Читать книгу Wir müssen über Rassismus sprechen - Robin J. DiAngelo - Страница 6

Vorbemerkung zur amerikanischen Ausgabe Identitätspolitik

Оглавление

Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden gegründet in der erklärten Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind. Dennoch begann die Nation mit dem versuchten Genozid an indigenen Völkern und mit dem Diebstahl ihres Landes. Der amerikanische Wohlstand baute auf der Arbeit verschleppter, versklavter Afrikaner und ihrer Nachkommen auf. Frauen wurde das Wahlrecht bis 1920 versagt, schwarzen Frauen sogar bis 1965. Der Begriff »Identitätspolitik« richtet den Blick auf die Barrieren, auf die bestimmte Gruppen in ihrem Kampf um Gleichheit stoßen. Wir sind vom Ideal der Gleichheit noch weit entfernt, aber alle Fortschritte, die wir bislang erzielt haben, sind durch Identitätspolitik zustande gekommen.

Die Identitäten der Menschen, die in den Vereinigten Staaten an den Tischen der Macht sitzen, sind erstaunlich gleich geblieben: weiß, männlich, zur Mittel- oder Oberschicht gehörig, ohne körperliche Beeinträchtigungen. Auch wenn man die Anerkennung dieses Umstands als »politische Korrektheit« abtun mag, ist er doch eine Tatsache. Die an diesen Tischen getroffenen Entscheidungen haben Auswirkungen auf das Leben von Menschen, die nicht dort sitzen. Ihr Ausschluss durch diejenigen, die am Tisch sitzen, ist nicht von einem Vorsatz abhängig: Wir müssen einen Ausschluss gar nicht beabsichtigen, damit die Ergebnisse unseres Handelns ausschließend wirken. Es ist zwar immer eine implizite Voreingenommenheit im Spiel, da alle Menschen voreingenommen sind, aber Ungleichheit kann auch schlicht aus Homogenität erwachsen. Wenn ich mir der Barrieren, auf die andere Menschen stoßen, nicht bewusst bin, werde ich sie nicht wahrnehmen und erst recht nicht motiviert sein, sie zu beseitigen. Und wenn diese Barrieren einen Vorteil darstellen, auf den ich Anspruch zu haben meine, bin ich ebenfalls nicht motiviert, sie zu beseitigen.

Alle Fortschritte, die wir in den USA im Bereich der Bürgerrechte gemacht haben, wurden durch Identitätspolitik erreicht: Frauenwahlrecht, die rechtliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, die Gleichstellung von Männern und Frauen in staatlichen Bildungsprogrammen (§ 9), die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen auf Bundesebene. Bei den Präsidentschaftswahlen 2016 war die weiße Arbeiterklasse ein wichtiges Thema. All das sind Ausdrucksformen der Identitätspolitik.

Nehmen wir das Frauenwahlrecht. Wenn Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, versteht es sich von selbst, dass sie es sich nicht einräumen können. Und sie können bei Wahlen eindeutig nicht für ihr Wahlrecht stimmen. Wenn Männer sämtliche Mechanismen kontrollieren, die Frauen vom Wahlrecht ausschließen, sowie alle Mechanismen, die diesen Ausschluss aufheben könnten, müssen Frauen von Männern Gerechtigkeit fordern. Über das Wahlrecht von Frauen und die Notwendigkeit, dass Männer es ihnen zugestehen, lässt sich nicht diskutieren, ohne Frauen und Männer zu benennen. Die Gruppen, die auf Barrieren stoßen, nicht zu benennen, dient nur denjenigen, die bereits Zugang zu den jeweiligen Rechten haben, denn das unterstellt, der Zugang, den die herrschende Gruppe besitze, sei universell. Wenn man uns lehrt, Frauen hätten 1920 das Wahlrecht erhalten, ignorieren wir, dass damals weiße Frauen uneingeschränktes Wahlrecht erhielten und weiße Männer es ihnen zugestanden. Erst in den sechziger Jahren bekamen alle Frauen – ungeachtet ihrer »Rasse« – durch den Voting Rights Act in den Vereinigten Staaten ein uneingeschränktes Wahlrecht. Klar zu benennen, wer Zugang zu Privilegien hat und wer nicht, bestimmt die Ausrichtung unserer Bestrebungen, gegen Ungerechtigkeit vorzugehen.

Dieses Buch ist unmissverständlich in Identitätspolitik verwurzelt. Ich bin weiß, befasse mich mit einer unter Weißen verbreiteten Dynamik und richte mich hauptsächlich an ein weißes Publikum. Wenn ich »wir« sage, meine ich das weiße Kollektiv. Dieser Sprachgebrauch mag weiße Leser und Leserinnen irritieren, weil von uns so selten verlangt wird, in Rassenkategorien über uns oder andere Weiße nachzudenken. Aber statt angesichts dieses Unbehagens den Rückzug anzutreten, können wir uns darin üben, unsere Belastbarkeit für die kritische Analyse weißer Identität zu stärken – das ist ein notwendiges Gegengift gegen weiße Fragilität. Allerdings wirft das ein weiteres in der Identitätspolitik verwurzeltes Problem auf: Indem ich mich als Weiße an ein überwiegend weißes Publikum wende, stelle ich wieder einmal weiße Menschen und die Stimme der Weißen in den Mittelpunkt. Ich habe keinen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden, denn als Insider kann ich die Erfahrung Weißer so ansprechen, dass sie vielleicht schwieriger zu leugnen ist. Obwohl ich also die weiße Stimme ins Zentrum rücke, nutze ich meinen Insider-Status auch, um gegen Rassismus vorzugehen. Dies nicht zu tun, würde bedeuten, den Rassismus aufrechtzuerhalten, und das ist inakzeptabel. Es ist ein Sowohl-als-auch, mit dem ich leben muss. Überhaupt geht es nicht darum, dass meine Sichtweise schon die ganze Wahrheit enthielte. Sie ist nur eine Sichtweise von vielen, die alle berücksichtigt werden müssen, um das Problem zu lösen.

Auch Menschen, die sich nicht als weiß einstufen, finden dieses Buch vielleicht hilfreich, um zu verstehen, warum es häufig so schwierig ist, mit weißen Menschen über Rassismus zu sprechen. Menschen of Color können gar nicht umhin, das Bewusstsein Weißer bis zu einem gewissen Grad zu verstehen, wenn sie in dieser Gesellschaft Erfolg haben wollen, aber nichts in der dominanten Kultur bestätigt ihr Verständnis oder erkennt ihre Frustrationen an, wenn sie mit weißen Menschen in Interaktion treten. Ich hoffe, diese Untersuchung würdigt ihre Erfahrungen und liefert einige nützliche Einblicke.

Dieses Buch befasst sich mit den Vereinigten Staaten und dem allgemeinen Kontext im Westen (USA, Kanada und Europa). Auf Nuancen und Abweichungen in anderen soziopolitischen Umfeldern geht es nicht ein. Allerdings sind diese Muster auch bei weißen Menschen in anderen weißen Siedlergesellschaften wie Australien, Neuseeland und Südafrika zu beobachten.

Wir müssen über Rassismus sprechen

Подняться наверх