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Rassismus

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Um Rassismus zu verstehen, müssen wir ihn zunächst von bloßen Vorurteilen und Diskriminierung abgrenzen. Vorurteile enthalten vorgefasste Urteile über eine andere Person aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen. Vorurteile bestehen aus Gedanken und Gefühlen wie Stereotypen, Einstellungen und Verallgemeinerungen, die auf nur wenigen oder gar keinen Erfahrungen basieren und dann auf alle Angehörigen dieser Gruppe projiziert werden. Tendenziell teilen wir die gleichen Vorurteile, weil wir uns im selben kulturellen Umfeld bewegen und die gleichen Botschaften aufnehmen.

Alle Menschen haben Vorurteile, das lässt sich gar nicht vermeiden. Wenn ich weiß, dass eine soziale Gruppe existiert, habe ich von der Gesellschaft um mich her Informationen über sie bekommen. Diese Informationen helfen mir, diese Gruppe aus meinem kulturellen Rahmen heraus einzuordnen. Menschen, die behaupten, sie hätten keine Vorurteile, demonstrieren damit einen grundlegenden Mangel an Selbsterkenntnis. Ironischerweise belegen sie zudem die Macht der Sozialisation: Wir alle haben durch Schule, Spielfilme, Familie, Lehrer und Geistliche gelernt, dass es wichtig ist, keine Vorurteile zu haben. Leider führt die vorherrschende Überzeugung, dass Vorurteile schlecht sind, dazu, dass wir ihre unvermeidliche Realität leugnen.

Vorurteile sind für ein Verständnis der Empfindlichkeit Weißer grundlegend, weil die Behauptung, wir hätten Rassenvorurteile, als Vorwurf aufgefasst wird: Jemand sagt uns, wir seien schlecht und sollten uns schämen. Daher halten wir es für nötig, uns zu verteidigen, statt uns mit den von uns übernommenen unvermeidlichen Rassenvorurteilen auseinanderzusetzen, um sie vielleicht zu ändern. Somit schützt unsere Fehleinschätzung, was Vorurteile sind, eben diese Vorurteile.

Diskriminierung ist ein auf Vorurteilen basierendes Handeln. Dazu gehört es, andere zu ignorieren, auszuschließen, zu bedrohen, lächerlich zu machen, zu verleumden und Gewalt gegen sie auszuüben. Wenn wir aufgrund unserer Vorurteile beispielsweise Hass empfinden, können daraus extreme Diskriminierungsakte wie Gewalttaten erwachsen. Solche Diskriminierungsformen sind in der Regel eindeutig und klar erkennbar. Wenn unsere Gefühle aber subtiler sind und sich etwa in einem leichten Unbehagen äußern, wird auch die Diskriminierung subtiler ausfallen und ist manchmal kaum zu erkennen. Die meisten von uns können zugeben, dass wir in Gegenwart bestimmter Gruppen ein gewisses Unbehagen empfinden und sei es auch nur eine leichte Befangenheit. Aber ein solches Gefühl kommt nicht von allein. Vielmehr entsteht es, wenn wir von einer Gruppe von Menschen getrennt leben, gleichzeitig aber unvollständige oder falsche Informationen über sie aufnehmen. Wenn Vorurteile mich veranlassen, mich Menschen gegenüber anders zu verhalten – weniger offen oder jede Interaktion vermeidend –, diskriminiere ich sie. Vorurteile äußern sich immer im Handeln, weil meine Weltsicht mein Tun prägt. Alle Menschen haben Vorurteile und alle diskriminieren. Angesichts dieser Realität ist der Ausdruck »umgekehrte Diskriminierung« unsinnig.

Wenn die kollektiven Vorurteile einer Bevölkerungsgruppe, die sich durch ihre »Rasse« definiert, die Unterstützung der Staatsmacht und der institutionellen Kontrolle haben, verwandeln sie sich in Rassismus, in ein weitreichendes System, das unabhängig von den Intentionen oder dem Selbstbild einzelner Akteure funktioniert. J. Kēhaulani Kauanui, Professorin für Amerikastudien und Anthropologie an der Wesleyan University, erklärt: »Rassismus ist eine Struktur, kein Ereignis.«[15] Der Kampf amerikanischer Frauen um das Wahlrecht illustriert, wie institutionelle Macht Vorurteile und Diskriminierung in unterdrückerische Strukturen übersetzt. Alle Menschen haben Vorurteile und diskriminieren, aber Unterdrückungsstrukturen reichen weit über das Individuum hinaus. Frauen konnten zwar Vorurteile gegen Männer haben und sie in einzelnen Interaktionen diskriminieren, aber als Gruppe konnten sie ihnen nicht ihre Bürgerrechte vorenthalten. Dagegen konnten Männer als Gruppe Frauen durchaus ihre Bürgerrechte vorenthalten und taten dies auch. Dazu waren sie imstande, weil sie sämtliche Institutionen kontrollierten. Die einzige Möglichkeit für Frauen, das Wahlrecht zu erlangen, war daher, dass Männer es ihnen zugestanden. Sie konnten es sich nicht selbst nehmen.

Ebenso kommt es zu Rassismus – wie auch zu Sexismus und anderen Formen der Unterdrückung –, wenn die Vorurteile einer »rassischen« Gruppe durch die staatliche und institutionelle Macht gestützt werden. Dadurch verwandeln sich individuelle Vorurteile in ein weitreichendes System, das nicht mehr von den guten Absichten einzelner Akteure abhängig ist. Vielmehr werden sie zum gesellschaftlichen Standard und reproduzieren sich automatisch. Rassismus ist ein System.

Nur am Rande sei auf die Überschneidung von »Rasse« und Gender am Beispiel des Frauenwahlrechts hingewiesen: Weiße Männer räumten Frauen das Wahlrecht ein, vollumfänglichen Zugang erhielten allerdings nur weiße Frauen, Frauen of Color blieb er bis zur Verabschiedung des Voting Rights Act 1965 versagt.

Das System des Rassismus beginnt mit Ideologie, also mit Leitbildern, die durchgängig in der Gesellschaft bestärkt werden. Von Geburt an werden wir konditioniert, diese Leitbilder zu akzeptieren und nicht infrage zu stellen. Das geschieht durch Schulen und Lehrbücher, politische Reden, Spielfilme, Werbung, Feiertage, Worte und Redewendungen. Soziale Sanktionen, mit denen diejenigen bestraft werden, die Leitbilder infrage stellen, bestärken ebenfalls die herrschende Ideologie. Ideologien geben den Rahmen vor, in dem wir lernen, das soziale Dasein zu betrachten, zu interpretieren, zu verstehen und mit Sinn zu erfüllen.[16] Da diese Leitbilder ständig bekräftigt werden, lässt es sich kaum vermeiden, dass wir sie verinnerlichen und glauben. Beispiele für in den Vereinigten Staaten herrschende Ideologien sind Individualismus, Kapitalismus, Konsumismus und Meritokratie (wer hart arbeitet, hat auch Erfolg).

Die in den Vereinigten Staaten herrschende Ideologie sieht in der Hierarchie der »Rassen« eine natürliche Ordnung, die entweder genetisch bedingt oder das Resultat von individueller Anstrengung und Talent ist. Diejenigen, die keinen Erfolg haben, sind von Natur aus nicht begabt oder waren nicht fleißig genug oder haben es aus irgendeinem anderen Grund einfach nicht verdient. Ideologien, die verschleiern, dass Rassismus ein gesellschaftliches System der Ungleichheit ist, sind erschreckend stabil, denn sobald wir unsere Stellung in der Rassenhierarchie erst einmal akzeptieren, erscheint sie uns völlig natürlich und schwer infrage zu stellen, auch wenn wir dadurch benachteiligt werden. Auf diese Weise ist nur sehr wenig äußerer Druck erforderlich, um Menschen an ihrem Platz zu halten, denn sobald sie die Rationalisierungen der Ungleichheit verinnerlicht haben, erhalten beide Seiten die Beziehung aufrecht.

Rassismus ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Es geht nicht um einzelne Taten oder Personen. Rassismus wechselt auch nicht die Richtung und nützt einmal Weißen und ein anderes Mal Menschen of Color. Die Richtung der Machtausübung zwischen Weißen und Menschen of Color ist das Produkt der Geschichte, die über Generationen tradiert und ideologisch gerechtfertigt wurde. Rassismus unterscheidet sich von individuellen Rassenvorurteilen und Diskriminierung durch die historische Akkumulation und den fortwährenden Einsatz institutioneller Macht, um Vorurteile zu bestärken und diskriminierendes Verhalten mit weitreichenden Auswirkungen systematisch durchzusetzen.

Menschen of Color mögen ebenfalls Vorurteile gegen Weiße haben und sie diskriminieren, aber ihnen fehlt die gesellschaftliche und institutionelle Macht, diese Einstellungen in Rassismus zu übersetzen. Die Auswirkungen ihrer Vorurteile sind für Weiße temporär und kontextabhängig. Dagegen haben Weiße die gesellschaftlichen und institutionellen Positionen inne, die es ihnen erlauben, ihre Rassenvorurteile auf eine Weise in Gesetze, Politik und Praktiken einfließen zu lassen, wie es Menschen of Color nicht möglich ist. Eine Person of Color mag sich weigern, mich in einem Laden zu bedienen, sie kann jedoch keine Gesetze durchbringen, die mir und meinesgleichen den Kauf eines Hauses in einem bestimmten Viertel verbieten.

Auch Menschen of Color können Vorurteile gegen ihresgleichen und andere Gruppen of Color haben und sie diskriminieren, aber diese Voreingenommenheit stärkt letztlich ihre Unterdrückung und somit das System des Rassismus, das Weißen nützt. Rassismus ist eine gesamtgesellschaftliche Dynamik, die sich auf Gruppenebene vollzieht. Wenn ich sage, nur Weiße können rassistisch sein, meine ich, dass in den Vereinigten Staaten nur Weiße die kollektive gesellschaftliche und institutionelle Macht und die Vorrechte gegenüber Menschen of Color besitzen. Umgekehrt verfügen Menschen of Color nicht über solche Macht und Vorrechte gegenüber weißen Menschen.

Viele Weiße glauben, Rassismus gehöre der Vergangenheit an. Aber auch weiterhin existiert die Ungleichheit zwischen Weißen und Menschen of Color in allen Institutionen der Gesellschaft und nimmt in vielen Fällen nicht ab, sondern zu. Aufgrund der praktisch getrennten Lebensräume der verschiedenen »Rassen« ist sie für Weiße oft nicht erkennbar und daher einfach zu leugnen, aber sie ist von zahlreichen staatlichen und nicht staatlichen Stellen ausführlich dokumentiert, unter anderem durch das US Census Bureau, die Vereinten Nationen, Forschungsprojekte wie das UCLA Civil Rights Project und das Metropolis Project sowie durch gemeinnützige Organisationen wie die National Association for the Advancement of Colored People und die Anti-Defamation League.[17]

Die Philosophin Marilyn Frye verwendet zur Beschreibung der ineinandergreifenden Unterdrückungsmechanismen das Bild eines Vogelkäfigs.[18] Wenn man dicht vor einem Vogelkäfig steht und das Gesicht an die Stäbe presst, nimmt man sie gar nicht mehr wahr, sondern hat einen nahezu ungehinderten Blick auf den Vogel. Betrachtet man einen der Stäbe aus der Nähe, kann man die anderen nicht mehr sehen. Basiert das Verständnis des Käfigs auf diesem Blickwinkel, so begreift man vielleicht gar nicht, warum der Vogel nicht einfach diesen einen Stab umfliegt. Man könnte wirklich denken, es gefällt ihm dort, wo er ist.

Tritt man aber einen Schritt zurück und erweitert sein Blickfeld, so sieht man, dass es viele solcher Stäbe gibt und sie zusammen das Gitter ergeben, das den Vogel an seinem Platz hält. Die Vogelkäfigmetapher hilft uns zu verstehen, warum Rassismus zuweilen so schwer zu erkennen ist: Wir haben nur einen eingeschränkten Blick. Es kommt auf unsere Position an, wie viel wir von dem Käfig sehen können. Wenn wir das nicht berücksichtigen, sind wir in unserem Verständnis auf einzelne Situationen, Ausnahmen und anekdotische Belege angewiesen und erkennen das größere Muster nicht. Doch diese Muster sind mittlerweile gut dokumentiert: Menschen of Color werden von Barrieren eingeschränkt und von sozialen Kräften geprägt, die weder zufällig noch vereinzelt noch vermeidbar sind.

Einzelne Weiße mögen zwar »gegen« Rassismus sein, profitieren aber dennoch von einem System, das Weiße als Gruppe privilegiert. David T. Wellman charakterisiert Rassismus kurz und bündig als »ein System auf ›Rasse‹ basierender Vorteile«.[19] Man bezeichnet dies auch als »weiße Privilegien« (white privilege). Gemeint sind die Vorteile, die Weiße für selbstverständlich halten, die Menschen of Color aber im selben Kontext (Staat, Gemeinde, Arbeitsplatz, Schulen usw.) nicht haben.[20] Eines muss allerdings klar gesagt werden: Die Feststellung, dass Rassismus die Privilegien der Weißen sichert, heißt keineswegs, dass einzelne Weiße nicht zu kämpfen hätten oder nicht auf Hindernisse stoßen würden. Es bedeutet lediglich, dass wir nicht mit den besonderen Hürden des Rassismus konfrontiert sind.

Wie bei Vorurteilen und Diskriminierung können wir auch bei der Erörterung des Rassismus einen »umgekehrten Rassismus« ausschließen. Definitionsgemäß ist Rassismus ein tief verwurzeltes, historisch gewachsenes System institutioneller Macht. Es ist nicht fließend und ändert seine Richtung nicht, nur weil einigen wenigen Menschen of Color eine glänzende Karriere gelingt.

Wir müssen über Rassismus sprechen

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