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Unsere Meinungen sind uninformiert

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Noch nie bin ich einer weißen Person begegnet, die keine Meinung zum Rassismus gehabt hätte. Es ist kaum möglich, in den Vereinigten Staaten – oder in einer anderen Kultur mit einer westlichen Kolonialgeschichte – aufzuwachsen oder dort längere Zeit zu verbringen, ohne eine Meinung zum Rassismus zu entwickeln. Und Weiße haben tendenziell dezidierte Meinungen dazu. Aber Rassenbeziehungen sind ungemein komplex. Wir müssen bereit sein, in Betracht zu ziehen, dass unsere Meinungen zwangsläufig uninformiert und sogar ignorant sind, wenn wir uns nicht bewusst und fortwährend damit auseinandergesetzt haben. Aber wie kann ich behaupten, die Meinungen weißer Menschen, die ich gar nicht kenne, seien höchstwahrscheinlich ignorant? Das kann ich unterstellen, weil nichts in der Mainstream-Kultur uns die Informationen liefert, die für ein nuanciertes Verständnis der wohl komplexesten und beständigsten gesellschaftlichen Dynamik der letzten Jahrhunderte notwendig ist.

So kann ich in den USA als qualifiziert für die Leitung einer kleineren oder größeren Organisation gelten, selbst wenn ich nicht über das geringste Verständnis für die Sichtweisen oder Erfahrungen von Menschen of Color verfüge, so gut wie keine Beziehungen zu ihnen habe und praktisch keinerlei Fähigkeiten besitze, mich kritisch mit dem Thema »Rasse« auseinanderzusetzen. Ich kann ein Hochschulstudium absolvieren, ohne je über Rassismus zu diskutieren. Ich kann Jura studieren, ohne je über Rassismus zu sprechen. Ich kann Lehrerin werden, ohne mir je Gedanken über Rassismus zu machen. Wenn ich ein als progressiv geltendes Studienfach wähle, muss ich vielleicht ein Pflichtseminar zur »Diversität« belegen. Eine Handvoll von Lehrkräften haben vermutlich jahrelang darum gekämpft, dass dieses Seminar eingerichtet wurde, wahrscheinlich gegen den Widerstand der meisten weißen Kollegen. In diesem Diversitätsseminar lesen wir vielleicht Texte »ethnischer« Autoren und erfahren etwas über Helden und Heldinnen verschiedener Gruppen of Color, allerdings ist keineswegs garantiert, dass wir auch über Rassismus diskutieren.

Wenn wir tatsächlich offen und ehrlich über »Rasse« zu sprechen versuchen, tritt sehr bald die Empfindlichkeit Weißer zutage, denn wir stoßen auf Schweigen, Abwehr, Grundsatzerklärungen, Beschwichtigungen und andere Formen von Widerstand. Das sind keine natürlichen Reaktionen, vielmehr sind hier gesellschaftliche Kräfte am Werk, die uns am Erwerb der Kenntnisse hindern, die erforderlich sind, damit wir uns produktiver mit dem Thema »Rasse« auseinandersetzen, und sie erfüllen höchst effektiv die Funktion, die Rassenhierarchie aufrechtzuerhalten. Zu diesen Kräften gehören die Ideologie des Individualismus und der Meritokratie, die nicht repräsentativen Darstellungen von Menschen of Color in den Medien, die faktische Trennung der »Rassen« in Schulen und Wohnvierteln, die Darstellung des Weißseins als Ideal, eine tendenziöse Geschichtsschreibung, Witze, Tabus und Verbote, offen über »Rasse« zu sprechen, sowie die Solidarität unter Weißen.

Die Kräfte des Rassismus zu durchbrechen, ist eine fortwährende, lebenslange Aufgabe, da die Verhältnisse, die uns in einem rassistischen Rahmen konditionieren, ständig fortwirken. Unser Lernprozess wird nie enden. Aber unsere vereinfachende Definition von Rassismus – als bewusste Akte der Rassendiskriminierung, begangen von Einzelpersonen, die jenseits der moralischen Wertegemeinschaft stehen – vermittelt uns das sichere Gefühl, wir seien nicht Teil des Problems und unser Lernprozess sei daher abgeschlossen. Die Behauptungen, die wir als Belege anführen, sind nicht plausibel. Jeder hat wohl schon mal Sätze gehört wie: »Man hat mir beigebracht, alle Menschen gleich zu behandeln«, oder: »Man muss den Leuten nur beibringen, sich gegenseitig zu respektieren, und das fängt zu Hause an.« Solche Äußerungen beenden für gewöhnlich die Diskussionen und die Lernprozesse, die bei einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema entstehen könnten. Zudem sind sie für die meisten Menschen of Color wenig überzeugend und erklären lediglich ihre Erfahrungen für null und nichtig. Viele Weiße begreifen den Sozialisationsprozess einfach nicht, und das ist das nächste Problem.

Wir müssen über Rassismus sprechen

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