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Kapitel II
Rohan und Marcelle

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Dort herumzuschleichen, wo vorher nie ein Mensch seinen Fuß setzte, auf den großen Klippen herumzukriechen, wo eben sogar Ziegen und Schafe nur selten zu sehen sind; die geheimen Plätze auf den Klippen zu kennen wie sie nur Falken, Raben und der schwarze Mäusebussard kennen – ist die Freude und sind Glanzpunkte im Leben eines Mannes – das ist Begeisterung, die er mit den fliegenden, springenden und schleichenden Tieren teilt. Er schwimmt wie ein Fisch, er kriecht wie ein Insekt und seine Freude wäre komplett, könnte er sich aufschwingen wie ein Vogel! Beim Durchwandern oder Radfahren im Umkreis der Felsenspitze und wenn er sich auf seinen Wegen in größter Naturverbundenheit bewegt, ist seine natürliche Freude fast perfekt.

All die Bauern und Fischer von Kromlaix sind auch geübte Bergsteiger, aber keiner besitzt die kühne Erhabenheit seines Wagemuts. Rohan Gwenfern geht wie kein anderer Vogelfänger immer aufrecht, und wenn immer es notwendig ist, würde er auch auf allen Vieren schleichen. Im Laufe seines Lebens hatte er schon schlimme Abstürze, die ihn aber nur zu neuen Heldentaten bewegten. Als er noch ein Kind war begann er zwischen diesen großen Felsen Schafe und Ziegen zu hüten und baute sich eine einsame Höhle mit den Hörnern seiner kleinen Ziegenherde. Schrittweise gewöhnte er sich selbst an die besondere Art der sturmanfälligen manchmal schrecklichen Küste und als er ein Jüngling war, fuhr er schon mit seinen Gefährten zum Fischen auf die hohe See. Er behielt aber seine frühe Leidenschaft für Felsen und Klippen bei. Während andere am Strand herumlungerten oder in Bars tranken und unnütz waren, wanderte Rohan in die große ‚Kathedrale’, die nicht von Hand gebaut ist, oder durchdrang wie ein Gespenst mit einer Fackel in der Hand, die stockdunklen Höhlen, wo die Robben ihre Jungen säugen oder schwamm nackt hinaus zu den Schlafplätzen der Kormorane am Fuße des riesigen nadelähnlichen, aus dem Meer ragenden Felsens ‚Needle of Gurlau’.

Er wandert sogar im tiefsten Winter, wenn die Kormorane für Tage dicht auf den vorstehenden Felsenkanten hungernd zusammensitzen, ängstlich sich zu bewegen, aus Furcht der mächtige Wind könnte sie gegen den Felsen schmettern und verzweifelt auf die See schauen. Wenn Berge von Schaum bis zu ihren Füßen geschüttet werden, wenn die Seebeben im Ozean zunehmen und Felsenspitze auf Felsenspitze gelöst werden, zerbröckeln und wie eine Lawine hinunter in die See stürzen – eben in diesen schlimmen Stürmen, in der schlimmsten Jahreszeit war Rohan unterwegs. Keine der Silbermöwen, entlang des Ufers, war als Besucher beständiger als er. Folglich entstand in ihm Tag für Tag und Jahr für Jahr mehr die schreckliche und dumme Liebe zum Wasser. Manche Kritiker und Stadtbewohner glauben, es wäre speziell und einzig ein Vorrecht der Poeten. Besonders Lord Byron aber auch andere beschreiben sie als ein Attribut des bretonischen Bauern oder eines Betrügers und führen sie auf die Abgründe der Sentimentalität zurück.

Wie ein Straßenmädchen die Straße, oder ein Pflüger die Felder oder wie ein Matrose das Schiff liebt, welches ihn um die Welt segelt, genauso, aber mit unendlich tieferer Leidenschaft liebt Rohan die See. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß er sich einige Meilen im Festland grausam miserabel fühlt und daß er die See so liebt wie er es versteht, ohne sentimentale Gefühle, ohne Gedanken der Romantik, oder einer gezierten Haltung, sondern mit einer lebenswichtigen und natürlichen Liebe, als Teil seines Herzschlages - er ist ein Naturkind.

Schicksalsergebenheit und Aberglaube sind an dieser wilden Küste noch weit verbreitet. Phantastische und furchtbare Legenden werden noch mündlich weitergegeben, manche von ihnen voll tiefem Glauben und rührender Schönheit. Unter ihnen ist eine, die vielleicht mehr als eine lächerliche Legende ist, etwas mehr als eine Kaminträumerei. Sie erzählt von der Meerenge und der Gefahr auf einsamer See während des großen Fischfangs:

Einmal, in einer Sommernacht, fuhr der Fischer Raoul Gwenfern mit seinem kleinen goldgelockten Kind auf die See. Tief in der Nacht bliesen die Trompeten des Zorns und des Todes, Euroclydon erhob sich. Verloren, schreiend und schreckerfüllt trieben sie in der schrecklich aufgebäumten See vor dem Wind und letztlich, als die Hoffnung schon aufgegeben war, kniete die Mannschaft des Loggers in der Dunkelheit zum letzten Mal nieder. Kniete Seite an Seite wie sie es oft in der kleinen Kapelle oben auf den Klippen taten und rief die Heilige Maria um Beistand für ihre Sicherheit an. Und nicht weniger als die Anderen, betete das kleine Kind, das zitternd die Hand seines Vaters hielt. Letztendlich, inmitten der Dunkelheit des Sturms und der tosenden See, dämmerte ein feierlicher Schein, welcher für einen Moment rund um das Schiff das lebhafte Wasser beruhigte. Kein anderer an Bord, nur das eine unschuldige Kind mit seinen sterblichen Augen sah, inmitten dieses übernatürlichen Lichts und auf der Wasseroberfläche – alles glitzerte silbern – ein Bildnis wie in der kleinen Kapelle von ‚Notre Dame de la Garde’ - das Gesicht und die Gestalt der Mutter Gottes! Mag es gewesen sein wie es wolle, der Sturm ließ augenblicklich nach und das Wasser beruhigte sich. Als es dämmerte und die Fischer des Loggers zu sich kamen, vermißten sie einen Mann. Das Kind schrie: „Vater!“ Aber kein Vater antwortete, er ist in der Dunkelheit über Bord gespült worden und es wurden nie wieder Spuren von ihm gesehen. Das Kind erzählte in seinem Wehklagen um den Vater, was es während des Gebetes über dem Wasser gesehen hatte. Entweder war es eine wirkliche Vision oder der Traum eines Kindes oder eine plötzliche Erscheinung aus dem Gedächtnis eines Bildes, das es oft gesehen und zugleich so liebte, wer kann das sagen?

Heimgekehrt rannte es als Halbwaise in die Arme seiner Mutter, denn von diesem Tag an hatte es keinen Vater mehr, sondern nur noch die See.

Seine Mutter, nun eine arme Witwe, zog in eine Steinhütte außerhalb des Dorfes, die unter dem Schutzdach der Aushöhlung einer Klippe stand. Ihr Sohn, das einzige Kind ihrer alten Tage, das Kind ihrer Gebete und Tränen, erlangte durch besondere Fürsprache der Jungfrau St. Elisabeth und ihrer Cousine Bildung, wuchs und wurde schöner und schöner, bis er das Jünglingsalter erreichte und immer umgab ihn eine Helligkeit und die Mutter glaubte insgeheim an diese himmlische Vision.

Nun, Geschichten von Wundern bewegen die Priester. Der Priester (er war auch ein wenig Schädelforscher) kam und sah das Kind, prüfte seinen Kopf und seine Sinne und sah sein schönes Gesicht ohne ersichtliche Freude strahlen. Nicht jeden Tag vollbringt der liebe Gott ein Wunder und diese Gelegenheit war zu schön, um sie vorüber gehen zu lassen. Und so wurde dieser bemerkenswerte Mann ein Helfer auf seinem Weg und ein bedeutender Lehrer. Die Witwe behauptete, dass St. Elisabeth tatsächlich ihre Freundin sei.

Das war es: Rohan sollte im geistigen Glauben ausgebildet und ein Priester Gottes werden. Natürlich wurde der Vorschlag freudig aufgenommen. Rohan musste die einsamen Klippen, wo er die Ziegenherden gehütet hatte, verlassen, ergänzte das armselige Einkommen, welches seine Mutter verdiente, und lebte im Hause des Priesters. Für einige Zeit war der Wechsel gut und Rohan war gelehrig im Lesen und Schreiben und konnte ein wenig Latein übersetzen und erlernte auch paar Worte Griechisch. Er war außerdem ein williges Kind und er würde ohne zu murren an einen der dunkelsten und kältesten Wintermorgen hingehen, um als Helfer bei der Messe zu dienen. Andererseits bewies er ein durchaus eigenständiges Interesse für Müßiggang und Spiel. Als er heranwuchs waren seine Neigungen nicht mehr zu unterdrücken und er wollte ausziehen, in ein Fischerboot steigen und zur See fahren oder fortlaufen und einen ganzen Tag lang in den Felsen herumklettern oder einen Sommerabend an der Küste verbringen, zur Abwechslung nackt baden und im Wasser waten, nach Schrimps und Garnelen suchen. Das alles aber war nicht zu erfüllen. Einmal hatte er sich etwas gebrochen, nachdem er vergebens versucht hatte das Nest eines zornigen Raben auszunehmen. Zwei oder dreimal wäre er fast ertrunken. Dies ist ihm vergeben worden, währte aber nicht lange. Und gegenwärtig ist es offenbar, daß Rohan seinem Meister Fragen stellt, die für den Priester äußerst schwierig zu beantworten sind. Es war noch Revolutionszeit. Obgleich das Königreich eine Großmacht war und obwohl die furchtbaren Ideen der 93er kaum Kromlaix erreichten, war die Atmosphäre voll gefährlichem Denken. Der kleine Gehilfe begann heimlich in einer intensiven Art und Weise dem weltlichen Lesen zu frönen. Die kleinen Augen öffneten sich, die kleine Zunge schwatzte und der Gottespriester entdeckte zu seinem Widerwillen, daß das Kind für ihn zu tüchtig war.

Als für den Jüngling die Zeit gekommen war im natürlichen Gang der Dinge, vom Dorf wieder zum Lernen zurückzukehren, revoltierte Rohan aufs Äußerste. Er hätte seinen Geist geschult, sagte er, und er würde niemals ein Priester werden! Das war ein bitterer Schlag für die Mutter und für eine gewisse Zeit blieb das Herz der Mutter gegen den Jüngling hart. Aber der Priester war, zu ihrem Erstaunen, auf der Seite des Revoltierenden.

„Komm, Mutter“, sagte der Priester, sein großes Haupt neigend und vor Aufregung zitterten seine hohlen Wangen, „nach Allem ist es übel einen Jüngling zu etwas zu zwingen. Das Leben eines Priesters ist hart, Du weißt es am Besten. Die Priesterschaft ist etwas Gutes, aber es gibt bessere Wege dem Lieben Gott zu dienen.“

Rohans Herz freute sich, aber die Witwe rief:

„Bessere Wege! Oh nein, m’ sieu le cure.“

„Aber ja“, beharrte der Geistliche, „Gottes Wille ist allmächtig und besser eben ein guter Seilmacher, als ein schlechter Priester!“

Zuletzt wurde entschieden und der Jüngling kehrte nach Hause zurück. Die Wahrheit aber war, daß der Priester froh war, von seinem Vertrag befreit zu sein. Er sah, dass Rohan nicht aus dem Stoff war, aus dem man einen Heiligen hätte machen können und daß er früher oder später ein Ketzer sein würde oder eine Frau lieben wird. Er würde nicht nachgeben und diese wunderbare Vision würde durch ein Leben der beispielhaften Frömmigkeit vollendet und würde wie Schmuck in der Krone der Kirche sein. Der Priester fand bald einen neuen Helfer und der frühere Unfug und die Enttäuschung über Rohan waren bald vergessen.

Inzwischen kehrt Rohan zu seinen alten Schlupfwinkeln zurück und begeistert befreit er gefangene Vögel. Bald überzeugt er seine Mutter, daß alles zu Besten bestellt ist. Er braucht nicht mehr fort. Er bleibt für immer bei ihr und ersetzt den Platz des Vaters und ist für sie in alten Tagen eine Hilfe.

Er verabscheut von ganzem Herzen zwei Sorten von Leben: Bei dem einen würde er das zu Hause und sie verlieren. Er würde niemals Priester werden, weil er die Lebensweise nicht mag und weil er dann niemals seine kleine Cousine Marcelle heiraten könne. Und bei der anderen wollte er niemals Soldat werden (Gott und alle Heiligen rühmen dies), weil er der einzige Sohn einer Witwe ist.

Es ist das Jahr 1813, die mit Ruß bedeckte Zeit der großen Eroberungen. Nachdem der Kaiser erfolgreich die Gefahr der Invasion gemildert hat, welche alle Franzosen seit seiner unheilvollen Rückkehr aus Moskau erfüllt, bereitet er nun einen großen Coup vor, durch welchen all seine Feinde vernichtet werden sollen. Es zirkuliert ein gefährliches Murren, aber es ist nichts Definitives bekannt. Die Luft ist voller entsetzlicher Stille, welche einem Gewitter oder Erdbeben vorausgeht.

Hier unten in Kromlaix, in der einsamsten und traurigsten Ecke der bretonischen Küste, scheint die Sonne und die See glänzt, als hätte es Moskau nie gegeben, als wenn die gewaltigen Verluste der Franzosen nicht bleichend im russischen Schnee lägen, als hätten die französischen Märtyrer niemals aus tiefsten Herzen nach einem Weg durch die Offenbarung geschrien. Das Kriegsgetöse hat ein weites Echo, aber Rohan schenkt ihm wenig Beachtung.

Glück ist gleichförmig eigennützig und Rohan ist glücklich. Das Leben ist für ihn süß. Es ist eine gesegnete Sache zu atmen, zu sein, frei zu sein, sein Gesicht der Sonne zuzuwenden, die Klippen und Höhlen zu kennen, die passierenden Segler zu beobachten, oder den blauen Rauch, der aus den Schornsteinen des kleinen Dorfes steigt, zu sehen. Dem beleibten Pfarrer, ‚fetter als seine Pfarre’, zu hören oder den unbekannten Geschichten der Kriegslager und der Schlachtfelder, die von dem alten Bonapartisten ‚Schwarzpulver’, seinem Onkel, erzählt werden, zu lauschen. Alain oder Jannick wilde Melodien auf dem bretonischen Dudelsack spielen hören, die Nester der Möwen und Seetiere auszunehmen, mit seinen Freunden in stiller Nacht auszufahren, um die leuchtenden Schwärme der Heringe zu fangen, und das Beste von allem: Mit Marcelle entlang der Wiesen oder der Küste spazieren zu gehen, ihre Hand zu halten, vor der Statue der Jungfrau Maria in ihre Augen zu sehen und, noch vergnüglicher, ihre vollendeten Lippen zu küssen! Welches Leben konnte besser sein? Welches Leben konnte, alles in allem, süßer sein als dieses?

Und Marcelle?

Kind der Schwester von Rohans Mutter und einzige Nichte des wunderlichen alten Korporals mit dem sie mit ihren vier älteren Brüdern lebt, jeder so stark wie Anak(1a).

Sie sind seit der Kindheit zusammen und Rohan eroberte ihr Herz durch seinen unbekümmerten Mut. Sie sind daran gewöhnt sich zu treffen, in all der Unschuld ihrer Natur. Während ihre großen Brüder nicht über ihre Gesellschaft besorgt sind, besuchen sie oft die kleine Kneipe, das ‚Cabaret’ oder gehen ans Ufer. Rohan entdeckte das Mädchen und ist höflicher zu ihr als jeder ihrer Brüder, obgleich sie Blutsverwandte sind. Er liebt ihre dunklen Augen und ihr hochgestecktes schwarzes Haar, ihre höfliche Art und ihre zarte Bewunderung für ihn. Sie war für Jahre seine Spielgefährtin, nun ist sie, wie kann man das nennen, seine Begleiterin, bald vielleicht ist eine treffenderer Ausdruck möglich. Aber die Heirat solch enger Verwandtschaft ist in der Bretagne fraglich, denn ein besonderes Einverständnis des Bischofs ist dazu nötig. Und trotzdem haben sie niemals eine Silbe über ihrer Liebe gewechselt. Zweifellos verstehen sie einander, die Jugend ist elektrisiert und Leidenschaft hat viele Töne ohne Worte und es liegt in der Natur eines Mannes und eines Mädchens, beide sind wunderschön und sehen einander nicht ohne Freude. Ihren noch unklaren Gefühlen in der Gesellschaft des Anderen, haben sie keine Namen gegeben. Sie erfreuen sich aneinander wie sie sich an der lieblichen, frischen Luft erfreuen und an der scheinenden Sonne und an der glücklichen blauen Wölbung über und an der glitzernden See unter ihnen. Sie trinken den Atem des Anderen und sind froh. So ist Mutter Erde froh, wenn, wo auch immer, Liebende so unbewußt sich regen und glücklich bebend sich in den Armen halten. Es charakterisiert sie erneut, als Rohan sich von der Klippe erhebt und an der Seite des Mädchens steht und lachend auf ihre Zurechtweisungen hört. Wie soll er antworten? Er nimmt ihr Gesicht zwischen seine beiden Hände und küsst sie auf jede Wange. Sie lacht und errötet leicht, die Röte wird stärker, als er sie auf die Lippen küßt. Dann wendet er sich zu dem Granitblock, wo er seine Mütze und die Holzschuhe abgelegt hatte und beginnt sie anzuziehen. Der Sonnenschein schwindet im dem Ozean. Die Vision El Dorados(1), welche für eine Stunde am fernen Seehorizont brannte, wird bald verschwinden. Die goldene Stadt mit ihren goldenen Strahlen, die gefährlichen Berge dahinter, mit ihren rotgefärbten Schnee, die einbrechende Dunkelheit mit den Wolkenspitzen, die weich bekrönt durch einen hellen grünen Abendstern sind, lösen sich langsam auf und ein kalter Wind kommt nun von diesen verfallenden Sonnenscheingestaden. Die blutroten Riffe, der nasse Strand, die leuchtenden Wasserstellen entlang der Einbuchtungen unterhalb der Felsen, brennen mit immer dunkler werdenden Farben. Die Krähen sind längst zu den dunklen Felsen im Festland geflogen. Die Seevögel setzen sich unter viel Geschrei zwischen die Klippen auf ihre Nester, die Nachteule flattert in die dunklen Schatten der Felsen und der Fischlogger dort drüben driftet auf einer dunklen und glasigen See.

Rohan schaut hinunter. Der Logger gleitet mit der schnellen Ebbeströmung und er kann deutlich die Männer auf ihrem Deck sehen, barhäuptig und mit gefalteten Händen zum Gebet und mit erhobenen dem großen Felsen zugewandten Gesichtern, auf dem er selbst steht. Nicht weit hinter ihm auf dem Gipfel der Klippe steht die kleine Kapelle ‚Unserer Jungfrau der Sicherheit’ – der geliebte Leuchtturm des ‚homeward-bound’, die letzten Lichter von zu Hause, die die Fischer sehen, wenn sie gen Westen fortsegeln und der Tag und Nacht allen Matrosen hilft. All diese Bilder nimmt Rohan im flüchtigen Betrachten auf, und nun, seinen Bergsteigerhaken mit der einen Hand greifend und das Seil um den Arm aufgerollt, geht er, von Marcelle gefolgt, den Gipfel der Klippe entlang. Ein Trampelpfad führt durch den kurzen Rasen bis zur Tür der kleinen Kapelle, diesem Pfad folgen sie. Sie halten an, als eine große weiße Ziege aus den Klippen heranklettert und sie höchst merkwürdig anschaut. Die Besichtigung ist offenbar zufriedenstellend, denn sie wendet sich ihnen langsam mit Zeichen des Wiedererkennens zu.

„Sieh“, ruft das Mädchen, „es ist Jannedik!“

Jannedik antwortet mit langsamem Näherkommen und reibt ihren Kopf gegen ihr Kleid, dann geht sie zu Rohan und stößt ihr Kinn in seine ausgestreckte Hand.

„Was tust Du denn hier, so weit von zu Hause, Jannedik?“ fragt er lächelnd und überrascht, „Du bist ein Landstreicher und wirst Dir eines Tages das Genick brechen. Es ist Schlafenszeit, Jannedik!“

Jannedik ist eine Lady unter den Ziegen und gehört Rohans Mutter. Es macht ihr Vergnügen in dem Kliff zu klettern wie Rohan selbst und sie kennt die Stellen der saftigsten Kräuter und die geheimsten Ecken der Höhlen. Da ist ein wenig Nachdenken in ihren großen braunen Augen und sie hört auf das Zeichen der Flöte wie ein Hund und sie leidet es, wenn die Kinder des Dorfes auf ihrem Rücken reiten. Sie ist alles in allem mehr unterrichtet, als die meisten ihrer Rasse, die es im Überfluß in den Klippen gibt. Als Rohan und Marcelle weiter zur Kapelle wandern folgt ihnen Jannedik, hin und wieder pausiert sie, um am Wegrand zu fressen. Als sie ankommen, zögert Jannedik, trampelt für einige Momente auf der Stelle und trottet dann allein heimwärts. Sie hat zwar viel von einem Christen, aber die Kirche ist für sie nicht attraktiv.

Die kleine Kapelle steht Tag und Nacht offen. Sie wurde von Matrosenhänden für Seeleute erbaut. Mit viel Arbeit wurde vom Dorf unten das Baumaterial hergebracht. Sie ist sehr klein und sie befindet sich auf dem höchsten Kliff wie ein weißer Vogel, standhaft bei jedem Wetter. Sie ist menschenleer und als sich Rohan und Marcelle zum Altar wenden, scheinen die letzten Strahlen des Sonnenscheins durch die bunten Scheiben, beleuchten durch das Geländer festlich den Altar. Ein einfach gemaltes Bild von Schiffbrüchigen Seemännern auf einem Floß mit den wachsamen Augen der Heiligen Jungfrau, die in den Wolken erscheint. Dicht beim Altar steht eine Gipsfigur der Mutter Gottes, angezogen mit glitzernden Satin, der Sockel ist mit Blumen bestreut und um ihre Füße hängen Kränze von farbigen Rosenkränzen und Girlanden aus Seide und Satinblumen, kleine einfache Bilder der Jungfrau, Medaillen in Zinn und Messing, Rosen aus Wolle und weiteren Rosenkränzen. Marcelle bekreuzigt sich und fällt sanft auf ihre Knie. Rohan bleibt stehen, die Mütze in der Hand, die Bilder der Jungfrau betrachtend, die hinter dem Geländer auf dem Altar stehen. In der kleinen Kapelle wird es nun dämmrig, die grob gehauenen Balken und die sturmgverwitterten Wände zeichnen sich dunkel ab und die letzten Sonnenstrahlen fallen auf Marcelles geneigten Kopf und auf die kraftvollen Gesichtszüge Rohans. Vertrauen, das sehr wertvoll ist, wohnt hier und der Hauch eines leidenschaftlichen Friedens und der Liebe.

Friede sei mit ihnen und in der Welt heute Nacht – Frieden in ihren Herzen, Liebe in der Brust, Frieden und Liebe in den Herzen der ganzen Menschheit!

Aber ach! Das Morgen wird den Schatten des Schwertes bringen!


Marcelle

Der Schatten des Schwertes

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