Verwaltung, aber auch andere Gerichtsbarkeiten oder allgemein staatliche Tätigkeiten – aus eigener Anschauung kennengelernt hat. Letztlich kommt es hier auf die einzelnen Karrierewege und Richterpersönlichkeiten an.
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Karrierestationen von Verwaltungsrichtern können vor oder nach der Tätigkeit am Verwaltungsgericht beispielsweise sein: Zivilgerichte, Strafgerichte, Staatsanwaltschaft, Sozialgerichte, Ministerialverwaltung, Parlamentsverwaltung, Fraktions- oder Abgeordnetenmitarbeiter, Prüfungsverwaltung in den Justizprüfungsämtern, wissenschaftliche Mitarbeiter am BVerfG oder BVerwG, internationale Organisationen.
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Einen Zusammenhang zwischen Selbstverständnis und dem Wandel des Rechtsschutzsystems hat man in Frankreich beobachtet, wo sich das Richterbild in jüngerer Zeit gewandelt hat. So wird beschrieben, dass das Selbstverständnis der Richter sich wegentwickelt habe vom Selbstbild des hohen Beamten mit Rechtsprechungsfunktion hin zu einem Richter, vor dem Hintergrund einer allgemeineren Rehabilitation der Justiz.[138] Dies wiederum kann erklären helfen, warum sich in Frankreich die vorrangige Orientierung am objektiven Rechtsschutz[139] in Richtung einer Subjektivierung lockert. Einen vergleichbaren Konnex zwischen Selbstbild und Rechtsschutzsystem mag es in Deutschland in den Anfängen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert gegeben haben.
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Festhalten lässt sich jedenfalls, dass in Deutschland heute selbstverständlich ein Selbstverständnis als Richter besteht. Versinnbildlicht wird dies bereits durch den offensichtlichsten aller Aspekte, das äußere Erscheinungsbild: Die Verwaltungsrichter in Deutschland tragen allesamt Richterroben, was in anderen Ländern für Verwaltungsrichter nicht durchgehend die Regel ist.[140]
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Ferner besteht – bei aller Ausdifferenzierung der individuellen und landesspezifischen Karrierewege[141] – mehr oder weniger auch ein gewisses Selbstverständnis und Selbstbewusstsein als Verwaltungsrichter. Hier spielt nicht selten ein spezifisches Interesse am Öffentlichen Recht und an Grundfragen der Kontrolle von Hoheitsgewalt und politischer Macht eine Rolle, das sich nicht selten schon im Studium herausbildet, wenn die Zu- oder Abneigung zu den für alle Jurastudenten vorgeschriebenen Pflichtfächern des Öffentlichen Rechts die Nachwuchsjuristen polarisiert. Mit dem Korpsgeist, der sich beispielsweise in Frankreich aus dem gemeinsamen Besuch einer Eliteschule als Zugangsvoraussetzung für den Eintritt in den Conseil d’État ergibt,[142] ist das Gruppenselbstverständnis deutscher Verwaltungsrichter indessen nicht vergleichbar. Entsprechend besteht auch keine Tradition, in der sichergestellt wird, dass bestimmte Stellen durch Verwaltungsrichter zu besetzen sind, wie es etwa in Frankreich mittlerweile für die Mitarbeiter der französischen Mitglieder des EuGH der Fall ist.[143]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 6. Interaktion von Verwaltungsgerichtsbarkeit und Rechtswissenschaft