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Kapitel V
Meister Arfoll

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Während Marcelle ihre letzten Worte spricht, treten Sie dicht an den Menhir heran, stehen in seinem Schatten. Als sie ihre Rede beendet hat, legt Rohan ruhig eine Hand auf ihren Arm und zeigt mit der anderen hinüber. Nicht weit von dem Menhir und dicht am Rand des Felsens steht eine Gestalt, die sehr dunkel gegen die weißen Teile des Himmels abhebt. Es scheint ein riesengroßer Mensch zu sein, für einen Moment könnte man ihn als einen dieser wilden, versteinerten Geister, von welchen Rohan gesprochen hatte, die ins Leben zurückgekehrt ist, halten. Sich auf eine Stock stützend, mit hängenden Schultern und schneeweißem Haar, das bis über seine Schultern fällt, dünne, abgemagerte Glieder, die Arme an der Seite hängend, steht er bewegungslos da, wie ein Schatten aus Stein. Seine Kleidung besteht aus einem weiten Hut und legerem Jackett und Beinkleidern eines bretonischen Bauern. Seine Strümpfe sind schwarz, anstatt Holzschuhe trägt er altmodische Lederschuhe, die mit Lederriemchen zugeschnürt sind und deren langer Gebrauch die Schuhe abgenutzt hatte. Seine extreme Armut ist auf den ersten Blick wahrnehmbar. Seine Kleider sind schäbig, aber noch nicht ganz hoffnunglos, sie sind voller behutsamer Flicken und gestopft und auch seine Strümpfe zeigen Zeichen von ständigen Ausbesserungen.

„Sieh“, sagt Rohan flüsternd, „es ist Meister Arfoll selbst.“

Das Mädchen dreht sich um, noch voller Entrüstung, die sie übermannte, aber Rohan nimmt ihren Arm und zieht sie behutsam vorwärts unter lieben, geflüsterten Worten. Sie läßt es zu, aber ihr Gesichtsausdruck trägt noch einen festen abergläubischen Widerwillen.

Der Klang der Schritte schreckt den Mann auf und er sieht sich um. Wenn seine Gestalt auf den ersten Blick ein Gespenst war, so ist sein Gesicht noch gespenstischer. Es ist länglich und faltig mit einer hochgebogenen Nase und dünne festgeschlossene Lippen, ganz blutlos wie die Wangen. Die Augen sind schwarz und groß und hatten schon viele Schicksalsschläge gesehen, sie haben einen nachdenklichen Ausdruck und ein wildes, veränderliches Licht. Ein furchtbares Gesicht wie eben dem Tod entrissen. Doch als die großen Augen Rohan erblicken, lächelt er und das Lächeln ist eine Glückseligkeit. Sein Gesicht strahlt und man kann sagen, ein schönes Gesicht wie eins, das auf Engel blickt. Aber nur für einen Augenblick, dann erstirbt das Lächeln und die alte erschöpfte Blässe kehrt zurück.

„Rohan!“ ruft er mit einer klaren melodischen Stimme, „und meine charmante Marcelle!“

Rohan nimmt seine Mütze ab, als wäre er ein Vorgesetzter, während Marcelle noch ihren entschlossenen Ausdruck beibehält, errötet sie schuldbewußt und macht keine Anstalten zu grüßen. Da ist etwas, was sie an dem Mann fürchtet wie sie alles Andere fürchtet. Sie mag ihn nicht, wenn er nicht da ist, aber in seiner Gegenwart beherrscht sie ein Zauber. Unglücklich denkt er an das Gute in der Welt, ist manchmal unbeliebt, aber es sind viele seiner Meinung. Meister Arfoll besitzt die innere Stimme und die faszinierende Kraft, die auch Goethe bei Bonaparte wahrnahm, um anerkannt zu sein, entweder das Gute gestalten oder das Gottlose, ist die besondere Gabe von mächtigen Menschen. Mehr von Meister Arfoll wird besprochen, wenn den ungewöhnlichen Ereignissen auf welchen diese Geschichte basiert ihren Fortgang nimmt.

Mittlerweile ist es notwendig zu erklären, daß er ein Wanderschulmeister ist und lehrend von Gehöft zu Gehöft, von Feld zu Feld zieht. Aus seinem Munde erfuhr Rohan manch geheimes Wissen. Sie saßen dann in der Sommerzeit auf einer Wiese oder in einer ruhigen Höhle am weißen Rand zur See oder auf manch bemoosten Stein auf der Spitze der hohen Klippen. Meister Arfoll ist ein Träumer und er hatte dem Jungen gelehrt zu träumen.

Man sagt, sein Gesicht ist so blaß, weil er furchtbare Dinge gesehen haben soll, als die Siegel der Apokalypse in Paris gebrochen wurden. Niemals betrat er eine Kirche, betet nur in der Natur, er erlangte die perfekte Freiheit des religiösen Glaubens, außerdem unterrichtete er kleine Kinder die Bibel zu lesen. Er ist der Freund von Vielen, ein Seelsorger, für viele ein Soldat, aber Feierlichkeiten und Kämpfe sind ihm ein Greuel. Kurz gesagt, er ist ein Aussteiger. Sein Bett ist die Erde, seine Wurzeln der Himmel, aber die Heiligkeit der Natur ist in ihm, er schleicht von einem Platz zum anderen wie ein Geist, weihend und heilig.

Vor einigen Monaten ist er überraschend hierher zurückgekehrt.

„Sie sind ein großer Fremder, Meister Arfoll“, sagt Rohan, nachdem sie sich die Hand gegeben hatten.

„Ich war diesmal weit weg gewesen, so weit wie Brest“, war die Antwort, „ach und meine Reise war trostlos, ich habe in jedem Dorf Rachel um ihre Kinder weinen sehen. Dort gab es große Veränderungen, mein Sohn, und es werden noch mehr Veränderungen kommen. Nun bin ich zurück wie Du siehst und ich finde den großen Stein unverändert. Nichts ist von Dauer, nur der Tod, nur der ist ewig.“

Während er spricht zeigt er auf den Menhir.

„Gibt es von dort schlechte Nachrichten, Meister Arfoll?“ erkundigt sich Rohan eifrig.

„Wie können sie gut sein? Ach, aber ihr seid Kinder und versteht es nicht. Sag mir, warum sollen diese kalten, lieblosen Dinge fortdauern?“, und wieder zeigt er auf den Menhir, „wenn Menschen und Städte, Wälder, Berge und Flüsse, die wahren Götter sind und die großen Könige und die Ihren auf ihren Thronen, weit weg sterben und kein Zeichen hinterlassen, kein Zeichen, daß sie gewesen waren? Vor tausenden und abertausenden von Jahren war Blut an diesem Stein, Menschen wurden dort geopfert, Rohan, es ist die gleiche Geschichte heute – Menschen sterben noch den Märtyrertod.“

Er spricht in einem tiefen und traurigen Ton, als spräche er mit sich selbst. Sie bemerken, daß er ein Buch in seiner Hand hält, die alte Bibel in bretonischer Sprache, aus welcher er gewohnt ist zu lehren. Zwischen den Seiten steckt ein Finger, als hätte er bis eben gelesen. Er geht langsam weiter, Rohan und Marcelle dicht an seiner Seite, bis er die Grenze des ebenen Plateaus erreicht. Von hier aus kann man unten die Seegrenze deutlich im Sonnenschein sehen und Kromlaix mit seinen Häusern und Schiffen. Das Sonnenlicht fällt auf die hellen Giebel, die Wände sind blau und weiß getüncht. Auf den Dächern sind hölzerne Wrackteile wie Schindeln oder Ziegelsteine oder es sind Strohdächer, die mit Granitsteinen beschwert sind, um gegen Windschaden zu bestehen. Die Häuser ducken sich bis hinunter zur äußersten Grenze der See. Verstreut zwischen ihnen sind wüste Hütten, die aus alten Fischerbooten errichtet und mit Stroh gedeckt sind und einige von ihnen werden als Lager für Segel, Netze, Ruder und anderen Bootsausrüstungen genutzt, einige als Kuhstall und viele sind von den ärmeren Familien bewohnt und geben ihren blauen Rauch mit Gekräusel durch eiserne Schornsteine ab. Unterhalb der Häuser und Hütten schwimmen am Ufer die Schiffe der Fischerflotte. Eine lange Reihe von Booten und Schiffen, die wie Kormorane mit ihrem schwarzen Gefieder seewärts zeigen. Es ist ein Dorf, das sich am äußersten Rand des ungezähmten Ozeans befindet. Die See umgibt es und sie befindet sich auch unter ihm, in unsichtbare Höhlen sickert das Wasser und kriecht meilenweit ins Binnenland und rieselt letztendlich in die grünen brakigen Tümpel, füllt die öden Bergseen von Ker Leon, ein einzelnes Dorf, viele Meilen entfernt. Kromlaix ist ein Dorf, das im Sturm entstanden ist, täglich durch den Tod erschüttert und immer mit traurigen Augen seewärts blickend, heftig nach den ankommenden Segelschiffen verlangend. Meilen auf Meilen zieht sich auf jeder Seite die große Ozeanwand der Steilküste hin, sie wird gewaschen und nutzt ab, großartige Formen entstehen, Gewölbe, Dome und Spitzen, das Wetter schlägt dagegen, sturmgeschüttelt, ausgehöhlt, zerfressen, zerrissen, zerklüftet, verwundet durch Wirbelwind und Erdbeben. Oben, die in einem mächtigen Teppich saftigen Grüns noch fest und stark stehenden Menhire und Dolmen(5), Klippenabgründe und Felsspitzen der Monolithen und in dunkle luftige Höhlen über der immer rastlosen See aufgetürmt, so hoch, daß für denjenigen, der über die grasbewachsene Ebene der Klippen läuft, die Seemöwen dicht über seinem Weg schweben und die Seetangsammler unten am Strand, die durch die große Entfernung zwergenhaft klein wie krabbelnde Mäuse aussehen. Für Viele ist es eine sich meilenweit erstreckende große Wand und die Wanderer durchqueren seine schwindelerregenden Pässe, hören unter ihren Füßen das Rasen und Brüllen des Wassers und den Flügelschlag des Windes und das Kreischen der Vögel aus der schaumspritzenden Bucht. Aber hier trennt sich plötzlich die Wand wie durch ein Erdbeben, das eine mächtige Schlucht hinterließ. Und in diese Schlucht, die sich im Innern zu einem grasbewachsenen Tal ausdehnt, genährt durch einen dunklen Fluß, duckt sich das Dorf, im Sommer wie im Winter, unverändert seit Generationen mit seinem immer auf die ewige See gerichteten Blick.


The Needle of Gurlau

Ein Dorf, immer verdammt und immer gerettet. Der Fluß, wenn er den Bergsee von Ker Leon erreicht, verschwindet in der Erde und vermischt sich mit dem unterirdisch dahinkriechenden Ozean und die Häuser werden durch die Wellen wahrhaft erschüttert, trotzdem ist das Wasser nicht zu genießen, denn es ist Brackwasser(6). Das Dorf erzittert und schreit wie ein lebendiges Ding, wenn sich die Schleusen des Himmels öffnen und die große See mit mächtiger Flut droht. An diesem Tag aber, als Meister Arfoll nach unten schaut, ist alles in Heiterkeit und Frieden. In und auf den Booten spielen Kinder, während die Männer zu zweit oder zu dritt am Ufer schlendern, im Sand liegen oder in der Sonne sitzen und ihre Netze ausbessern. Der Rauch aus den Schornsteinen zieht geradewegs in den Himmel, es ist Windstille. Alles ist ganz bewegungslos. Man kann das Dorf fast wie ein Lebewesen in totaler Ruhe atmen hören. Höher über dem Tal, auf einer Anhöhe am Abhang, steht, umgeben von einem Friedhof, die kleine Kirche aus rotem Granit und ihrem ziegelgedeckten Dach, dem roten Turm, der mit dunkelgrünem Moos bewachsen ist und vom Seewind einen weißen Reif aus Salz trägt. Das Sonnenlicht strahlt entlang der Bergschlucht, so daß sie gerade von der Höhe her eine große Gruppe von Prozessierenden in der Nähe des steinernen Jesuskopfes sehen können. Dort ist die Quelle des Heiligen Wassers, das aus einem Grabstein sprudelt und entlang der Wand des Leichenschauhauses, wo die Grabkammern sind und in jeder eine kleine Taubenschachtel vernagelt ist, ist wie ein gräßliches ‚memento mori’.

„Könnten die Steine dort drüben sprechen“, sagt Meister Arfoll nach dort schauend, „was für Geschichten könnten sie erzählen! Ich werde Euch Einiges aus der Erinnerung erzählen! Lange Zeit vor uns erstreckten sich hier mächtige Wälder und ein tiefer Fluß strömte dort drüben durch die Schlucht und eine große Stadt stand am Ufer des Flusses voller Menschen, die einen fremden Gott anbeteten.“

„Ich habe davon gehört, der Priester sprach davon“, sagt Rohan, „und es wird erzählt, wenn man am Weihnachtsabend genau lauscht, kann man die Glocken läuten hören und die toten Menschen strömen tief unten im Untergrund auf die Straßen. Die alte Mutter Brieux, die letztes Weihnachten starb, sagte vor ihrem Tod, daß sie das alles selbst gehört hat.“

Meister Arfoll lächelt traurig.

„Das ist die Geschichte einer alten Frau, ein Aberglaube – der Tod schläft.“

Marcelle fühlt sich verpflichtet etwas einzuwerfen:

„Sie glauben es nicht“, sagt sie, „ach, Meister Arfoll, Sie glauben aber auch gar nichts, aber Mutter Brieux war eine gute Frau und sie würde nie gelogen haben.“

„All das ist Aberglaube und Aberglaube ist Teufelswerk“, entgegenet Meister Arfoll schnell, „in der Religion, in der Politik, in allen Angelegenheiten des Lebens, mein Kind, ist Aberglaube ein Fluch. Er macht Menschen Angst vor dem frommen Tod und den Geistern der Dunkelheit und es macht sie zu gottlosen Herrschern und bringt sie zu grausamen Taten, weil sie in ihm ein boshaftes Schicksal sehen. Es ist der Aberglaube, der schlechte Könige in ihren Thron hält und die Erde mit Blut bedeckt und die Herzen aller brechen, die lieben. Aberglaube, wie ihr seht, kann einen sündhaften Menschen zu einem Gott machen und alle Menschen beten ihn an und sterben für ihn, als ob er ein Gott wäre.“

„Das ist wahr“, sagt Rohan, mit einem bangen Blick auf Marcelle. Als ob sie das Thema wechseln möchte, fragt sie dann:

„Ist es sicher oder nicht, daß eine große Stadt einst hier stand?“

„Wir wissen es durch viele Anzeichen“, antwortet der Schulmeister, „manches braucht man nicht tief auszugraben, um es ans Tageslicht zu bringen. Oh ja, die Stadt war hier, mit seinen Häusern aus Marmor und Tempel von Gold und seinen großen Bädern und Theater und seinen Statuen ihrer Götter. Sie muß herrlich ausgesehen haben, wenn sie im Sonnenlicht glänzte, wie jetzt Kromlaix. Der Fluß war ein wirklicher Fluß und weiße Villen standen an seinem Ufer und dort waren Blumen an jedem Weg und Früchte an jedem Baum. Eben zu dieser Zeit stand unser Stein schon hier und sah dies alles. Die Stadt wurde wie viele andere unserer Städte mit menschlichem Blut erbaut und ihre Einwohner waren ein Teil der Schlächter der Erde und ein Schwert war an der Seite eines jeden Mannes und Blut klebte an ihren Händen. Gott war gegen sie und ihr steinerner Götze konnte sie nicht segnen. Sie waren eine Rotte Wölfe, diese Römer! Sie waren die Kinder von Kain! Was hat Gott letztlich getan? Er wischte sie wie Unkraut vom Gesicht der Erde weg!“

Das Gesicht des Sprechers sieht furchtbar aus, er scheint eine Prophezeiung zu liefern und nicht ein Ereignis zu beschreiben.

„ER hob seinen Finger und die See stieg an und verschlang diese Stadt und bedeckte sie mit Felsen und Sand. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind waren in einem Grab beigesetzt und dort schlafen sie.“

„Bis zum Jüngsten Gericht!“ sagt Marcelle feierlich.

„Sie sind schon verurteilt“, antwortet Meister Arfoll, „ihr Urteil wurde schon gesprochen und sie schlafen, es ist nur Aberglaube, daß sie in ihren Gräbern aufwachen.“

Marcelle scheint etwas sagen zu wollen, aber das große Wort ‚Aberglaube’ überwältigt sie. Sie hatte nur einen unklaren Begriff seiner Bedeutung, aber es klingt überzeugend. Es ist Meister Arfolls Lieblingswort und es ist offenbar, daß er es in einer verwirrenden Weise durch viele Ideen und Begebenheiten zu erklären versucht. Rohan sagt nichts. In Wahrheit ist er sichtlich erstaunt, über den sehr ernsten Ton in der Rede Meister Arfolls. Er selbst kennt gut des Wanderschulmeisters gebildete und lustige Seite und er hat ihn selten so traurig gesehen und so freudlos reden hören wie heute. Ihm ist es innerlich klar, daß aufgrund irgendwelcher bedeutender Blicke, Meister Arfoll sich keine Sorgen macht, sich vollends in Gegenwart von Marcelle zu erklären. Inzwischen haben sie begonnen den Hang, der zum Dorf führt, hinabzusteigen. Marcelle, etwas grimmig, ein paar Schritte hinterdrein, aber Rohan bleibt an der Seite des Meisters, ganz bemüht die Ursache seiner außergewöhnlichen Melancholie zu entdecken. Während des Gehens fällt der Blick des Meisters Arfoll auf Rohans Buch, welches er noch in seiner Hand hält.

„Was ist das, was Du liest?“ fragt er. Rohan gibt ihm das Buch. Es ist eine einfach gedruckte Übersetzung des Tacitus in Französisch mit dem original lateinischen Text auf der gegenüberliegenden Seite. Es ist während der Revolution und an einem geheimen Ort gedruckt worden, als Paris vor dem Sturm zitterte.

Meister Arfoll schaut in den Inhalt, dann gibt er es dem Eigner zurück. Er selbst hatte Rohan gelehrt, den Geist der Bücher zu sehen, wie dieses, aber heute ist er verbittert.

„Und was liest Du dort?“, ruft er aus, „was, außer Blut und Kampf und das Stöhnen der Menschen unter dem Gewicht des Thrones? Ach Gott, ist das furchtbar! Auch eben hier, bei welchen Mann ruft Gottes eigenes Buch etwas hervor?“, und er hält die Bibel hoch, „es ist der gleiche rote Faden, derselbe wahnsinnige Schrei der gequälten Menschen. Ja, Gottes Buch ist blutig, wie Gottes Erde.“

Marcelle schauderts. Solche Äußerungen sind Gotteslästerung.

„Meister Arfoll“, beginnt sie, aber seine großen lebendigen Augen scheinen ins Leere gebannt und er scheint wie in Trance zu sein, er hört sie nicht.

„Für immer und immer, wie war es am Anfang, das hungrige wilde Tier tötet und tötet, diese Verrückten, begierig nach Krieg und Ruhm. Wer weiß, ob der große Stein dort drüben nicht den Geist irgendeines Mörders früherer Zeiten festhält, irgendein Kain des Kaisers wurde zum Felsen, aber in dem Bewußtsein, noch zu sehen was Ehre ist, zu beobachten wie Königreiche welken und Könige Menschen vergeuden und töten, um wie Blätter zu fallen. Gut, das ist Aberglaube, aber ich habe meinen Willen, ich würde jedem Tyrannen dienen, ich würde ihn versteinern – ich würde ihn als Zeichen hinsetzen! Er sollte sehen, er sollte sehen! Und dann würde nie wieder Krieg sein, dann würde es keine Kains mehr geben und die Menschen in den Wahnsinn treiben!“

Marcelle versteht nur halb, aber irgendeins seiner Worte regt ihr Herz auf. Sie wendet sich nicht an Meister Arfoll, sondern mit ärgerlich aufblitzenden Augen wendet sie sich an Rohan:

„Es sind nur Feiglinge, die Angst haben zu kämpfen. Onkel Ewen war ein mutiger Soldat und vergoß sein Blut für Frankreich: Träger der Medaille des großen Kaisers! Das Land ist ein großes Land und es ist der Krieg gegen das Gottlose, das es groß gemacht hat. Es sind die schlechten Menschen, die sich gegen den Kaiser erhoben haben, denn er ist gut und groß. Das macht den Krieg und der Kaiser ist nicht zu tadeln.“

Meister Arfoll hört jedes Wort und lächelt betrübt zu sich selbst. Er kennt des Mädchens Verehrung für den Kaiser und wie man sie dazu brachte, ihn gleich hinter Gott zu setzen. Ohne ihr Idol anzugreifen, sagt er sanft und mit einem liebevollen Lächeln, welches seine unsägliche Niedergeschlagenheit überspielt:

„Das ist, was Onkel Ewen sagt? Gut, Onkel Ewen ist ein tapferer Mann. Aber Du, kleine Marcelle, weißt Du was Krieg ist? Dann sieh!“ Er zeigt ins Binnenland und das Mädchen folgt der Richtung seiner Hand. Weit entfernt, hoch aufragend und einzeln stehend in der windigen Baumhecke des Tales ist ein anderer verödeter Kalvarienberg(7), so zerbrochen und so unkenntlich, dass nur ein mit ihm vertrautes Auge erklären kann, was es ist. Ein Arm und ein Teil des Körpers sind noch heil, aber der Kopf und die anderen Glieder sind verloren und was geblieben ist, versteinert, nahezu schwarz durch Regen und verschmutzt durch die Vegetation. Darunter wildes Unterholz und hohes kletterndes Unkraut – Lolch(11) und Nesseln haben sich hier angesiedelt und zu seiner Zeit blüht der Fingerhut. Obwohl zerbrochen und ruiniert wie die Figur ist, es dominiert das Panorama und zeigt eine völlig verwüstete Landschaft rundherum. Das ist Krieg!“ sagt Meister Arfoll feierlich, „unsere Straßen sind genauso bestreut mit steinernen Köpfen der Engel und die marmornen Glieder der Figuren. Das Evangelium der Liebe ist verloren. Die Gestalten der Liebe ausgelöscht. Die Welt ist ein Kampfplatz, Frankreich ist ein Leichenhaus und – gut, Du hast recht, mein Kind – der Kaiser ist ein Gott!“

Marcelle antwortet nicht, ihr Herz ist voller Entrüstung, aber sie fühlt, daß sie gegen ihn verliert. Sie denkt bei sich: ‚Das ist Verrat, wenn der Kaiser ihn so reden hörte, würde er ihn töten.’ Dann schaut sie zur Seite, in das verhärmte wilde Gesicht und in die großen kummervollen Augen und ihr Zorn schlägt in Mitleid um.

„Was Sie sagen ist richtig“, räumt sie ein, „es ist nicht sein Fehler – er ist dumm erwachsen geworden, mit viel Kummer, sein einsames Leben hat ihn nahezu verrückt gemacht. Armer Meister Arfoll!“

Nun haben sie den Rand des Dorfes erreicht. Ihr Weg ist ein Fußweg, der sich mal hierhin, mal dorthin wendet, bis er dicht unter der Mauer der alten Kirche ankommt. Mit einem stillen Pressen von Rohans Hand und einen flüchtigen Blick zu Meister Arfoll läuft Marcelle davon. Der Wanderschulmeister läuft weiter, ohne ihre Abwesenheit zu bemerken. Sein Herz ist zu voll, seine Gedanken zu beschäftigt und sein Blick ist auf den Boden gerichtet. Rohan unterbricht abrupt seine Träumerei.

„Meister Arfoll – sagen Sie mir – Marcelle ist nicht mehr hier, was ist geschehen? Etwas Furchtbares, ich sorge mich!“

Meister Arfoll blickt erschöpft auf.

„Sei nicht ungeduldig schlechte Nachrichten zu hören, sie werden schnell genug kommen, mein Sohn. Ein Gewitter braut sich zusammen, das ist alles.“

„Ein Gewitter?“

„Dies: Ein Erdbeben und Zerstörung. Der russische Winter ist noch nicht Grab genug, wir wollen das Wasser des Rheins haben“, und setzt ernst hinzu, „wir sind am Vorabend einer neuen Zwangsaushebung.“

Rohan zittert, er weiß was das bedeutet.

„In dieser Zeit werden nur die Familienväter verschont. Bereite Dich selbst vor, Rohan! Diesmal werden eben nur Söhne ihre Chance bekommen!“

Rohans Herz klopft rasend, sein Blut stockt ihm. Ein neues namenloses Grauen nimmt Besitz von ihm. Er schaut auf und sieht das zerbrochene Kruzifix wie ein Zeichen von Schmerz und Elend. Während sie reden wird das Kirchentor geöffnet und vom Friedhof schreitet ‚monsieur le cure’ vorwärts mit seinem zugeschlagenem Brevier(8) unter dem Arm und seiner kurze Pfeife, die schwarz wie Ebenholz ist und die er zwischen seinen Lippen hält.

Der Schatten des Schwertes

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