Читать книгу Marienbrücke - Rolf Schneider - Страница 12

10

Оглавление

Grotenweddingen lag vor dem Gebirge nordöstlich. Nach allen Eingemeindungen während anderthalb Jahrzehnten hatte es eine Gesamteinwohnerzahl von dreißigtausend und wucherte mit seinen Gebäuden in drei Täler hinein. Das Gebirge besaß aufgelassene Bergwerksschächte und Stollen. In den Bergwerken waren schon seit dem zehnten Jahrhundert Eisenerze gefördert worden. Reichsunmittelbare Aristokraten namens Botho, Albrecht und Ferdinand Ernst hatten sie verhütten lassen, bis der Betrieb nicht mehr rentabel war.

Schon im zweiten Jahr des durch Adolf Hitler begonnenen Weltkriegs wurde in ein paar dieser Schächte nahe Grotenweddingen auch der Förderbetrieb wieder aufgenommen. Ächzende Seilbahnen trugen das unverhüttete Erz über Biesenberg und Horstschanze bis zum Güterbahnhof, wo es krachend herabfiel in bereitgestellte Waggons. Die Seilbahn wurde durch eiserne Masten gestützt, in deren Gestängen zu klettern verboten war. Unter der Fahrstrecke drohte nach Auskünften der aufgestellten Warnschilder Steinschlag. Ungeachtet aller Warnungen und Verbote kletterten gerne Kinder in diese Masten hinein oder krochen, was gleichfalls untersagt war, in die verschütteten Einstiege von aufgelassenen Stollen.

Auch Jacob ging gerne dorthin, für eine Weile. Einmal kletterte er in einen der Masten hinein. Mit blanken Knien hing er in den höchsten Verstrebungen und legte prüfend die rechte Hand auf die Metallrollen, über die das Stahlseil mit den Förderkörben lief. Er wartete, bis einer von den Körben heran war, sammelte Nasenschleim in seinem Rachen und spie aus gespitzten Lippen auf die rötlich-grauen Erzbrocken, die der deutschen Kriegswirtschaft entgegenschaukelten. Er hatte danach immer noch genügend Feuchtigkeit im Munde und spie abermals, jetzt bloß aufs Gezweig einer Lärche, wo das hängen blieb, ein glitzernder Klumpen, den sich die Eichelhäher pflücken würden. Anschließend kletterte er wieder herunter.

Er stand vor einem Stolleneingang, der versperrt war mit zwei über Kreuz genagelten Brettern sowie einem Schild, das von drohendem Einsturz wusste. Jacob schob sich, wozu es wenig Mühe brauchte, unter den gekreuzten Brettern hindurch. Er fand sich wieder in einer Höhlung, die niedrig war und weiter ins Dunkel führte. Abgestützt war das seitlich mit Balken, auf denen als Abdeckung Bretter lagen, manche geborsten, womit sie Platz ließen für dürr und leichenblass herabhängende Wurzeln. Jacob kroch weiter. Er versuchte sich vorzustellen, wie früher Bergleute hier eingefahren waren, um Erz zu holen. Sie hatten sich ständig gebückt halten müssen oder waren kleinwüchsig gewesen, Zwerge, es gab Geschichten von Zwergen, die in der Gegend um Grotenweddingen spielten, wie auch Geschichten von Förstern, Riesen, Köhlern, Jägern, Hexen und Mönchen, alles gesammelt in dünnen hochformatigen Büchern mit Frakturbuchstaben.

Jacob las gerne darin. Er las die Geschichten zwei- und dreimal. Die ihm liebste erzählte vom Bergmönch. Der war ein ungeschlachter Kerl, Angehöriger des Zisterzienserklosters Biesenstein, das es längst nicht mehr gab, nicht einmal als Ruine und nicht wenigstens als Flurname, bloß als historische Erinnerung und als Schauplatz von Heimatsagen in dünnen großformatigen Büchern.

Der Mönch, stand zu lesen, hatte Schwierigkeiten mit dem Keuschheitsgelübde. Er war dem jungen Weib eines Handelskaufmanns aus Lüttgenweddingen hinterdrein. Die Frau wies ihn ab, voll flammender Empörung, die aber schwand mit der Zeit, bis sie ihn erhörte und ihm aufseufzend erlag. Heimlich traf sie sich mit ihm, in ihrem Haus, nächtens, wenn ihr Mann, der Händler, in Geschäften unterwegs war. Als Zeichen hatten die beiden vereinbart, dass er das Blöken eines Kalbes nachahmte, wenn er nahte, und sie, wenn sie ihn empfangen konnte, weil das Haus also leer war, ihm darauf antwortete mit dem imitierten Bellen eines Hundes. Eines Tages kehrte der Händler unvermutet früh zurück. Er fand sein Weib und den Mönch in unkeuscher Umarmung. Voller Zorn griff er sich eine Axt und erschlug den sündigen Gottesmann, sein Weib jagte er in den Wald. Den toten Kadaver trug er zu einem Bergwerksschacht und warf ihn in die Tiefe. Dort spukte seither der Mönch. Er irrte umher in Stollen und Sohlen, er schlug mit der Faust gegen Wände, dass Gestein und Erde abfiel und Glänzendes hervortrat, Katzensilber, Eisenerz und wirkliches Gold. Manchmal ließ er, nicht bloß in Nächten, sein Kalbsgeblök hören. Des Händlers Weib aber war zur Hexe geworden und suchte nach ihrem verschollenen Liebhaber, klägliches Hundegebell im Mund.

Jacob war weitergekrochen. Seine Augen gewöhnten sich an die Dämmerung. Er lauschte, ob irgendwo Kalbsgeblök war. Er gelangte zu einem aufgeschütteten Steinhaufen, wo noch zwei Zigarettenstummel lagen, eine verbeulte Büchsenmilchdose und ein schwarzbraun vertrockneter Haufen Exkrement, vom Mensch oder vom Tier. Statt Kalbsblöken hörte er ein Knirschen. Vielleicht reckte der Bergmönch soeben aufseufzend seine Glieder, vielleicht gab das morsche Stollenholz nach und würde demnächst einstürzen, wie schon das Verbotsschild vorm Eingang warnend sagte. Jacob kroch aus dem Stollendunkel zurück ans Licht.

Innerhalb bloß weniger Wochen schwoll die Schülerzahl am Fürst-Albrecht-Gymnasium in Grotenweddingen um mehr als ein Drittel, denn aus Großstädten wurden Kinder und Halbwüchsige verschickt, um sie vor feindlichen Luftangriffen zu bewahren. Schleunigst musste das Gymnasium für jeden Schülerjahrgang neue Klassen einrichten, und es ließ sich nicht umgehen, dass der Unterricht in Schichten ablief, mal früh zwischen sieben und zwölf, mal ab Mittag. Auch die Lehrer wechselten. Ältere Herren, alle schon pensioniert, wurden in den Schuldienst zurückgerufen, während Studienräte in den besten Jahren die steingraue Uniform überzogen und an den Fronten unschulischen Dienst taten.

Von Suderweg und Fürst-Albrecht-Straße führte zum Schulgebäude je ein schmaler Durchgang. An jenem zur Fürst-Albrecht-Straße lagen, von außen und innen erreichbar, die Schülertoiletten, mit scharfem Geruch nach Teer und vergammeltem Urin. Der Durchgang endete auf dem Hof und an einer Linde, vor deren Stamm ein Findling stand, grau und moosbewachsen und nach vorn hin mit einer Metallplakette, die das fürstlich-grotenweddingische Wappen trug. Das war auch an der Fassade des Rathauses verschiedentlich angebracht und zeigte einen schwarzen Hirsch in gelbem Feld.

Der Findling auf dem Schulhof des Fürst-Albrecht-Gymnasiums gab den Hintergrund her für die Zusammenkunft, bei der die Oberprimaner nach bestandener Abitur-Prüfung ihren zeremoniellen Abschied erhielten. Sie trugen dann am Revers ihrer Jacken einen Lorbeerzweig, von dem ein Stoffbändchen mit den fürstlichen Farben schwarz und gelb herabhing. Schüler der unteren Klassen standen in ehrfurchtsvollem Halbkreis. Der Direktor hielt seine Rede auf Latein, bei der er pathetisch die ohnehin fistelige Stimme anhob. Er war ein großgewachsener Mensch, mit dünnen weißen Haaren, er war Vollhumanist, aber Griechisch und Hebräisch wurden im Fürst-Albrecht-Gymnasium schon lange nicht mehr unterrichtet, zu seinem Kummer. Er trug meistens speckig glänzende Anzüge. Bei seinen Schülern hatte er den Spitznamen Jupiter tonans. Unter seinem Dirigat sangen zum Abschluss der Feier alle Versammelten gemeinsam das alte Studentenlied Gaudeamus igitur.

Neben Linde und Wappenstein führten steinerne Stufen hinan zum höher gelegenen Platz vor der evangelischen Martinskirche. Auf der anderen Seite des Treppchens stand efeuumwachsen das Gebäude, das der Pedell bewohnte und das zudem ausgestattet war mit einem freilich seit Längerem nicht mehr benutzten Karzer. Der Pedell war ein kahlköpfiger Mann mit einem riesigen Buckel. Sein Spitzname lautete Marabu. Er ging langsam und gravitätisch, silberne Taschenuhr in der Hand, von seinem Hause aus quer über den Schulhof bis zum Hintereingang des Gymnasiums, um dort die Glocke zu läuten. Damit begann die neue Unterrichtsstunde. An der Mauer des Hauses, wo Marabu, der Pedell, wohnte, hing in rostigen Halterungen eine hölzerne Feuerleiter.

Als Sextaner des Fürst-Albrecht-Gymnasiums saß Jacob in der Mittelreihe, zweite Bank, und war damit Banknachbar von Hans Dietrich Lehmann. Der wurde Ytsche gerufen, und Ytsche war für Kröte das ostfälische Wort. Ytsche Lehmann hatte braunes Haar, das sich kräuselte, und neigte zur Fettleibigkeit. Feistes weißes Fleisch wuchs aus Ytsche Lehmanns ledernen Hosenbeinen, und in die geöffneten Krägen von Ytsche Lehmanns rotkarierten Hemden hing schwammig Ytsche Lehmanns Doppelkinn.

Seinen Eltern gehörte die Firma Witold & Söhne, in der Langen Gasse, die gleich hinter dem Rathaus anfing und durchs älteste Grotenweddingen lief. Hier waren sämtliche Straßen eng, gekrümmt und dämmerig. Witold & Söhne verkauften aus Holz gefertigte Gegenstände, nämlich Möbel für Wohn- und Schlafzimmer, und außerdem Särge. Witold & Söhne, Inh. Dietrich Lehmann, führten jede dieser zwei grundverschiedenen Warenarten in jeweils einem eigenen Laden. Beide Geschäfte lagen nebeneinander auf der Langen Gasse und waren vom Hausinneren her über einen gemeinsamen Korridor zu erreichen.

Jacob ging manchmal zu den Lehmanns ins Haus. Er büffelte mit Ytsche Latein und Mathematik, worin Ytsche schwach war. Jacob sah sich das Haus und den Wirtschaftshof von Witold & Söhne an.

Möbel bezogen Witold & Söhne, sagte Ytsche, von entsprechenden Fabriken aus dem Hannoverschen. Särge wurden in eigener Tischlerei hergestellt, sah Jacob, auf Vorrat oder auch auf Bestellung. Die Werkstatt befand sich hinter dem Laden-, Büro- und Wohntrakt der Lehmanns in einem Wirtschaftshof, wo es außer einer Remise für Fahrzeuge noch einen Hühnerstall gab. Die Federtiere wurden tagsüber auf den Hof geschickt, scharrten nach Kerfen und rannten immer wieder durch die geöffnete Tür in die Werkstatt. Sie waren dort raschelnd zugange, sprangen auf die Ränder halbfertiger Sarghälften und setzten ihren Kot zwischen Hobelspäne. Unter denen, wusste Ytsche und zeigte es Jacob, wenn gerade niemand in der Nähe war, versteckte Männe Festerling seine Schnapsflaschen. Marianne Lehmann, Ytsches Mutter, war argwöhnisch Männe Festerlings lästerlichen Trinkgewohnheiten hinterdrein, sie sah auf Ordnung und hatte wohl recht damit.

Dabei roch man es Männe Festerling nicht an, dass er trank. An Männe Festerling hing ausschließlich der Geruch von Knochenleim, der in der Tischlerei als Inhalt eines großen schwarzen Eisenkübels auf dem Feuer stand, süßlich vor sich hinbrodelte und zähe honigfarbene Fäden zog. Außerdem tat Männe Festerling den Mund kaum auf. Er war gänzlich sprachbehindert. Er war dies nicht, weil er etwa taub gewesen wäre, er konnte hören und hörte ganz gut. Männe Festerling war von einer Lähmung betroffen, und die hatte außer seiner Sprechfähigkeit noch ein Augenlid, das rechte, das infolgedessen ständig herunterhing, und seinen rechten Mundwinkel heimgesucht. Der Mund stand ihm immer offen nach rechts hin und hing wie das Lid herab. Krumme Zähne mit bräunlichen Flecken wurden sichtbar hinter hellgrauen Lippen. Weißer Sabber rann Männe Festerling aus dem rechten Mundwinkel bis in die silbrigen Bartstoppeln, denn Männe Festerling rasierte sich nicht oft.

Männe Festerling, erfuhr Jacob, war im Alter von fünf Jahren von einem Hengst getreten worden, auf der Domäne Behncke, und liegen geblieben mit einer Öffnung im Schädel, wo sich blutig weiß etwas Hirn erkennen ließ. Der Schädel heilte wieder zu, aber seither humpelte Männe Festerling, hielt sich schief, und dazu, wie seine Eltern in der Landwirtschaft zu arbeiten, taugte er nun nicht mehr. Von allen seinen rechten Gliedmaßen waren Arm und Hand noch am besten zu gebrauchen, also lernte er in Behncke bei Dietrich Lehmann das Schreinern. Dietrich Lehmann nahm Männe Festerling mit nach Grotenweddingen in die Lange Gasse, als er Marianne Witold heiratete, oder vielmehr heiratete Marianne Witold Dietrich Lehmann, denn ihr Vater war ganz plötzlich am Schlaganfall gestorben, und die Sargtischlerei brauchte einen neuen Meister.

Das Möbelgeschäft wurde erst viel später eröffnet, weil irgendwann Marianne Lehmann der dauernde Umgang bloß mit Toten und Hinterbliebenen zu genierlich war. Da passte es gut, dass Möbelhändler Isidor Goldmann sein Geschäft aufgeben wollte, um aus Grotenweddingen überzusiedeln nach England. Er war schon mit einer kleinen finanziellen Abfindung zufrieden.

Marianne Lehmann, sah Jacob, war bei Witold & Söhne die unumstrittene Herrscherin. Alle mussten sich vor ihr ducken, sogar Dietrich Lehmann, der Meister, und natürlich Ytsche, der bloß das Kind war, und Männe Festerling sowieso.

Männe, trink dich nich!, rief Marianne Lehmann oder: Hasse wieder jetrunken, Männe!

Marianne Lehmann hatte eine scharfe Stimme, die sie aber auch zurücknehmen und weinerlich machen konnte, wenn Hinterbliebene auftraten, traurig waren und einen Sarg bestellten. Marianne Lehmann hatte böse schwarze Augen und trug an kurzen Knochen viel strammes Fleisch. Auf lauten hohen Hacken ging sie durch die raschelnden Hobelspäne der Tischlerwerkstatt, dass die Hühner aufstoben, und redete herrisch mit Männe Festerling.

Ick wer dich noch ma rausschmaaßn, Mann!

So was brachte Männe Festerling, konnte man seinem halbgelähmten Gesicht trauen, einen tödlichen Schrecken bei. Er senkte demütig den Kopf, dass ihm der Sabber statt in die Bartstoppeln auf den Werkstattboden lief, zwischen die Hobelspäne.

Außer dem Meister, der medizinisch beurkundet ein schwaches Herz hatte und tatsächlich manchmal blaurot anlief, war Männe Festerling der Einzige, der seit Vorkriegszeiten in der Sargwerkstatt von Witold & Söhne Arbeit tat. Drei Gesellen hatten Soldat werden müssen und dienten an verschiedenen Fronten. Einer war schon vermisst. In der Tischlerei arbeiteten zwei Leute, die Marianne Lehmann Pollacken nannte, obschon einer von ihnen aus Dänemark kam. Wenn Dietrich Lehmann den Zylinder aufsetzte und anschließend den schwarzen Transportwagen mit silbrigem Girlandenmuster aus der Remise holte, um dabei zu sein, wenn seine zwei Pollacken eine frische Leiche einsargten, war Männe Festerling der Einzige auf dem Hof, dem man etwas sagen konnte. Das, wenn er darüber nachgedacht hätte, musste Männe Festerling das Selbstbewusstsein kräftigen, aber hatte er darüber nachgedacht?

Dem Wirtschaftshof von Witold & Söhne schloss sich das Untersuchungsgefängnis an. Dessen Wand zum Hof hin hatte im ersten Stock mehrere Fenster, die sich im Sommer öffnen ließen. Hinter den Gittern waren Frauengesichter, denn der Trakt neben dem Hof von Witold & Söhne war ein reiner Frauentrakt. Er erregte Jacobs Neugierde. Während zweier Wochen im Juni wurde hinter einem der geöffneten Fenster ein weiblicher Untersuchungshäftling sichtbar, der flirrende schwarze Haare hatte, sehr weiße Zähne und einen großen goldenen Ohrring.

Eines Dienstagnachmittags gegen zwei humpelte Männe Festerling über den Hof. Ytsche Lehmann und Jacob saßen an einem Tisch in Ytsche Lehmanns Zimmer. Das Fenster war geöffnet und ging auf den Wirtschaftshof. Jacob konnte sehen, wie Männe Festerling eben mal eine sperrige Kiste mit Sargbeschlägen absetzte und seufzend die Arme lockerte.

Da war ein Pfiff. Jacob beugte sich vor. Die schwarzhaarige Person hinter dem Fenster im Untersuchungsgefängnis hatte die Lippen gespitzt und pfiff eine Terz. Do, mi, do. Auch Männe Festerling hörte hin. Er blickte hoch und erkannte im Fenster Umriss, Zähne und Ohrring. Die Person blies Zigarettenrauch durchs Gitter. Anschließend rief sie was Obszönes, das Jacob nicht verstand, aber Männe Festerling verstand es offenbar genau. Männe Festerling lallte ungläubig. Sabber fiel ihm aus dem Mundwinkel als langer weißer Faden. Die Person lachte und rief nochmals was Obszönes. Jacob hielt den Atem an. Männe Festerling bückte sich und nahm die Kiste auf, um sie ächzend in die Werkstatt zu schleppen.

Dietrich Lehmann hatte sich eben den Zylinder aufgesetzt und war mit dem Wagen und einem Sarg, Eiche dunkel, zum städtischen Krankenhaus gefahren. Die beiden Pollacken hatte er wie üblich mitgenommen. Die Lehmanns beschäftigten eine Wirtschafterin, von allen bloß Fräulein gerufen, also ohne Namenszusatz, eine weißhaarige Frau, die das Essen kochte, die Böden säuberte und das Geflügel versorgte. Diesen Nachmittag, hörte Jacob von Ytsche, lag Fräulein wegen Fieber und schwerer Erkältung im Bett. Jacob zeichnete für Ytsche mit Zirkel und Lineal ein rechtwinkeliges Dreieck nach vorgegebenen Seitenlängen.

Als er den Kopf hob, erkannte er durchs offene Fenster, wie Ytsches Mutter Marianne Lehmann hochhackig aus dem Büro heraustrat auf den Wirtschaftshof. Sie hielt eine weiße Emailschüssel im Arm, nahm daraus und warf Gerstenkörner unter die Hühner. Dann tat sie, leere Schüssel in der Hand, noch einen prüfenden Blick in die Werkstatt, wo Männe Festerling allein war.

Sie fand, was sie vermutlich erwartet hatte, und auch Jacob sah es jetzt, von seinem Platz hinter Ytsches Tisch und Fenster. Männe Festerling hatte eine Schnapsflasche an seinem schiefen Mund. Jacob hörte Marianne Lehmann schreien, dass Männe Festerling ein Lüdrian sei und sie ihn endgültig hinausschmeißen werde. Das hatte sie schon oft gerufen. Es war angesichts der allgemeinen Beschäftigungslage nicht ernst zu nehmen. Männe Festerling hätte seine Schnapsflasche einfach absetzen und zwischen die Hobelspäne in die Werkstattecke stellen sollen, wie sonst auch.

Männe Festerling tat das aber nicht. Jacob sah, wie Männe Festerling immer bloß weiter trank. Jacob hörte Marianne Lehmann rufen, dass Männe Festerling nichts wie eine Krücke wäre. Hässlich und schief. Das Saufen würde ihn noch hässlicher machen. Aus purem Mitleid würde Männe Festerling geduldet bei Witold & Söhne. Das sollte aber jetzt ein Ende haben.

Mit greller, in der Tonlage höher sich schraubender Stimme schrie Marianne Lehmann, und Jacob sah, wie dazu hohe Hacken das Pflaster des Wirtschaftshofes traten. Die Schüssel hielt Marianne Lehmann weiter in der Hand. Unter den Achseln der hellgrün schillernden Kunstseidenbluse, sah Jacob, standen schwarze Schweißflecke.

Männe Festerling sah es vielleicht auch. Männe Festerling setzte die inzwischen leergetrunkene Schnapsflasche ab. Er öffnete die Finger, dass die Flasche freikam und zwischen die Hobelspäne fiel. Sein Gesicht senkte er auch jetzt noch kein bisschen. Aus schiefem Mund würgte er Laute heraus, die am ehesten als Marianne zu verstehen waren, Vorname von Frau Lehmann.

Da war nun immer noch die Person mit schwarzem Haar, weißen Zähnen und goldnem Ohrring hinterm offenen Fenster des Frauentrakts. Ihre Zigarette hatte sie ausgeraucht. Mit höchstem Interesse schien sie zu beobachten, was unten im Wirtschaftshof geschah. Die Person gab ihr Missfallen an Marianne Lehmanns Handlungsweise, sie gab ihr Mitgefühl mit Männe Festerlings allgemeinem Schicksal in rohen Worten kund.

Männe Festerling sprang plötzlich Marianne Lehmann an. Er tat dies in der Art, wie große Wachhunde tun, und hatte tatsächlich in seinem Munde ein hündisches Geräusch. Jacob legte den Zirkel beiseite. Auch Ytsche Lehmann beugte sich vor. Die Frauensperson hinterm geöffneten Fenster des Untersuchungsgefängnisses klatschte in die Hände und schrie Beifall.

Marianne Lehmann hatte mit alledem nicht gerechnet. Sie ließ die leere Futterschüssel fallen und bewegte sich sonst nicht. Männe Festerling umschlang mit seinem rechten Arm Marianne Lehmanns Nacken und riss mit der linken Hand, die seine kräftige war, die Kunstseidenbluse herunter, dass der Stoff schrie. Unter der Bluse trug Marianne Lehmann weiße Unterwäsche.

Noch immer stand sie bewegungslos. Vielleicht war sie tief beeindruckt von Männe Festerlings Aufsässigkeit. Vielleicht genoss sie sogar, wie er stark war, ihre Bluse zerriss und als nächstes ihre weiße Unterwäsche zerreißen würde. Was Männe Festerling wollte, war wohl offensichtlich, jedenfalls für Marianne Lehmann, und vielleicht hätte sie, verheiratet mit einem Mann, der bei Herzanfällen immer blaurot anlief, es sogar geduldet, wenn nicht heller Nachmittag gewesen wäre, wenn nicht Ytsche, ihr Sohn, und dessen Schulkamerad Jacob hinterm offenen Fenster gesessen hätten und zugesehen, wenn nicht die ordinäre Frauensperson aus dem Untersuchungsgefängnis die Geschehnisse verfolgt hätte, wobei sie auch immer noch Männe Festerling anfeuerte mit lauten Worten.

Marianne Lehmann stemmte sich gegen Männe Festerlings rechten Arm. Sie lief dunkelrot an im Gesicht vor vieler Anstrengung. Sie benutzte den schließlich entstehenden Abstand, dass sie Männe Festerling mit dem hochhackigen Schuh in die Leiste trat. Männe Festerling grunzte schmerzlich, ließ die Arme sinken und torkelte zurück in die Werkstatt. Marianne Lehmann, Fetzen ihrer Bluse in der Hand, rannte ins Haus. Die leere Futterschüssel blieb auf dem Hofpflaster. Die Weibsperson im Frauengefängnis schickte Marianne Lehmann außer Gelächter noch Schmähungen hinterdrein.

Als Nächstes verschloss Männe Festerling das Werkstatttor. Jacob konnte hören, wie Marianne Lehmann im Nebenzimmer das Telefon betätigte, um nach der Polizei zu rufen. Eher als ein Gendarm erschien Dietrich Lehmann mit Zylinder, schwarzem Lieferwagen und zwei Pollacken. Marianne Lehmann hatte sich eine andere Bluse übergezogen und ging wieder hinaus auf den Hof. Jacob konnte sehen, wie Marianne Lehmann offenbar Bericht gab, wozu sie weinerlich ihre Schultern zucken ließ. An eine Vollendung des rechtwinkeligen Dreiecks war nicht mehr zu denken. Auch Ytsche Lehmann zeigte sich an den Ereignissen auf dem Hof deutlich interessiert.

Jacob sah, wie Dietrich Lehmann erst mal den Zylinder absetzte und sich mit dem Handrücken über die Stirnglatze strich. Dietrich Lehmann schüttelte ungläubig den Kopf. Er ging zwischen den pickenden Hühnern schräg über den Hof bis zum Werkstatttor. Er versuchte es zu öffnen, was ihm aber nicht gelang. Das Tor war von innen verriegelt. Anzunehmen, dass Männe Festerling es zusätzlich blockiert hatte, mit Holzböcken oder Fichtenbrettern.

Männe, mach dich auf! rief Herr Lehmann, zweimal, und als nichts erfolgte, rief er: Nu mach dich man! Auch das bewirkte nichts. Herr Lehmann musste schließlich seine zwei Pollacken zu Hilfe rufen, und selbst die hatten um die zehn Minuten zu tun.

Längst hatte es auch Jacob und Ytsche Lehmann nicht mehr gehalten an ihrem Tisch in Ytsche Lehmanns Zimmer. Bloß erst zur Hälfte vollendet blieb das rechtwinkelige Dreieck auf rosigem Millimeterpapier. Spätestens als die zwei Pollacken eine Brechstange heranschafften, unter Dietrich Lehmanns sachkundiger Anleitung, liefen Jacob und Ytsche Lehmann quer über den Wirtschaftshof, dass die Hühner auseinanderstoben. Weder Dietrich Lehmann noch Marianne Lehmann noch die beiden Pollacken achteten auf die zwei Jungen. Die Pollacken waren vollauf damit beschäftigt, ihre Brechstange anzusetzen, um sich dann sofort mit ihrem Körpergewicht dagegen zu werfen, unter Dietrich Lehmanns Kommando.

Die Tür brach auf. Holz splitterte, Metall sprang auf Stein. Fichtenbretter, von innen gegen die Klinke geklemmt, fielen krachend heraus, auf das Pflaster und zwischen die Hühner. Dietrich Lehmann, Marianne Lehmann und die beiden Pollacken traten in die Werkstatt. Ytsche Lehmann und Jacob waren ihnen hinterdrein.

Jacob konnte nur einen Blick tun, dann wurde ihm gleich übel. Er musste sich umdrehen und die Werkstatt verlassen. Ytsche Lehmann hielt bedeutend länger aus. Was er sehen konnte, kaum verdeckt durch die Beine seiner Eltern und die der beiden Pollacken, war aber dies:

Männe Festerling lag im Unterteil eines Sargs aus ungebeizter Fichte. Neben seiner rechten Hüfte lag die leere Schnapsflasche. Mit einem Rasiermesser hatte er sich die Gurgel durchgeschnitten. Es musste als sonderbar gelten, dass Männe Festerling ein Rasiermesser bei sich führte, da er so selten seine Bartstoppeln abnahm.

Die Hand mit dem Messer lag ihm mitten auf der Brust. Der Kopf mit der halb durchgeschnittenen Gurgel war etwas zur Seite gerollt. Das Blut stand als dicke Pfütze auf dem Sargboden. Sie würde sich später entfernen und der verbliebene Fleck mit dunkelbrauner Beize zudecken lassen.

Nach einer Weile stellte sich eine weiße Leghornhenne auf den Rand des Sargunterteils und blickte aus schräggestelltem Hühnerkopf ungläubig herab auf Männe Festerlings Hand mit dem blutbeschmierten Rasiermesser. Da wurde es dann auch Ytsche Lehmann übel, so wie vorher Jacob, der inzwischen längst draußen in der Sonne stand und nach Atem japste.

Die Tischlerwerkstatt von Witold & Söhne würde in der Folgezeit bloß noch mit den zwei Pollacken auskommen müssen, und das war bei diesem gesamten Vorfall vielleicht das Allerärgste.

Marienbrücke

Подняться наверх