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Was ist Schwaben – in Bayern? Erste Annäherungen

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Wer von Norden die bayerische Grenze überschreitet und auf den Regierungsbezirk ‚Schwaben‘ stößt, ist einigermaßen befremdet: Schwaben in Bayern? Wie geht das zusammen? Tatsächlich findet sich heute der einzige Gebietsname ‚Schwaben‘ nicht in dem Raum, den man ansonsten mit Schwaben identifizieren würde: mit Württemberg – nur die ‚Schwäbische Alb‘ als mittelgebirgiger Querriegel oder ‚Oberschwaben‘ als Raum zwischen Donau und Bodensee weisen dieses Grundwort auf. Der Name für den bayerischen Verwaltungsbezirk zwischen Iller und Lech, Ries und Allgäu geht auf König Ludwig I. zurück, der 1837 die – nach französischem Vorbild – nach Flüssen benannten Sprengel der Mittelbehörden umbenennen ließ, um für die Bewohner die Identifikation mit den historischen ‚Stämmen‘, die nun das neue Bayern bildeten, zu ermöglichen. Er wollte Identitäten schaffen, damit alle unter der Wittelsbacher Krone ihren Platz finden und sich auf diese Weise mit der Annexion zu Beginn des 19. Jahrhunderts versöhnen konnten.

Dennoch, die Erinnerungskultur ist bis heute hartnäckig geblieben: Sie hatte vielfältige Ansatzpunkte, die über diese Grenzen hinauswiesen, und man bemühte sie immer wieder, um aus dem Korsett der bayerischen Staatlichkeit wenn nicht real, so doch wenigstens im Kopf zu entfliehen. So gesehen, ist das heutige Schwaben ein Konstrukt und keine geografische Größe – aber das war es genau besehen schon immer, sooft es in der Geschichte für eine Raumkonzeption stand, ohne dass die Vorstellungen davon, was ‚Schwaben‘ bedeutet, deshalb übereinstimmen mussten. Mit dem ‚Stamm‘ der Alemannen verband sich der Gedanke eines ‚ursprünglichen‘ Siedlungsgebietes, das von den Vogesen bis an den Lech, von der Nordschweiz bis weit über die Alb reichte und mit dem sich ein frühmittelalterliches alemannischen Herzogtum verbinden ließ. Das hatte tatsächlich einen längeren Atem, denn nach der Eroberung Alemanniens durch die Franken und dem Ende des karolingischen Großreiches konstituierte sich am Anfang des 10. Jahrhunderts ein neues ‚schwäbisches Herzogtum‘. Freilich wurde es am Ende des 11. Jahrhunderts zwischen den Hochadelsgeschlechtern der Staufer, Welfen und Zähringer in Interessengebiete aufgeteilt. Als ‚Herzogtum Schwaben‘ hielt sich der Name nur bei den Staufern – doch sorgte dann die Vermischung Schwabens mit dem Reichsgut des Königsgeschlechts im 12./13. Jahrhundert dafür, dass es nach dem Ende der Staufer mit dem Tod des jungen Konradin in Neapel 1268 in Auflösung verfiel. Eine Wiederbelebung scheiterte – es gab kein ‚Schwaben‘ mehr als politische Größe.

In dieser Zeit war aber auch ‚Schwaben‘ nach Norden gewandert: Hatte das Herzogtum des 10. Jahrhunderts noch eindeutig seine ‚Vororte‘ am Bodensee mit dem Bischofssitz Konstanz als Zentrum gesehen, so streifte Zürich bereits im 14. Jahrhundert die Zugehörigkeit zu Schwaben ab. Die Abgrenzung gegenüber der Schweiz am Bodensee war um 1500 bereits erfolgt – die gegenseitige Beschimpfung als ‚Kuhschweizer‘ und ‚Sauschwaben‘ spricht Bände. Andererseits erhielt Hall im 15. Jahrhundert den Beinamen ‚schwäbisch‘, um sich als ehemals staufische Stadt gegen die Herrschaftsambitionen des Bischofs von Würzburg zu wehren. Auch politische Zusammenschlüsse wie der ‚Schwäbische Städtebund‘ seit 1376, die ‚Adelsgesellschaft mit St. Jörgenschild in Schwaben‘ seit 1406, der ‚Schwäbische Bund‘ von 1488 bis 1534 behielten den Beinamen ‚schwäbisch‘, um ihre räumliche Zuordnung sichtbar zu machen. Bis zum Ende des Alten Reiches prägte schließlich der weit ausgreifende ‚Schwäbische Reichskreis‘ zwischen Lech und Rhein, Bodensee, mittlerem Neckar und Ries die ‚Geschichtslandschaft‘ Schwaben. Nun beanspruchte Ulm gegen Konstanz und Stuttgart ‚des Schwabenlandes Herz und Haupt‘ zu sein, aber auch im frühen Württemberg sprach Eberhard im Bart gerne von ‚Württemberg und Schwaben‘, weil sich seine Dynastie zum dort verankerten Adel zählte. Um und nach 1500 gerieten die gelehrten Humanisten mit ihren Geschichtswerken um die Bestimmung des ‚alten‘ Schwaben miteinander in Streit: Während der Tübinger Universitätslehrer Johannes Nauclerus seine aktuelle patria, sein Vaterland Schwaben, in Abgrenzung von den Franken und Bayern sah und als topografische Grenzen die Alpen und den Rhein bestimmte, votierte Jakob Wimpfeling aus Strassburg für die Zugehörigkeit des Elsass zu einer ‚Germania‘; Beatus Rhenanus wiederum ließ eine ‚Alemannia‘ entstehen, die sowohl Schwaben als auch das Elsass umfasste (Dieter Mertens). Man sieht, in diesen Jahrhunderten war ‚Schwaben‘ alles andere als eindeutig bestimmbar – aber es lebte in den Köpfen.

Die staatliche Neubildung in der Ära Napoleons stellte dann neue Konstruktionen in den Vordergrund: So wie das erweiterte Württemberg ein antagonistisches Verhältnis von Oberschwaben und Innerschwaben mit sich brachte, deren verschiedene Traditionen ihre spezifische Wertung und emotionale Auffüllung hatten, so finden wir im neuen Bayern eine Spannung von Bayerisch-Schwaben zu Altbayern – und nun wird auch verständlich, warum der romantische Historismus König Ludwigs I. mit der Namensgebung der Regierungsbezirke die Anknüpfung an die schwäbische Tradition bewusst einsetzte: Es geschah „in der Absicht, … die alten, geschichtlich geheiligten Marken … möglichst wiederherzustellen, die Einteilung … und die Benennung der einzelnen Haupt-Landesteile auf die ehrwürdige Grundlage der Geschichte zurückzuführen“ (Wolfgang Zorn). Er beanspruchte auch seit 1835 den Titel eines ‚Herzogs in Schwaben‘, begnügte sich aber dann bei seinem Majestätswappen mit den rot-weiß-goldenen Sparren der ehemaligen vorderösterreichischen Markgrafschaft Burgau; erst 1923 übernahm der Freistaat Bayern den (halben) staufischen Löwen in Erinnerung an das mittelalterliche Herzogtum Schwaben.

Argumentierte man im neuen bayerischen Staat des 19. Jahrhunderts mit diesem historischen Konstrukt ‚Schwaben‘, so verband es sich in vielfältiger Weise wieder mit dem Ausgangspunkt: den Alemannen. Man besann sich auf ihren angeblichen Freiheitswillen; beispielsweise in der Form des Schwanks von den ‚Sieben Schwaben‘, der vom Spätmittelalter bis in die Romantik beliebt war und nun mit Ludwig Aurbacher seine humoristische literarische Form erhalten hat. Nicht selten leitete man daraus aber auch partikulare Interessen ab. Die jeweilige Dominanz der Staaten sollte damit kompensiert werden und mündete in die politische Denkfigur eines ‚Großschwaben‘, die das 20. Jahrhundert in verschiedenen Varianten erlebte: etwa als ‚Bundesstaat oder Reichsstaat Schwaben‘ vom Elsass und der deutschen Schweiz, Vorarlberg bis Württemberg und Bayerisch-Schwaben, wie er 1918 im Ulmer ‚Schwabenkapitel‘ angedacht wurde, oder in einer Instrumentalisierung gemeinschwäbischen Bewusstseins in der Krise der 20er-Jahre und in der regionalen NS-Politik Bayerisch-Schwabens, bis hin zu einer autonomen ‚Schwäbisch-alemannischen Demokratie‘ nach dem Zweiten Weltkrieg.

Doch das waren und blieben unrealistische Träume; realiter blieb die Illergrenze bestehen und wurde zunehmend zu einer Scheidelinie nicht nur zwischen den deutschen Staaten bzw. Ländern, sondern auch der Wahrnehmung und damit der Kulturen: Schwaben war aufgeteilt an Württemberg (ohne oder mit Baden) und Bayern – von der deutschen Schweiz spricht heute in dieser Hinsicht keiner mehr. Die Ausdehnung ‚Bayerisch-Schwabens‘ als Erbe napoleonischer Zeit hat sich bis heute erhalten, wenn auch mit Modifikationen: zunächst als ‚Oberdonaukreis‘ von 1817, seit 1837 unter Einschluss des Ries unter dem Namen ‚Schwaben und Neuburg‘, weil der Rückgriff auf das alte wittelsbachische Fürstentum Pfalz-Neuburg die Verbindung anbot, seit 1939 allerdings nur noch ‚Schwaben‘. Erst seit 1944 griff die Ostgrenze mit dem Landkreis Friedberg wieder über den Lech hinaus, und die Gebietesreform von 1972 erweiterte mit dem Landkreis Aichach sogar noch die oberbayerische Komponente als Hinterland der Regierungshauptstadt Augsburg, während gleichzeitig Neuburg an Oberbayern abgegeben wurde – die wirtschaftsrationale Gegenwartsorientierung der Verwaltung erhielt nun Oberhand.

Was war und ist also Schwaben, zumal in Bayern? Keineswegs ein vorgegebener Raum, sondern eine Abfolge von Konstrukten, von subjektiven Zugehörigkeiten, oder anders gesagt: von Vorstellungen davon, wie sich solche in Räumen abbilden lassen. Das heutige bayerische Schwaben ist ein Ausschnitt aus einer ehemals weiterreichenden historischen Landschaft, die sich mit dem Begriff ‚Schwaben‘ verband, genauer: sein östlicher Teil. Deshalb kann die folgende Darstellung auch nicht an den Grenzen des Regierungsbezirkes an der Iller Halt machen. Doch wenn man der Auffassung folgt, dass die jeweilige Kultur wesentlich eine Prägung durch die Geschichte ist und nicht durch eine angebliche Stammesmentalität, die einem in die Wiege gelegt wird, dann ist es auch zulässig, diesem ‚Ostschwaben‘ seine eigenen Wege zuzuschreiben. Und davon soll im Folgenden die Rede sein.


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